Regieren nach Zahlen Leben wir bald als Datenprimaten im Großgehege?

Publizist Adrian Lobe über die drohende Planwirtschaft der Daten. Quelle: Getty Images, Illustration: Marcel Stahn & Beate Clever

Seine Daten machen den Menschen berechenbar und unabhängig vom politischen System beherrschbar. Die Explosion der Daten beflügelt Träume von einer Kommandowirtschaft 2.0. Davon dürften vor allem planmäßig agierende Staaten wie China profitieren.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Als Apple 1984 seinen Macintosh auf den Markt brachte, ließ der Konzern einen dystopischen Werbefilm produzieren: In dem Spot marschieren in graue Uniformen gekleidete Männer im Gleichschritt durch ein futuristisches Tunnelsystem in eine Halle, wo eine Big Brothereske Figur aus einem überdimensionierten Bildschirm spricht: „Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte einen Garten reiner Ideologie geschaffen.“ Während der Große Bruder die „Vereinheitlichung der Gedanken“ proklamiert, rennt eine namenlose Heldin in die Versammlung und schleudert einen Vorschlaghammer in den Bildschirm. Der Clip endet mit dem Satz: „Sie werden sehen, warum 1984 nicht wie ‚1984‘ sein wird.“

Der legendäre Werbefilm, eine Anspielung an George Orwells Roman „1984“, ist so etwas wie die Ikonografie des Informationszeitalters, ein Neo-Noir-Film in der Tradition von „Metropolis“ und „Blade Runner“: düster, schaurig, abgründig. Das zentrale, in der kalifornischen Gegenkultur wurzelnde Motiv ist die Zerstörung von Totalitarismen (mit dem Hammerwurf symbolisch besiegelt), die Emanzipation von politischen Ideologien und – hier deutet sich bereits die Verschwisterung von politischen und wirtschaftlichen Zielen an – die Ermächtigung des Einzelnen durch den Personal Computer.

Wenn man sich den Werbespot mit dem zeitlichen Abstand von 35 Jahren nochmals ansieht, muss man feststellen, dass wir mit dem Siegeszug des Computers einer Überwachungskultur viel näher kommen als den Vorstellungen der Digital-Utopisten, die von einer Cyberagora nach dem Vorbild der griechischen Polis träumten: Die chinesische Staatsführung werkelt an einer computergestützten Diktatur, die mit der Einführung eines Sozialkreditsystems zementiert wird. Und in westlichen Industrienationen überwachen sich die Bürger selbst mit Smartphones, Fitnesstrackern oder Netzwerklautsprechern, als schicke Designergeräte camouflierte Wanzen, die, wie man mittlerweile weiß, ihre Nutzer abhören.

Techkonzerne wie Apple, Amazon und Google ließen Mitarbeiter reihenweise Audiomitschnitte ihrer Nutzer auswerten – angeblich aus Gründen der Qualitätsverbesserung. Patientengespräche, Drogengeschäfte, sexuelle Kontakte – minutiös wurde das Leben der anderen protokolliert. Wenn man sich vor dem Hintergrund dieser Geschichten den Apple-Spot anschaut, wirkt dieser wie eine Farce, eine unfreiwillige Persiflage der eigenen Spionagepraktiken. Dieses Stasi-hafte Einbrechen von Überwachungstechniken in die Architektur des liberalen Verfassungsstaates, die mit einer Rhetorik des „Digital Wellbeing“ verklärt wird, ist bloß das Oberflächenphänomen einer zunehmenden Quantifizierung des Sozialen, die sich in den opaken Maschinenräumen der Techkonzerne abspielt.

Google registriert pro Tag 3,5 Milliarden Suchanfragen, Apple zählt die Schritte und den Herzschlag von 900 Millionen Nutzern auf der Welt, und Facebook vermisst die Gesichter von mehr als zwei Milliarden Menschen. Die digitalen Apparaturen erlauben ein Echtzeitmonitoring der Gesellschaft durchzuführen und den Puls der Menschen zu fühlen. Wonach wird gerade gesucht? Wo ist die Herzfrequenz tagsüber am höchsten? Wo wird im Durchschnitt besonders viel, wo besonders wenig geschlafen? Wo gehen die Nutzer besonders wenig? Eine so hochauflösende Sicht auf den Gesellschaftskörper hatte bislang weder ein Staat noch ein privater Akteur. Der Sozialstatistiker Adolphe Quetelet, der im 19. Jahrhundert durch Messreihen wie etwa Geburten- und Sterberaten ein Bild vom homme moyen abzuleiten versuchte, hätte von digitalen Erhebungstechniken nur träumen können.

Techkonzerne wissen alles: wo man wohnt, was man sucht, worüber man redet, welche Restaurants gerade voll sind, welche Produkte zur Stunde nachgefragt werden. Amazon hat 2014 ein Patent für ein Vorbestellsystem („anticipatory shipping“) angemeldet, bei dem Waren in jene Regionen verfrachtet werden, wo sie noch gar nicht bestellt wurden. Amazon weiß schon, was die Leute brauchen. Und wollen. Was die Planer in den Ostblockstaaten nicht schafften, könnte nun ausgerechnet dem Klassenfeind Amazon mit seinen prädiktiven Algorithmen gelingen. Welch Ironie und Dialektik der Geschichte!

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%