Zuletzt bin ich häufiger gefragt worden, ob es Zeit ist, alle Börsengewinne mitzunehmen und auf Cash zu setzen. Immerhin haben sich die Märkte über die letzten Monate gut entwickelt – trotz vielzähliger Unsicherheiten. Vor allem Bedenken zu Bewertungen, Inflation und Anleiherenditen werden in jüngster Zeit öfter erwähnt. Ich würde aber Cash-Bestände nicht übermäßig erhöhen.
Bewertungen reflektieren noch kein nachhaltig niedriges Zinsumfeld
Keine Frage, absolute Bewertungen wie Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) für die nächsten zwölf Monate sind erhöht. Das ist aber nicht überraschend, sondern typischerweise der Fall, wenn wir aus einer Gewinnrezession kommen. Aktienkurse antizipieren frühzeitig eine Gewinnerholung über die nächsten zwölf Monate hinaus. Über die kommenden Quartale steigen die Gewinne an und KGVs reduzieren sich – ohne dass die Kurse deutlich fallen müssen. Dieser Prozess findet derzeit statt. Beispielsweise haben die Unternehmensgewinne in den USA und Asien bereits wieder die Höchststände vor Covid übertroffen. Sie sollten mit der Wiedereröffnung der Wirtschaftsräume weiter deutlich zulegen.
Zusätzlich reflektieren selbst aktuell erhöhte Bewertungen noch kein nachhaltig niedriges Zinsumfeld. Aktien haben bislang von allen Anlageformen am wenigsten vom Tiefzinsumfeld profitiert. Dies verdeutlicht ein Vergleich der Gewinnrendite (Kehrwert des KGV) des MSCI-Welt-Index mit dem risikofreien Zins beziehungsweise der Rendite sicherer Staatsanleihen. Die Gewinnrendite von Aktien beträgt derzeit knapp fünf Prozent, ähnlich wie vor 20 Jahren. Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen liegt hingegen heute mehr als 3,5 Prozentpunkte tiefer. Sollten immer mehr Anleger zu der Erkenntnis gelangen, dass die Tiefzinsen dauerhafter Natur sind, wäre ein andauernder Anstieg der Bewertungen nur folgerichtig.
Inflation: höher, aber nicht hoch
Basiseffekte und eine aufgestaute Nachfrage, die in manchen Bereichen auf ein eingeschränktes Angebot trifft, werden in den nächsten Monaten zu einem Inflationsanstieg führen. Die Preisentwicklung in den Sektoren Transport, Lebensmittel und Halbleiter legt nahe, dass bereits Teile der Wirtschaft von dieser Entwicklung erfasst wurden. Dieser Inflationsanstieg sollte jedoch nicht als Beginn einer Entwicklung hin zu hohen Inflationsraten über die nächsten Monate hinaus interpretiert werden. Kurzfristig sind die Kapazitätsauslastungen in den meisten Ländern noch zu niedrig, um inflationäre Tendenzen anzuheizen. Mittelfristig werden unter anderem die Digitalisierung und die demografischen Entwicklungen weiterhin den Anstieg der Inflation begrenzen.
Was aber bedeutet selbst ein moderater Inflationsanstieg bei weiterhin geringen beziehungsweise negativen Zinsen für Anleger? Cash verliert weiter an Wert, Anleihen werden schwankungsanfälliger und Substanzwerte dürften sich gut halten. Vor allem Aktien von Unternehmen, die ihre Umsätze und Gewinne mindestens im Einklang mit Teuerungsraten erhöhen können, dürften sich bewehren. Mit Blick auf den US-Markt wurde es in der Vergangenheit für Aktien erst ab Inflationsraten von über drei Prozent mit weiter steigender Tendenz problematisch. Denn ab diesem Punkt beginnen die Märkte, eine deutlich aggressivere Reaktion der Zentralbanken zu eskomptieren und Anleihenrenditen mit einer höheren Inflationsrisikoprämie zu versehen. Das wiederum drückt die Bewertungen von Aktien. Ich gehe in naher Zukunft nicht von solchen Niveaus aus.
Märkte können höhere Anleihenrenditen verkraften
Der Rentenmarkt hatte sich zuerst Zeit gelassen, auf das – durch den US-Wahlausgang und die Impfstoffankündigungen eingeläutete – reflationäre Umfeld seit November zu reagieren. Von Ende Oktober bis Ende Dezember 2020 stiegen die Renditen für zehnjährige US-Staatsanleihen gerade einmal um vier Basispunkte. Dies hat sich seit Jahresbeginn rapide geändert; der Anstieg betrug rund 50 Basispunkte. Und auch Renditen auf zehnjährige Bundesstaatsanleihen befinden sich auf dem höchsten Stand seit Monaten. Während die Renditeanstiege anfangs vornehmlich durch höhere Inflationserwartungen getrieben wurden, sahen wir zuletzt global eine Erhöhung der realen, also inflationsbereinigten, Zinsen. Ab wann könnte dies ein Problem für die Aktienmärkte werden? Wie bereits erwähnt, ist die Renditedifferenz zwischen Aktien und Anleihen noch groß genug, um eine zusätzliche Erhöhung der Anleihenrenditen zu absorbieren.
Wichtiger jedoch als das Niveau, ist der Grund für den Anstieg der Anleihenrenditen. Wenn der Anstieg auf die Erwartung einer restriktiveren Geldpolitik zurückgeht, ist dies problematisch für die Aktienmärkte. Dies zeigte sich beispielsweise 2013, als die Federal Reserve über eine Reduzierung der Anleihenkäufe spekulierte und der Markt dies als Beginn vom Ende der geldpolitischen Lockerung interpretierte („Taper Tantrum“). Falls der Ausblick auf stärkeres Wachstum die Anleihenrenditen treibt, können die Aktienmärkte diese gut absorbieren. Dies war beispielswiese 2016 und 2017 zu beobachten. Ich gehe davon aus, dass letzteres in naher Zukunft der Fall sein wird. Für gewisse Sektoren hat diese Entwicklung wichtige Auswirkungen. Ich bevorzuge weiterhin Bereiche wie den Finanz-, Rohstoff-, zyklischen Konsum- und Industriesektor gegenüber beispielsweise Basiskonsumgüter- und Immobilienaktien.
Übermäßige Cash-Bestände haben sich in den letzten Jahren als schwankungsarmer und zuverlässiger Entwerter von Vermögen erwiesen. Dies wird sich in naher Zukunft selbst bei nur moderat steigenden Inflationsraten nicht ändern. Trotz der aktuellen Unsicherheiten sollten Substanzanlagen wie Aktien weiterhin den Vorzug erhalten.
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