Wirtschaft von oben #38 – Aralsee Wie der Aralsee zur menschengemachten Katastrophe wurde

Einst war der Aralsee der viertgrößte See der Erde. Exklusive Satellitenbilder zeigen, wie der Mensch ihn zu über 80 Prozent austrocknete. Quelle: LiveEO/USGS

Einst war der Aralsee der viertgrößte See der Erde. Exklusive Satellitenbilder zeigen, wie der Mensch ihn zu über 80 Prozent austrocknete. Das ist katastrophal für Umwelt und Wirtschaft. Denn das verdunstende Wasser setzt giftige Chemikalien frei und gefährdet die Bevölkerung. „Wirtschaft von oben“ ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Wer im Ort Muynak in Usbekistan nach dem Aralsee Ausschau hält, wird enttäuscht. Weit und breit ist von ihm nichts zu sehen, stattdessen nur gelber Wüstensand, weiße Salzflecken, sengende Hitze – so stark, dass man sie nur wenige Minuten aushält.

Was bei dieser Trockenheit unvorstellbar scheint: Einst war Muynak eine Halbinsel mitten im Aralsee. Vom südlichen Ufer der ehemaligen Sowjetrepublik Usbekistan ragte sie noch in den Sechzigerjahren in den See hinein. Der Ort lebte von der Fischerei, Urlauber verbrachten dort den Sommer, genossen das frische Klima, die Nähe zum Wasser machte die heißesten Wochen im Jahr erträglich. Ein Urlaubsparadies, eine Oase in der Wüste.

Heute erinnert daran nur noch ein Denkmal in Form eins steinernen Segels. Denn der Aralsee ist mittlerweile soweit ausgetrocknet, dass Muynak mitten in der Wüste liegt, über 100 Kilometer vom See entfernt, wie exklusive Satellitenbilder von LiveEO zeigen.


In den Sechzigern war der See noch der viertgrößte der Welt. Heute ist nur noch ein Bruchteil von ihm übrig, über 80 Prozent des Wassers sind mittlerweile verloren. Einige Schiffswracks im Sand wirken dort, wo einst der Hafen von Muynak lag, wie von Menschenhand abgestellt. Und tatsächlich: Schuld an allem ist der Mensch.

Zu Sowjetzeiten entschied man sich, in den kargen Regionen um den See Baumwolle anzupflanzen. Die Sträucher sind robust und brauchen nur wenig Nährstoffe zum Überleben – dafür aber umso mehr Wasser. Zu jener Zeit versorgten zwei große Flüsse den Aralsee mit Wasser, dann kamen in den Fünfzigerjahren die Bagger, gruben Kanäle und schufen so ein Bewässerungssystem für die Baumwollfelder. Kurzfristig ergaben sich daraus schnelle Gewinne durch Steigerung der Ernte, entsprechend weiteten die Sowjet-Funktionäre die Anbauflächen aus. Für den See aber blieb immer weniger Wasser übrig.

Wirtschaftlich wie ökologisch stellte sich das als schlechte Entscheidung heraus. So ergaben Studien verschiedener US-Universitäten, dass der durch die Baumwolle erwirtschaftete Umsatz in keiner Weise die Verluste deckte, die etwa durch das Sterben des Fischfangs entstanden – einer der wichtigsten Wirtschaftszweige zu damaliger Zeit. Nichts davon ist geblieben.

Mit dem Verschwinden des Sees entstanden weitere Probleme. Auf diplomatischer Ebene stritten sich die Anrainerstaaten des Aralsee-Beckens um den Zugang zum Trinkwasser, aber auch um die Verteilung der für den See bestimmten internationalen Hilfsgelder. Auf lokaler Ebene kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Minderheiten und den jeweiligen Regierungen. So ernten zum Teil immer noch Zwangsarbeiter in Usbekistan die Baumwolle, obwohl Präsident Shavkat Mirziyoyev die Praxis offiziell abgeschafft hat.

Verzweifelte Versuche, den Zugang zum Wasser in Orten wie Muynak zu sichern, scheiterten bisher. So versuchte man offensichtlich Ende der Achtzigerjahre, sich den Weg zum See künstlich zurück zu baggern, um den Ort weiterhin mit Wasser versorgen zu können. Das Unterfangen blieb allerdings ohne nachhaltigen Erfolg, nur wenig später war das Seeufer bereits zu weit entfernt.


Dass das Wasser fehlt, ist das offensichtlichste Problem für die Bevölkerung. Doch mindestens genauso problematisch sind die Substanzen, die es zurücklässt. So fließen seit Jahrzehnten giftige Düngemittel, Pestizide und Industrie-Chemikalien von den Anbauflächen und umliegenden Fabriken zurück ins Grundwasser und in den See. Lange konnte das Wasser Teile der Chemikalien binden. Doch je mehr davon verschwindet, desto mehr Gifte lagern sich in der zurückbleibenden Wüste ab, gelangen so als Feinstaub in die Luft, wo Sandstürme sie in die Umgebung tragen.

Darüber hinaus hat der See eine noch dunklere Vergangenheit. Jahrzehntelang testete die UdSSR Biowaffen im Aralsee. Auf der Insel der Wiedergeburt, Vozrozhdeniya, wurde 1948 der Ort Kantubek errichtet. Die einzigen Bewohner: rund 1500 Forscher, Militärs, Sicherheitspersonal und deren Familien. Der Ort selbst: ein Geheimlabor für die Erforschung und Tests von Biowaffen, das nicht nur das sowjetische Militär nutzte, sondern auch die sowjetische Behörde für biochemische Kriegsführung, Bioreparat. 1954 wurde das Labor, das nicht einmal auf sowjetischen Karten verzeichnet war, in Aralsk-7 umbenannt. Die Stoffe, mit denen Forscher hier experimentierten: Erreger von Milzbrand, Pocken, Tularämie, Pest.

Erst 1991, mit dem Zerfall der Sowjetunion, wurde die Aralsk-7 hastig geschlossen. Damals war die Insel noch durch das Wasser vom Festland getrennt. Das änderte sich, als das Wasser 2002 so weit zurückgegangen war, dass Aralsk-7 über Land erreichbar wurde, wie auf den Satellitenbildern zu sehen ist.

Heute ist die Forschungsstätte verlassen, Einheimische trauen sich nicht auf das Gelände, zu groß ist die Angst vor Kontaminierung mit den verbleibenden Erregern. Denn Experten zufolge ist das Gelände noch immer verseucht. Besucher berichten, der Ort erinnere an Tschernobyl. Noch immer lägen aufgeschlagene Bücher auf den Tischen.

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Aber auch in Muynak wiegen die Folgen schwer: So liegt die Rate der Hauterkrankungen in der Region um ein Vielfaches über der im Rest des Landes. Die Sterblichkeit bei Neugeborenen ist massiv erhöht, genauso wie die Anzahl der Behinderungen und körperlichen Fehlbildungen. Laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen steht fest, dass die Bevölkerung unter der Verseuchung des Wassers und des Bodens in der Region leidet. Ob diese auf die Rückstände von Pestiziden oder auf das hunderte Kilometer entfernte, ehemalige Testlabor zurückzuführen sind, ist unklar.

Heute verirren sich nur noch wenige Touristen nach Muynak, touristische Infrastruktur wie einst gibt es hier nicht mehr. Nur ein heruntergekommenes Museum erinnert an den vergangenen Wohlstand des Ortes. Vom See und der Fischerei lebt hier niemand mehr.

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Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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