Wirtschaft von oben #36 – Stuttgart 21 Der Bahnhof, der viel später kommt

28.12.2019: Stuttgart 21 wird vier Jahre später eröffnen als geplant und deutlich teurer. Satellitenbilder zeigen, welche Baustellen nach fast zehn Jahren fertig und welche noch immer unvollendet sind. Quelle: LiveEO/UP42

Stuttgart 21 werde ein Bahnhof der Superlative, sagten die einen. S21 werde ein Milliardengrab, sagten die anderen. Fakt ist: Das umstrittenste deutsche Infrastrukturprojekt wird vier Jahre später eröffnen als geplant und deutlich teurer. Satellitenbilder zeigen, welche Baustellen nach fast zehn Jahren fertig und welche noch immer unvollendet sind. „Wirtschaft von oben“ ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Es hätte einen Zeitpunkt gegeben, an dem die Deutsche Bahn hätte zurückrudern können. Damals vor gut zehn Jahren, an einem Dezembertag im Jahr 2009. Der damalige Bahnchef Rüdiger Grube war wenige Monate zuvor zum Nachfolger von Hartmut Mehdorn gekürt worden und ließ als erste Amtshandlung noch einmal durchrechnen, ob die geplanten 4,1 Milliarden Euro für den Bahnhofsbau im Herzen der Stuttgarter City denn wirklich zu halten seien. Nach den ihm präsentierten Zahlen lägen „alle heute bekannten Fakten auf dem Tisch“, ließ der Bahnchef damals in Stuttgarts Neuem Schloss verkünden. Der Bahnhof werde zwar rund eine Milliarde Euro teurer als 2004 geplant. Doch das vorgesehene Budget von 4,5 Milliarden Euro (inklusive Risikopuffer von 400 Millionen Euro) würde ausreichen. Im Dezember 2010 gab Grube den vorläufigen Startschuss für den Bau. Exklusive Satellitenbilder von LiveEO zeigen, wie sich der Bahnhof seither verändert hat.

Heute weiß man, dass das Geld nicht annähernd reicht und der Bahnhof viel später eröffnen wird. Stuttgart 21 ist bis heute das umstrittenste Verkehrsinfrastrukturprojekt Deutschlands – noch vor dem Berliner Flughafen BER, der zwar immer noch nicht fertig gestellt ist, aber dessen Sinn niemand jemals in Zweifel zog. S21 dagegen wurde von Anfang an von Verkehrsexperten als unnützer Prestigebau kritisiert – nicht nur wegen der Kosten. Die Bahnsteige seien zu eng, die Übergänge zu lang und die Zugwartezeiten für den Taktverkehr zu kurz. Um Nah- und Fernverkehr perfekt miteinander zu verzahnen, sei es nicht notwendig, die oberirdischen Gleise unter die Erde zu verlegen. Bis zu zwei Milliarden Euro hätten ausgereicht, um den bestehenden Kopfbahnhof zu modernisieren.

Wochenlang gingen Gegner des Projekts 2010 auf die Straße. Es gab Hunderte Verletzte. Anschließend einigten sich Bahn, Politik und Demonstranten auf ein Schlichtungsverfahren unter der Moderation des inzwischen verstorbenen CDU-Politikers Heiner Geißler. Von November 2010 bis Juli 2011 wurden neun Sitzungen und 9000 Redebeiträge live im öffentlichen Fernsehen übertragen. Die Schlichtung ging als „demokratisches Experiment“ in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Im November 2011 stimmte die Mehrheit der Baden-Württemberger in einer Volksabstimmung für den Bau des Tiefbahnhofs.


Seitdem ist klar: S21 wird kommen. Die Eröffnung erfolgt nun aber rund vier Jahre später als geplant. Außerdem wird S21 mit 8,2 Milliarden Euro deutlich teurer. Immerhin sind inzwischen rund 85 Prozent der Gewerke wie Brücken, Tunnel und Gleisbau sowie Bahnhofselemente ausgeschrieben und vergeben. Baukostensteigerungen werden nicht ausgeschlossen, aber böse Überraschungen erwartet die Bahn nicht mehr. Allerdings steht die Abschlussrechnung noch aus.

Kritiker werden mit dem Bahnhofsprojekt wohl dauerhaft fremdeln. Dabei war S21 nie nur ein Verkehrsprojekt, sondern auch ein Stadtprojekt, das oberirdisch Platz schafft für zig Tausende Wohnungen, Büros und viele Hektar Grünanlagen. Das Europaviertel wird daher als „eine der bedeutendsten Innenstadtentwicklungen Deutschlands“ gefeiert. Allein in den neu geschaffenen Stadtquartier Rosenstein werden 30.000 Menschen leben und arbeiten.

Für die Deutsche Bahn selbst hat sich das Projekt zu einer schweren Bürde entwickelt. Ursprünglich erhoffte sich der Konzern, die investierten Eigenmittel mit 7,5 Prozent verzinst zu bekommen – wie bei Großprojekten üblich. Die Bahn investierte Milliarden und wollte über Rückflüsse wie Grundstücksverkäufe, Mieteinnahmen und Trasseneinnahmen profitieren. Bereits 2012 konstatierte ein Bahn-Vorstand nach abermals gestiegenen Baukosten frustriert: „Die Wirtschaftlichkeit geht massiv in die Knie.“ Zu diesem Zeitpunkt war noch von einem Gesamtbudget von 5,6 Milliarden Euro die Rede. Aus heutiger Sicht ist klar: Für die Bahn ist S21 ein fettes Minusgeschäft.


Daher verwundert es kaum, dass sich Bahnmanager, die früher mal glühende Verfechter des schwäbischen Bahnhofsbaus gewesen sind, zunehmend distanzieren. Ex-Bahnchef Grube, der vor drei Jahren den Konzern im Streit verließ, sagte bereits 2016, dass er S21 „nicht erfunden“ habe und „es auch nicht gemacht“ hätte. Nachfolger Richard Lutz, bei wichtigen Entscheidungen zu S21 bereits als Finanzmanager in Verantwortung, distanziert sich ebenfalls vom Bahnhofsprojekt: zu komplex, zu teuer. „Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen“, sagte Lutz 2018.

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Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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