Weniger Stress, mehr Zeit für Familie und Freunde, gefolgt von Sport, gesunder Ernährung und Abnehmen führen alljährlich die Hitlisten der Neujahrsvorsätze an. Aber Achtung: Den Jojo-Effekt gibt es nicht nur bei Crash-Diäten, sondern auch bei der Stressbewältigung.
Manch einer wünscht sich zwar auf den Jakobsweg à la Hape Kerkeling oder ein Sabbatical unter kalifornischer Sonne wie sie einst bei Medienschaffenden en vogue waren. Selbst wenn es nur Varianten davon sind, erfahren dennoch viele Menschen, dass schon nach kurzer Zeit alles beim Alten ist und die Erholung wie weggeblasen scheint.
Deshalb bringen kleine, aber regelmäßige Erholungsmomente auf Dauer mehr als ein ständiges Auf und Ab zwischen Überstunden und längeren Auszeiten, egal, ob freiwillig oder erzwungen: „Wer regelmäßig am Tag runterschalten kann oder nach einer anstrengenden Projektphase ein bis zwei Tage frei nimmt, tut deshalb mehr für seine Gesundheit, sein Energielevel und Leistungskraft, als jemand, der über Wochen und Monate durchackert und darauf hofft, sich im Sommerurlaub zu erholen", erklärt Diplom-Biologin und Expertin für Stressresilienz, Carola Kleinschmidt. Der Rat, Pausen zu machen, klinge vielleicht banal, das Problem sei nur: „Wenn wir im Stressmodus sind, haben wir kein Gespür mehr für unser Erholungsbedürfnis.“
Gute Vorsätze: Das nehmen sich die Deutschen für 2018 vor
Die Wünsche für das neue Jahr ähneln denen vergangener Jahre: Weniger Stress erhoffen sich viele. Vor allem Jüngere denken dabei an ihr Handy und wünschen sich mehr Offline-Zeit.
Quelle: repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der DAK-Gesundheit
Stress abzubauen ist das Ziel von 59 Prozent, wie die repräsentative Erhebung im Auftrag der DAK-Gesundheit ergab.
58 Prozent der Befragten wünschen sich mehr Zeit für Familie und Freunde.
53 Prozent würden gern mehr Sport treiben.
18 Prozent der Befragten haben sich vorgenommen, sich im neuen Jahr weniger mit Handy, Computer und Internet zu beschäftigen.
Vor allem die 33- bis 44-Jährigen sehnen sich nach weniger Stress und einem ruhigeren Familienleben (jeweils 69 Prozent) oder wollen sportlich aktiver werden (59 Prozent).
Auffällig ist, dass vor allem die Jüngeren zwischen 14 und 29 Jahren von mehr Offline-Zeit träumen. 34 Prozent von ihnen gaben an, sie wollten ihr Smartphone weniger nutzen.
Auch Studien zeigen, dass zeitnahe Erholung am besten geeignet ist, um Erschöpfung zu verhindern: „Pausen sind letztlich nur effektive Kraftspender, wenn man sie sich gönnt, bevor der Akku völlig alle ist“, so Kleinschmidt.
Die Erfahrung hat auch Marion L. gemacht, die ihren vollen Namen nicht öffentlich preisgeben möchte: „Kontinuierliche Erholungsmomente sind eindeutig effektiver als dieses ständige alles oder nichts“, sagt die Pressesprecherin, die nach mehreren Auszeiten auf einen neuen Lebenswandel setzt: „Bei meinem letzten Aufenthalt in der Burn-out-Klinik ging gar nichts mehr und ich habe dort gelernt, wie kleine Verhaltensänderungen den Alltag auf Dauer erleichtern können.“
Digitalisierung wohl dosiert
Es beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten, die sich in Summe aber zu einem Stressfaktor entwickeln können. E-Mails beantwortet sie jetzt nicht mehr vor der Arbeit oder am Abend Zuhause, sondern hat ein festes Zeitfenster am Arbeitsplatz dafür eingeplant. Und dann darf auch nicht gestört werden. Die aktive Einteilung der Aufgabenzeiten und die Konzentration auf eine Sache haben die Kommunikationsverantwortliche wesentlich stabiler und auch erfolgreicher gemacht, im Job wie auch privat. Patenkind und Wochenendhund – ein Kindheitstraum – tun ihr übriges.
