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Nützliche BakterienDer Darm hat Charme

Bei Bakterien denken die meisten Menschen an gefährliche Erreger. Doch inzwischen mehren sich die Hinweise auf ihre positiven Eigenschaften. Forscher vermuten, dass vor allem Darmbakterien Krankheiten heilen.Susanne Kutter 23.04.2014 - 18:42 Uhr

Bei vielen Krankheiten können Bakterien die Heilung bringen. Aber noch ist die Rechtslage unklar

Foto: Fotolia

Wir sind nicht allein. Nie. In uns, auf uns lebt es: Abermillionen an Bakterien und anderen Mikroorganismen betrachten uns als Biotop auf zwei Beinen. Stolze zwei Kilogramm bringt dieses Mikrobiom zusammengerechnet beim Erwachsenen auf die Waage; auf jede einzelne Zelle unseres Körpers kommen rechnerisch zehn Miniviecher.

Und das ist gut so.

Denn ohne die Mikroben, die uns besiedeln, könnten wir gar nicht überleben. So helfen uns Bakterien im Dünndarm – die berühmte Darmflora –, die Nahrung ordentlich zu verdauen. Mikroorganismen auf der Haut wehren gefährliche Erreger ab.

Die kleinen Mitbewohner spielen – das wird erst jetzt so richtig klar – aber auch eine wichtige Rolle bei erstaunlich vielen Krankheiten: angefangen bei Darmerkrankungen über Rheuma bis hin zu Depressionen.

Wie im tropischen Dschungel, in dem sich Pflanzen und Tiere in einem sensiblen ökologischen Gleichgewicht befinden, hat es auch für das Mikrobiom katastrophale Folgen, wenn sich die Zusammensetzung der Mikrobenarten verschiebt. Das Abwehrsystem des Menschen kann dadurch so irritiert werden, dass Immunzellen körpereigenes Gewebe angreifen.

Chronische Entzündungen im Darm wie Morbus Crohn aber auch multiple Sklerose, Rheuma oder die Zuckerstoffwechselerkrankung Diabetes sind Beispiele. Oder es können sich fremde Bakterien breitmachen, die starke Durchfälle auslösen.

Alles andere als appetitlich

Was tun, wenn das passiert?

Gerade dann, wenn Medikamente keinerlei Wirkung zeigen und radikale Eingriffe wie etwa die Entfernung eines Teils des Darms bevorsteht, sind Ärzte jüngst auf eine relativ simple List verfallen.

Sie versuchen, die alten Machtverhältnisse, sprich die Artzusammensetzung im Darm, wiederherzustellen. Sie übertragen dazu einfach die Mikroben eines Gesunden auf den Kranken.

Ganz praktisch bedeutet das – und jetzt wird es etwas anrüchig: Sie besorgen sich eine Stuhlprobe und bringen sie in den Darm des Erkrankten.

Zugegeben: Die Methode ist alles andere als appetitlich. Doch sie zeigte in einzelnen Fällen auch bei Parkinson-Patienten und Menschen mit Autoimmunkrankheiten wie multipler Sklerose (MS) große Wirkung. Sogar Autisten, die sich mehr oder weniger stark von der Welt abkapseln, schien eine neue Darmflora zu mehr Weltoffenheit zu verhelfen – auch wenn die zugehörigen Publikationen umstritten sind.

Denn bisher gibt es hier keine sauberen klinischen Studien, sondern lediglich Einzelfallbeobachtungen. Wenn sich die Wirksamkeit aber in Zukunft mit Studien belegen lässt, scheint das Potenzial möglicher Anwendungen geradezu fantastisch.

Entsprechend groß ist das Interesse an der neuen Therapieform. Forscher wie Kliniken sind elektrisiert. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichung zum Thema steigt derzeit sprunghaft an. Ebenso die Zahl der gerade laufenden klinischen Studien (siehe Grafik). Und immer mehr Krankenhäuser bieten die neue Heilmethode an.

Manch verzweifelter Patient hat auch schon die im Internet kursierenden Do-it-yourself-Anleitungen ausprobiert, wie Stuhlproben von Freunden und Verwandten im heimischen Badezimmer aufzubereiten sind.

Platz 10: Kopierer

Die Wissenschaftler haben über 5.000 Oberflächen in Bürogebäuden unter anderem von Versicherungen, Anwaltskanzleien und Callcentern auf ihren Bakteriengehalt untersucht und dabei ein Schmutz-Ranking erstellt. Auf Platz zehn landet der Kopierer, an dem täglich Dutzende Angestellte arbeiten.

Foto: WirtschaftsWoche

Platz 9: Kaffeetassen

Hinter den Kopierern folgt die Kaffeetasse, die gerne mal länger in offenen Schränken vor sich hin vegetiert. Im Durchschnitt berührt jeder Büroangestellte übrigens 300 Oberflächen in 30 Minuten und kommt dadurch am Tag mit 840.000 Keimen in Berührung.

