Nicht nur in der Türkei, auf der ganzen Welt bauen Regierungen an Mega-Staudämmen vom Ausmaß des Ilisu-Damms. So will Brasilien den Xingu-Fluss stauen, in Asien sollen Mekong und Ayurvadi gestaut werden und im afrikanischen Kongo gibt es Pläne zum Bau des bisher größten Staudamms der Welt. Die Projekte bedrohen den Lebensraum von Indianerstämmen und seltenen Tierarten. Doch die Regierungen versprechen sich Strom, Wirtschaftskraft und Macht.
Auch der Ilisu-Staudamm ist höchst umstritten, nicht nur wegen Hasankeyf. Der sich hinter der Mauer aufgestaute See soll sich über 135 Kilometer erstrecken. Er ist damit mehr als doppelt so lang wie der Bodensee. Etwa 200 Dörfer und Siedlungen versinken unter den Wassermassen, bis zu 70.000 Menschen mussten umsiedeln, sagt Eichelmann. Ein Teil von ihnen lebt nun in Neu-Hasankeyf. Die Stadt sei abstrus, so der Aktivist weiter. Jedes Haus eine Kopie des anderen: „Das sieht aus wie eine Kaserne.“ Und die Stadt sei an einem Südhang gebaut, der Grund sei felsig und trocken. Bisher haben die Einwohner von Hasankeyf vom Fischfang und von der Landwirtschaft gelebt, in Neu-Hasankeyf sei das kaum möglich, befürchtet Eichelmann.
Am neuen Stadtrand steht nun ein Geschichtspark, in dem die jahrhundertealte Moschee, das Badehaus und historische Grabdenkmäler wiederaufgebaut sind. Andere Denkmäler seien für immer verschwunden, so Eichelmann. Zum Beispiel zwei mehr als tausend Jahre alte Brückenpfeiler. Einst habe die Seidenstraße über diese Brücke über den Tigris geführt. „Es gibt kein Argument, so ein Weltkulturerbe zu vernichten“, sagt Eichelmann. „Das wäre, als würde man sagen: Wir reißen den Kölner Dom ab, weil uns eine Shoppingmall mehr Geld bringt.“
Schon seit Anbeginn des Projektes kritisieren internationale Organisationen, dass die Türkei beim Ilisu-Staudamm nicht genug zum Erhalt von Kulturgütern und Umwelt tue. Anwohner zogen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Gleich mehrfach zogen internationale Geldgeber ihre Unterstützung zurück, weil die Türkei sich aus ihrer Sicht nicht an internationale Standards halte. Auch die deutsche, schweizerische und österreichische Regierung hatten einst für das Bauvorhaben Kreditbürgschaften gegeben. 2009 zogen sie diese Zusagen auf internationalen Druck zurück. Das verzögerte den Bau des Staudamms weiter, verhinderte ihn aber nicht. Wo 2010 noch nichts vom Bauprojekt zu sehen ist, ragt fünf Jahre später der Damm in die Höhe, wie die Satellitenbilder zeigen. Die Türkei stemmte die Finanzierung allein. Insgesamt soll das Projekt 1,3 Milliarden Euro gekostet haben.
Für Erdogan ist das auch eine geopolitische Investition. Wer den Staudamm kontrolliert, kontrolliert den Tigris. Der Fluss streift auf ein paar Kilometern die syrische Grenze und fließt dann weiter in den Irak. In der Hauptstadt Bagdad protestierten deshalb Menschen gegen den Staudamm, die irakische Regierung verhandelte mit der Türkei eine Mindestdurchflussmenge. Doch es gibt Zweifel, ob die Türkei sich daran halten werde – und ob die Durchflussmenge überhaupt reicht. „Die Türkei hält den Wasserhahn in der Hand und kann ihn nach Belieben auf- und zudrehen“, sagt Eichelmann.
Und der Ilisu-Staudamm ist bei Weitem nicht das letzte Projekt, das die Türkei plant. Seit 2002 habe die türkische Regierung mehr als 850 Staudämme gebaut, berichtet die Zeitung Hürriyet. Tausende weitere sollen an der Schwarzmeerküste ebenso wie in Anatolien noch entstehen. Ein Großprojekt plant die Regierung auch nahe der Stadt Cizre an der syrischen Küste. Die Stadt liegt am Euphrat, der von Cizre weiter durch Syrien und den Irak fließt, bevor er sich kurz vor der persischen Küste mit dem Tigris vereint. Sollte der Cizre-Staudamm Realität werden, bekäme der Irak gar kein Wasser mehr, warnt Eichelmann: „Da wird die Natur ausgepresst, bis zum letzten Tropfen.“
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