Stress lass nach: 10 Aha-Momente für jeden Arbeitstag
Auszeiten von elektronischen Medien sind wie Kurzausflüge auf die Insel – vor allem am Morgen direkt nach dem Aufstehen stresst der Blick aufs Smartphone oder Tablet Studien zufolge besonders. Deshalb einfach mal ganz analog frühstücken und feste E-Mail-Bearbeitungszeiten am Arbeitsplatz einplanen. Ausreden gibt’s hier nur für Notärzte oder Börsianer.
Statt den berüchtigten 15 Minuten Ruhm hinterherzurennen, sollten Sie täglich 15 Minuten Alleinsein am Arbeitsplatz trainieren – und Alleinsein meint Alleinsein, ohne Kollegen und Technik. Einfach nur auf den Atem konzentrieren. Notfalls auf dem stillen Örtchen.
Die Amerikaner machen's vor: Die Sneaker gehören mit ins Business-Gepäck. Wenn Sie schon so zur Arbeit kommen dürfen: umso besser. Dann müssen Sie in der Pause keine Schuhe wechseln und können ein paar Minuten länger um den Block oder in einen nahe gelegenen Park gehen. Auf dem Weg Salat und Früchte to Go einsammeln – und auf keinen Fall im Gehen essen!
Es heißt ja, das Auge isst mit. Aber nicht nur an der optischen Darbietung, auch an Geruch und Geschmack erfreuen wir uns im Arbeitsleben nur noch selten. Da wird meist entgegen aller Slow-Food-Unkenrufe schnell im Gehen oder Stehen oder gar am PC aus Plastikschalen geschlungen. Dabei reichen bei kleinen Portionen 15 Minuten für ein achtsames Essen aus – und die sollten Sie sich zusätzlich zum Pausen-Spaziergang gönnen. Am besten jeden Mittag und angerichtet auf einem handelsüblichen Teller.
Die gute alte Postkorb-Übung, beliebt im Assessment Center zur Nachwuchsauswahl – einfach mal im Management wiederholen und eingeschliffenen Arbeitsabläufe neu priorisieren. Und noch ein Hinweis: Multitasking ist out, auch für Frauen, die es angeblich so gut können. Denn Studien belegen, dass diese Arbeitsweise mit Sicherheit mehr stresst und weniger bringt.
Nein, keine Diät, beziehungsweise nur für Ihren Kalender: Einfach mal jeden zweiten Abend frei von Dienstessen und anderen Abendterminen, die Sie als Verpflichtung empfinden, halten. Und bitte auch durch keine andere Aktivität ersetzen!
Einfach mal abschalten – und zwar den Fernseher. Das gilt zumindest für all diejenigen, die sich über zu wenig Zeit beklagen. Auch wenn Sie wahrscheinlich nicht zu den Durchschnittsglotzern mit über drei Stunden am Tag zählen, verschafft öfter mal abschalten sicherlich auch Ihnen mehr Freiraum für aktive Erholung wie Sport, Hobbys und Wichtigeres.
Täglich ein Tier streicheln, Delphinschwimmen und Reittherapie sind auch für gestresste Manager gut: Tiere beruhigen, fragen nicht und helfen, in Kontakt zu bleiben. Mit sich und anderen. Sie haben schon Gesellschaft in Form von Familie? Macht nichts, es gibt kaum Kinder, die sich kein Haustier oder Reitstunden wünschen.
Nix für Warmduscher, neben Tänzern, Schauspielern und Fitnesstrainern wird es auch Zeit fürs Management, sich in die bislang Frauen dominierte Kurse zu wagen: Versuchen Sie es doch einmal mit (Power) Yoga oder (Real Man do) Pilates – wer die Klammern weglassen kann, gehört in den Fortgeschrittenen-Kurs.
Sie haben sich heute noch für nichts begeistern können? Dann kommt hier der zweite Teil Mädchenkurs: Tagebuch führen und jeden Abend alle schönen Erlebnis aufschreiben. Sie hatten heute noch keins? Dann bitte noch einmal Punkt Eins bis Neun durchgehen – oder sich selbst aktiv auf die Suche begeben.
