Das digitale Spektakel ist vorbei: In der vergangenen Woche fand die imposanteste Dmexco aller Zeiten in Köln statt. Europas größte Messe für digitales Marketing imponierte wieder einmal mit einem Rekord-Ansturm von Besuchern, Ausstellern und renommierten Rednern der wichtigsten Digitalunternehmen dies- und jenseits des Atlantiks.
Doch welche Antworten lieferte sie? Welche Impulse, außer dass Virtual Reality schwer im Kommen ist? Welche Erkenntnisse brachte sie den über 50.000 Besuchern?
Bemerkenswert erschien eher die Kritik an der digitalen Branche, die zuvor laut wurde. Da war zum einen der schon fast traditionelle Forderungskatalog der Werbekunden, mit denen ihr Verband OWM den Digitalos einmal mehr die Leviten las. Sie bemängelten Themen wie Sicherheit (Ad Fraud und Online-Betrug), die Sichtbarkeits-Messung ihrer Werbung, Leistungsnachweise, die mangelnde Akzeptanz der Online-Werbung – an der sie zugegebenermaßen einen großen Anteil Mitschuld tragen – und das leidige Thema Transparenz, also die marktübliche Verschleierung der digitalen Zahlungsströme.
Selbst diese Forderungen sind nicht wirklich neu. Aber zumindest eine Antwort gab es darauf. Sie kam überraschenderweise von Axel Springer, die ankündigten, fortan störende Werbung von ihrem Bild.de-Portal zu verbannen. Künftig werden alle Werbeformate von der Site verschwinden, die als besonders nervig gelten: Video-, Overlay-, Popunder- und Anzeigenformate, die aktiv werden, ohne dass sie angeklickt werden. Ein Schritt in die richtige Richtung.
Das Gewäsch der Marketingfuzzis
Eine zünftige Abrechnung mit der Dmexco und dem digitalen Hype gab es von Müller Milch. Christian Meyer, Senior Media Manager und Head of Digital bei der Theo Müller Gruppe und Herr über einen 100 Millionen Euro schweren Werbeetat, schrieb sich in einem offenen Brief seinen Ärger von der Seele. Er fühlt sich von der Dmexco und vom „selbstverliebten“ deutschen Digitalzirkus ordentlich genervt. „Immer und immer wieder das gleiche Gewäsch“, formuliert er im Branchenblatt W&V. Er schreibt von Marketingfuzzis, die Schwachsinn produzieren und dass viele Werbekunden weiterhin gutes Geld in den digitalen Hochofen werfen. Bei Müller hätte man es auch ausprobiert: „Machen wir jetzt nicht mehr.“
Sie seien nicht Mitglied im Club der digitalen Big Spender, denn sie machten nach ihren Qualitätsmaßstäben keine guten Erfahrungen. So lange, schreibt Meyer, „wir nicht beginnen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, wir weiterhin dem digitalen Wahn verfallen, Agenturen ihrem Beratungsauftrag immer seltener gerecht werden, wir keine empfindlichen Konsequenzen ziehen, nicht den Mut aufbringen, den desolaten Zuständen der Branche… den Kampf anzusagen, solange wird sich nichts ändern.“
Da ist jemand richtig sauer. Leider ist Müller Milch auch einer der größten Werbekunden des Landes.
Titanic und der digitale Eisberg
In der digitalen Marketing-Welt liegt also einiges im Argen. Eines der bemerkenswertesten Zitate auf der Dmexco war ein Ausspruch von Tobias Kollmann, BWL-Professor an der Uni Duisburg-Essen: „Die meisten Industriekapitäne stehen auf dem Deck der immer noch funktionierenden Titanic. Dabei ist der digitale Eisberg schon in Sicht.“
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass viele Marketing- und Werbechefs überfordert sind und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Jedes Jahr werden sie aufs Neue überflutet von aktuellen, digitalen Trends und Hypes, denen sie um jeden Preis folgen müssen, um nicht als althergebracht oder gar ignorant zu gelten. Wäre es da nicht schön, man könnte etwas Ballast abwerfen? Wäre es nicht genial, wenn jemand empirisch nachweisen würde, auf welche Maßnahmen das moderne Marketing und die trendige Werbung verzichten können?