Foto: WirtschaftsWoche

Platz 8: Telefone

Auf Platz acht der schmutzigsten Büro-Oberflächen hat es das Telefon geschafft. Mehrmals täglich wird es von einem oder sogar mehreren Mitarbeitern in die Hand genommen und vor allem nah an den Mund gehalten. Da können sich die Bakterien leicht in die Schleimhäute einnisten.

Foto: dpa

Platz 7: Computermäuse

Den ganzen Tag fast halten wir sie in unseren schwitzigen Händen - die Computermaus. So bildet sich mit der Zeit eine immer dickere Dreckschicht. Viele Unternehmen weisen ihre Mitarbeiter mittlerweile daraufhin, den Schreibtisch inklusive Computermaus und Tastatur mit Desinfektionsmittel zu reinigen. Solche Ansagen vom Chef können die Krankheitsrate offenbar um 80 Prozent senken.

Foto: AP

Platz 6: Tasten an Kaffee- und Snackautomaten

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass 79 Prozent der Tasten von Kaffee- oder Snackautomaten verschmutzt sind. 21 Prozent waren sogar mit einer sehr hohen Bakterienzahl befallen. Am besten also immer die Hände waschen, bevor der Schokoriegel aus dem Automaten verputzt wird.

Foto: AP

Platz 5: Tasten und Griffe an Wasserspendern

Viele Mitarbeiter freuen sich, wenn der Arbeitgeber ihnen kostenlos Wasser bereitstellt. Aber Achtung: Viele Griffe und Tasten an Wasserspendern sind voll von Keimen und Schädlingen.

Foto: AP

Platz 4: Kühlschränke

Ausgelaufene Säfte, abgelaufener Joghurt und keiner fühlt sich verantwortlich - der Kühlschrank im Pausenraum ist ein richtiges Nest für Keime. Angestellte sollten ihr Pausenbrot also gut einhüllen, wenn sie es für einige Zeit kalt legen wollen. Gleiche Schmutz-Gefahr gilt übrigens auch für die Kühlschrank-Griffe.

Foto: dpa

Platz 3: Tastaturen

In die Top 3 der dreckigsten Büro-Utensilien hat es die Computertastatur geschafft. Hier ein verschüttetes Glas Cola, da kleine Brotkrümmel vom Mittagessen oder mal kurz drauf genießt - die kleinen Tasten sind übersäht mit Bakterien und sollten regelmäßig gesäubert werden.

Foto: WirtschaftsWoche

Platz 2: Knöpfe an Mikrowellen

Ein großer Schmutzmagnet auf der Arbeit ist auch die Mikrowelle - beliebt, um das Mittagessen in der Pause schnell aufzuwärmen. Auch hier wird gerne vergessen, die Knöpfe mal ordentlich sauber zu machen.

Foto: CLARK/obs

Platz 1: Wasserhähne

Und wo lauern Bakterien naturgemäß am ehesten? Genau, im Badezimmer. 78 Prozent der Arbeitnehmer sagen zwar, sie waschen sich regelmäßig die Hände. Einer von drei Büroangestellten will aber auch schon beobachtet haben, wie ein Kollege ohne die übliche Handwäsche aus der Toilette marschiert ist. Dazu kommt, dass Dutzende Personen am Tag den gleichen Wasserhahn benutzen, und sich der Schmutz so richtig in die Ritzen einfressen kann. Wer sein Glas Wasser im Büro also heimlich vom Hahn abzapft, sollte ein gutes Immunsystem haben.

Foto: dpa

Ausgelöst hat den derzeitigen Hype eine klinische Studie aus den Niederlanden, die Anfang 2013 veröffentlicht wurde. Es war weltweit die erste Studie, in der Ärzte die seit den Fünfzigerjahren beschriebene Methode des Transfers fremdem Stuhls systematisch unter die Lupe nahmen.

Die Forscher wählten dazu Patienten aus, die an einer Infektion mit dem aggressiven Darmkeim Clostridium-difficile litten. Er verursacht schwere Durchfälle und hat sich inzwischen zu einer echten Plage entwickelt. So erfasste das Bundesamt für Statistik 2012 in deutschen Krankenhäusern 28.950 Clostridium-difficile-Infektionen (CDI). 2250 der Patienten starben. 1998, als die Erkrankung erstmals in die Statistik aufgenommen wurde, gab es nur drei Todesfälle.

Bisher bekämpfen die Ärzte den Keim mit einer Reihe von Antibiotika. Doch bei einem Fünftel der Betroffenen kommt der Erreger immer und immer wieder zurück. Ein normales Leben oder eine Berufstätigkeit ist bei zehn bis zwölf Durchfallattacken pro Tag quasi unmöglich.

Genau solche Rückfallpatienten behandelten die Mediziner in Amsterdam mit den Stuhltransplantaten. 15 von 16 Patienten waren den Keim danach los. Doch nur 4 von 13 Patienten in der mit Antibiotika behandelten Vergleichsgruppe wurden kuriert. Die Stuhltherapie war so erfolgreich, dass die behandelnden Ärzte die Studie aus ethischen Gründen abbrachen. Es war den Patienten nicht zuzumuten, auf die so wirksame Stuhltherapie zu verzichten.