„Always on“, die ständige Erreichbarkeit via Smartphone, Tablet und Co. verwischt die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben – und je digitaler der Arbeitsplatz, desto mehr zieht die Beschleunigung an.
Laut repräsentativer DGB-Studie 2016 klagen 54 Prozent der Befragten über mehr Arbeit und 60 Prozent der von Digitalisierung betroffenen Arbeitnehmer über mehr Zeitdruck. Auch ständige Unterbrechungen beklagen 69 Prozent der Befragten – bei denen, die nicht digital arbeiten, sind es hingegen 36 Prozent.
Die Überforderung durch Digitalisierung beobachtet Carola Kleinschmidt auch in ihrem Beruf als Trainerin: Derzeit am meisten nachgefragt werden bei ihr von den Unternehmen „Arbeit 4.0 – wie wir auch in digitalen Zeiten gesund bleiben“ und „Reife Leistung – älter werden im Beruf“. Denn auch das Alter spielt natürlich eine Rolle bei der Kräfteeinteilung, auch wenn ungern darüber gesprochen wird.
Pausen als Effizienzmotor
Beschleunigung und Verdichtung des Arbeitslebens ziehen mit der Digitalisierung weiter an: Der letzten TK-Stressstudie zufolge sagen 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland, dass ihr Leben in den vergangenen drei Jahren eindeutig stressiger geworden sei.
Stressfaktor Nummer Eins ist: Der Job. Darauf folgen die eigenen Ansprüche und vielen Verpflichtungen in der Freizeit. Je höher Bildungsgrad und Einkommen, desto höher steigt der Level des Stress: Ein Viertel der Hochschulabsolventen fühlt sich gestresst. Bei den Menschen in Haushalten mit mehr als 4000 Nettoeinkommen sind es sogar zwei Drittel.
Gehören neben Erfolgsdruck und Überstunden auch noch Pendeln und Dienstreisen zum Arbeitsalltag, sind längere Ausfälle programmiert. Zumal das Selbstbild oft nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Was Experten raten, wie Sie das Wohlbefinden im Arbeitsalltag steigern und den Stress reduzieren
Oliver Haas, Gründer von corporate happiness hat bei der Beratung einer deutschen Hotelkette folgendes erlebt: „Ein Koch war mit seiner Arbeit immer unzufriedener. Er nahm sich Zeit für eine Selbstreflektion und kam zu dem Schluss, dass der Beruf eher Wunsch seines Vaters war und er sich viel lieber mit Zahlen und Tabellen befasst. Nun ist solche eine Erkenntnis Risiko und Chance zugleich. Er fasste sich ein Herz und sprach seinen Geschäftsführer an. Dieser verstand sofort, dass er den Koch, nicht aber den Mitarbeiter verlor. Beide wagten auch ohne Berufserfahrung den Versuch, eine Position im Controlling zu besetzen. Heute ist er Chef-Controller und er und sein Unternehmen haben profitiert."
Gina Schöler ist die Gründerin des Ministeriums für Glück und Wohlbefinden. Sie rät: „Alles auf einmal ist einfach keine gute Strategie. Was hilft? Atmen. Innehalten. Pausen-Taste drücken und sich überlegen, was Priorität hat. Und dann: Eins nach dem anderen. Dann wird das E-Mail-Fach abgeschaltet, bis der Artikel geschrieben ist. Das Telefon stumm gestellt, bis der Workshop fertig ist und das Interview so gelegt, dass der Hund (und man selbst!) an die frischen Luft kommt. So einfach und so effektiv! Und doch muss man sich regelmäßig immer wieder selbst daran erinnern“.
