Will Renate Ohr zurück in die Steinzeit?

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Zufällig habe ich folgenden Aufruf von Renate Ohr, Professorin in Göttingen, erhalten. Sie freut sich bestimmt über Unterstützer an renate.ohr@wiwi.uni-goettingen.de ... und nicht so sehr über andere Rückmeldungen, nehme ich an. Und genauso Herr Vaubel, vaubel@rumms.uni-mannheim.de. Ich veröffentliche es hier ohne weiteren Kommentar.

"Mit Sorge verfolgen wir, xxx Professoren der Volkswirtschaftslehre, die zunehmenden Bestrebungen, die Lehre von der Wirtschaftspolitik an den Universitäten zurückzudrängen. Professuren für Wirtschaftspolitik sollen zweckentfremdet oder umgewidmet werden, und betriebswirtschaftliche Bachelor-Studiengänge sehen wirtschaftspolitische Lehrveranstaltungen nicht mehr vor.

Die Lehre von der Wirtschaftspolitik behandelt normativ und positiv bedeutsame Fragestellungen: Woran sollten sich die wirtschaftspolitischen Ziele (z.B. in Hinblick auf Staatsanteil, öffentliche Finanzen, Verteilung, Stabilität u.ä.) orientieren? Welche wirtschaftspolitischen Institutionen und welche wirtschafts¬politischen Instrumente sind geeignet, bestimmte wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen? Wie kann polit-ökonomisch erklärt werden, weshalb wirtschaftspolitische Institutionen versagen können? Wodurch können Veränderungen in den wirtschaftspolitischen Zielen und in der Effizienz wirtschaftspolitischer Instrumente erklärt werden? Die systematische Analyse solcher wirtschaftspolitischer Fragestellungen ist ohne normative Grundlagen nicht möglich.

In der volkswirtschaftlichen Theorie herrscht die Tendenz vor, aus jeweils gewählten Annahmen logische Schlussfolgerungen abzuleiten. Das jeweilige Ergebnis ist bereits vollständig in den Annahmen enthalten. Diese Methodik garantiert formale Rigorosität, ist aber für die Analyse realweltlicher Wirtschaftspolitik oft wenig geeignet. Eine gute wissenschaftliche Analyse der Wirtschaftspolitik fußt immer auf solider Wirtschaftstheorie. Aber sie geht darüber hinaus, indem sie untersucht, inwieweit die theoretisch abgeleiteten Schlussfolgerungen in der Realität anwendbar und umsetzbar sind. Dazu ist u.a. eine Kenntnis der realen Institutionen und ihrer (Anreiz)Wirkungen notwendig. Nur hiermit können letztlich wissenschaftlich fundierte Empfehlungen an die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger abgeleitet werden.

Zu einem Versagen in der realen Wirtschaftspolitik kommt es in der Regel nicht deshalb, weil den Entscheidungsträgern logische Fehler unterlaufen, sondern weil sie die Wirkungen ihrer Instrumente falsch eingeschätzt haben oder weil von den wirtschaftspolitischen Institutionen falsche Anreize ausgehen oder weil Verhaltensweisen bei den Wirtschaftssubjekten vorherrschen, die mit der reinen Theorie nicht übereinstimmen. Über diese Zusammenhänge zu informieren, ist Aufgabe der Lehre von der Wirtschaftspolitik. Kunstfertigkeit in der Ableitung logischer Schlussforderungen ist manchmal nur von begrenztem Nutzen, wenn es darum geht, Realität zu verstehen und zu beurteilen.

Auch in anderen Ländern opfern immer mehr Ökonomen die Realitätsnähe ihrer Analysen dem Ziel formal-logischer Stringenz, und auch dort wird diese Tendenz in der Öffentlichkeit lebhaft beklagt. Die USA sind keine Ausnahme. Die Ökonomen ziehen sich aus der Wirklichkeit zurück, weil die Karriereanreize in ihrem Fach verzerrt sind. Die vorherrschende Ausrichtung der universitären Forschung und Lehre bietet kaum einen Anreiz für Nachwuchswissenschaftler, sich mit wirtschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen. Denn die Ergebnisse der wirtschaftspolitischen Analyse sind häufig kontrovers und - da sie empirischer Natur sind - nie mit letzter Gewissheit beweisbar. Für die Zurschaustellung logischer Virtuosität bleibt wenig Raum.

Da somit die Anreize nicht stimmen, vernachlässigt das Fach Volkswirtschaftslehre zunehmend den Beitrag, den es zur Lösung praktischer wirtschaftspolitischer Probleme leisten könnte - und sollte! Aber die Wissenschaft hat eine gesellschaftliche Verantwortung. Sie ist gehalten, anwendbare Ergebnisse zu produzieren. Professuren für Wirtschaftspolitik müssen daher unabdingbarer Bestandteil der wirtschafts¬wissenschaftlichen Forschung und Lehre bleiben."

(Quelle: Aufruf von Renate Ohr)

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