Keiner kennt die rechtliche Lage

Auch Kliniken in Bremen, Berlin, Jena, Heidelberg oder Ulm bieten die Therapie neuerdings an. Allerdings nur in Einzelfällen. Denn bisher weiß kein Arzt so recht, wie die rechtliche Lage ist. Auch die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie arbeitet gerade erst daran, Leitlinien für den Umgang mit den Stuhlspenden zu entwerfen.

Angesichts der großen Nachfrage zerbrechen sich auch Experten der deutschen Zulassungsbehörde – des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn – gerade die Köpfe darüber, wie der Einsatz der Methode geregelt und in sichere Bahnen gelenkt werden könnte.

Klarheit will Maria Vehreschild hier schaffen. Sie leitet an der Medizinischen Klinik der Universität Köln die Studien zum Fäkal-Transfer. Sechs Patienten hat sie seither behandelt und dabei gewisse Routinen entwickelt, die in die Leitlinien einfließen sollen. Dabei geht es etwa um die Frage, auf welche Krankheitserreger Spender und Stuhlproben getestet werden müssen. Aber auch darum, ob der gereinigte und verdünnte Stuhl besser über eine Nasensonde, einen Einlauf oder per Magenspiegelung und Dünndarmsonde an Ort und Stelle gebracht wird.

Auch ob Verwandte und Lebenspartner oder professionelle Spender sich besser eignen, will Vehreschild herausfinden. Der Charme der Bekannten-Spende: Je enger Menschen zusammenleben, desto mehr ähnelt die übertragene Darmflora der eigenen. Das Problem ist nur: Die Prozedur ist aufwendig. Viel einfacher und effektiver ist es laut Vehreschild, immer wieder Stuhlproben desselben, bereits auf Erkrankungen durchgecheckten Spenders zu nehmen. Das spart Zeit und Geld.

Langfristig muss aber eine klare Regelung her, sagt die Ärztin, um das Verfahren zu standardisieren und möglicherweise zu einem Fertigprodukt zu kommen.

Daran arbeitet zum Beispiel auch das Forscherteam um Emma Allen-Vercoe an der kanadischen University of Guelph in Ontario. RePOOPulate hat Allen-Vercoe das Projekt der Darm-Wiederbesiedlung genannt. Und sie will ganz weg von der Stuhlspende. Stattdessen strebt sie an, einen ausgewählten gesunden Bakterien-Cocktail im Labor zu züchten und ihn möglicherweise in eine Medikamentenkapsel zu verpacken. Die kann der Patient dann einfach schlucken.

Noch ist das Zukunftsmusik. In den USA hat Mark Smith immerhin schon eine Art Versandhandel namens OpenBiome aufgebaut. Für 250 Dollar können Ärzte dort geprüfte Stuhltransplantate beziehen. Der Mikrobiom-Forscher Smith gründete die gemeinnützige Organisation, nachdem er bei einem Freund miterlebt hatte, wie der nach qualvollen Jahren mit einer chronischen Chlostridien-Infektion endlich durch ein Stuhltransplantat geheilt wurde.

Der Haken ist nur: Die US-Gesundheitsbehörde FDA hat gerade vorgeschlagen, dass Ärzte die Therapie in Zukunft nur noch im Rahmen von genehmigten Studien durchführen dürfen. Dann wäre es für Patienten sehr schwierig, einen Arzt zu finden, der die Therapie einsetzen darf. Daher hat Smith jüngst im renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature“ Alarm geschlagen. Er forderte die Gesundheitsbehörden auf, Patienten den legalen Zugang zu Stuhltransplantaten zu ermöglichen.

Besser keine Selbstversuche

Denn die Tatsache, dass medizinische Laien in ihrer Not zur Selbsthilfe greifen, hält er für sehr riskant. Zwar ist das Prozedere mit YouTube-Videoanleitung vermutlich ganz gut zu beherrschen. Doch diese Transplantate durchlaufen keinerlei Sicherheitscheck. Noch skurriler: Smiths OpenBiome-Stuhl-Bank bekam sogar Anfragen, ob und wie auch der Kot von Haustieren aufzubereiten sei.

Auch in Deutschland ist die Versorgungslage mit heilsamen Darmbakterien noch sehr dünn. Die Therapie komme aber auch nicht für jeden CDI-Patienten infrage, sagt die Kölner Ärztin Vehreschild. Sie setzt erst nach mehreren Rückfällen auf die Neubesiedlung mit fremdem Stuhl.

"Bei Anwendungsfeldern außerhalb der CDI können wir noch nicht sagen, ob die Therapie etwas bringt", bremst sie übertriebene Erwartungen. Aber sie will es gerne erforschen. Vor allem bei anderen Darmerkrankungen – vom Reizdarm bis zu Autoimmunstörungen – sieht sie große Chancen. Für andere Einsatzfelder wie Parkinson, Autismus oder sogar Depressionen wagt Vehreschild noch keine Prognosen. "Wir wissen bisher noch gar nicht, was wir da alles übertragen und welche langfristigen Effekte das hat." Ihr Credo lautet deshalb: "Wir müssen unsere winzigen Mitbewohner noch viel besser erforschen."

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