Kai Ludwigs, Direktor der Happiness Research Organisation, einem unabhängigen Forschungsinstitut zur Messung von subjektivem Wohlbefinden und Glück, rät: „Viele Menschen haben in beruflichen Stresssituationen den Eindruck, dass sie noch häufiger ihre E-Mails checken müssen, noch erreichbarer sein müssen. Dies führt zu zusätzlichem Stress und somit häufig zu schlechteren Entscheidungen. Derzeit machen wir ein Experiment mit Arbeitnehmern in dem eine Gruppe ihre E-Mails nur am Arbeitsplatz lesen darf und nicht zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit. Wir gehen davon aus, dass sich hierdurch das allgemeine Wohlbefinden 0,3 bis 0,5 Punkte auf einer 0-10er Glücksskala steigern lässt und das Stresslevel sinken wird.“
Dorette Segschneider ist Führungskräftecoach und berichtet aus ihrer Praxis: „Die täglichen - scheinbar endlosen - Fahrten haben Anna als Vorstand eines Unternehmerverbandes in den Burnout getrieben. Zu ihrem Business gehörten zwischen 200 bis 500 Kilometer Fahrtstrecke täglich. Vor allem die Sinnlosigkeit der Zeit, die sie im Auto verbrachte, nagte an ihrem Innenleben. Die Lösung war einfach und effektiv: Das Erlernen einer neuen Sprache während der Fahrten - in ihrem Fall Spanisch. Am Anfang hörte sie ausschließlich Grammatik-Einheiten und inzwischen auch leichte Hörbücher. Zur Entspannung dann spanische Lieder. Die Erfolgserlebnisse, die sie beim Sprachen lernen hatte, brachten ihr zusätzliche Motivation für den ganzen Tag.“
Pia Michel und Justine Lagiewka von Good Work Good Life berichten von einer Erfahrung als Führungskräfte-Coaches: „Matthias ist Einkaufsleiter eines großen Lebensmittelkonzerns und kam zu uns, da er mit seinem Job sehr unzufrieden war. Erschwert wurde seine Situation dadurch, dass seine Chefin ihn „auf dem Kieker“ hatte.
Er hatte schon oft überlegt, was er selbst ändern könnte, doch keine zündende Idee. Unser Impuls war, gemeinsam mit anderen Personen ein Brainstorming zu machen. Das erweiterte sofort seine Perspektive und er entwickelte daraufhin ein innovatives Konzept zur Zusammenarbeit mit Lieferanten, das sich zugleich noch werbewirksam für das Unternehmen einsetzen lässt. Und aus dem unmotivierten Problemmitarbeiter wurde ein glücklicher Vorzeigemitarbeiter mit Gehaltserhöhung.“
„Gerade viel beschäftigte Manager haben häufig das Gefühl, sie bräuchten Pausen nicht wirklich dringend. Tatsache ist allerdings: Unser Gehirn kann nur im entspannten Modus kreative Prozesse durchführen oder wohl überlegte Prioritäten setzen. Im gestressten Zustand schalten wir auf Autopilot und spulen gewohnte Handlungen ab. Ohne Pause kann man also viel ackern, aber wirklich effizient und flexibel arbeitet man so nicht“, sagt Diplom-Biologin Kleinschmidt. Das fühle sich dann zwar geschäftig an, sei in der heutigen Arbeitswelt aber weder angemessen noch dauerhaft zielführend.
Mehr Achtsamkeit, mehr Widerstand(skraft)
Besonders Managern falle es schwer, sich vom maskulinen Stereotyp des ständig ackernden Geschäftsmannes zu lösen, bestätigt auch Marketingleiter Boris K.. Nach einigen Firmenfusionen und Change-Prozessen, die ihm körperlich und seelisch an die Substanz gegangen sind, findet er nun Ausgleich und Durchhaltevermögen in Yoga und autogenem Training – und einem Achtsamkeitskurs: Bewusstes Essen, Gehen, Atmen und Gedanken lenken – hört sich einfach an, haben aber viele verlernt.
„Dabei ist das nichts für Warmduscher. Hier geht es an falsche Glaubenssätze und schädliche Angewohnheiten, die es zu hinterfragen gilt. In den USA hat längst jeder seinen Psychiater, in Deutschland werden selbst solche Kurse unter anderen Titeln getarnt.“ Und in der Tat: Kurse wie „Real men do Pilates“, „Power Yoga“, Selbsterfahrungstrips in der Wildnis – oder zumindest im Wildgehege nebenan – boomen.
Alle haben sie etwas gemeinsam: Sie schaffen gezielte Auszeiten, in denen der Mensch sich bewusst nach innen wendet und alles andere ausblendet. Das lehren hiesige Religionen wie fernöstliche Philosophie schon seit Jahrtausenden gleichermaßen. Und dazu bedarf es weder einer Klosterwoche in Bayern noch eines Yoga Ashrams in Indien.