Da kommt Byron Sharp gerade recht. Der Marketing-Professor an der University of South Australia hat bereits 2010 ein Buch mit dem vielsagenden Titel „How Brands Grow“ veröffentlicht, das inzwischen zum Bestseller avancierte und nun mit der üblichen Verzögerung auch in Europa für Furore sorgt. Furore deshalb, weil er auf 214 Seiten darlegt, dass das heutige Marketing unendlich vielen Irrtümern aufsitzt, an denen man jedoch stoisch festhält. An die Stelle des herkömmlichen Glaubens, was wirkt und richtig ist, setzt er solide, empirische, wissenschaftliche Marketing-Erkenntnisse.
In Zukunft zu vermeidende Irrtümer
Demnach können Marketing und Werbung in Zukunft getrost auf nicht weniger als zehn der häufigsten und beliebtesten Maßnahmen verzichten, die tagein, tagaus zum üblichen Repertoire der Zunft zählen:
- Markendifferenzierung und USPs
- Zielgruppensegmente und -profile
- Zielgruppen-Targeting
- Aufbau von Markenwerten („brand value“)
- Customer Relationship Marketing (CRM)
- Markenbindungs- und Loyalitätsprogramme
- Promotions- und Preisaktionen
- Modelling
- Neue Medien („New Media“)
- und last but not least Influencer Marketing
Überschätzt, unnötig und nicht zielführend
Diese Maßnahmen seien vollkommen überschätzt, bisweilen unnötig und obendrein wenig zielführend, wenn es darum geht eine Marke zum Erfolg zu führen. Die Profitabilität von Marken und ihr Wachstum sind einzig abhängig von seltenen und neuen Käufern, keinesfalls jedoch von Kernzielgruppen oder loyalen Kunden.
Der australische Professor macht Schluss mit dem weit verbreiteten Glauben der meisten Marketer, dass Marketing und Werbung keine Gesetze zugrunde liegen. Die Wissenschaft habe hinlänglich erwiesen, dass das absoluter Unsinn („utter nonsense“) sei. Verantwortlich für den Markenerfolg seien erwiesenermaßen einzig Faktoren wie Popularität, Auffälligkeit, Sichtbarkeit, somit Reichweite und Kontinuität. Er plädiert daher für „Sophisticated Mass Marketing“ unter Zuhilfenahme eines breiten Mix aus massentauglichen Medien wie Fernsehen und Zeitungen.
"Das Dringliche dominiert das Wesentliche"
Der Shift der Werbegelder von Massenmedien hin zu Online ist falsch, sagt er. Medien mit geringen Reichweiten seien weniger wirksam. Mediastrategien, die Reichweite erzeugen, erweisen sich als besonders erfolgreich. Die digitale Revolution, gibt er jedoch zu, eröffne neue Möglichkeiten der Zielgruppenansprache, solange sie die Massen erreiche.
Das ist eine Marketing-Sensation. Sie dürfte nicht jedem schmecken, zumal Sharp seine Erkenntnisse empirisch untermauert. Passend dazu - und ausgerechnet zur Dmexco - antwortete der renommierte, deutsche Marketing-Professor Franz-Rudolf Esch (EBS Universität) auf die Frage, ob Interaktion wichtiger sei als Reichweite, mit den Worten: „Das ist kompletter Unsinn, der durch Studien auch ständig widerlegt wird. Es gibt heute eine solche Flut an Buzzwords und eine so große Furcht, nicht up to date zu sein, dass häufig zu schnell agiert und zu wenig reflektiert wird. Plötzlich dominiert das Dringliche das Wesentliche."
Die Marketing-Wissenschaftler sind sich somit einig. Und wir haben interessante Antworten auf die Frage nach der Werbung der Zukunft. Nur auf die digitalen Medien kommen offenbar schwere Zeiten zu.