Entwicklung ländlicher Räume Und das Dorf stirbt doch nicht

Knackpunkt Mobilität: Dörfer, die noch über öffentlichen Nahverkehr verfügen, sind klar im Vorteil Quelle: imago images

Nicht erst seit den neuesten AfD-Erfolgen gilt der ländliche Raum vor allem als Problemfall. Warum das zu kurz greift und was Gemeinden erfolgreich macht, erklärt Forscherin Annett Steinführer.

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Annett Steinführer forscht am Thünen-Institut für Ländliche Räume zu Lebensverhältnissen, Ressourcennutzung und Wanderungsbewegungen.

Die AfD hat, wie erwartet, bei den Landtagswahlen im Osten triumphiert und schon schreiben alle wieder die Verantwortung dem ländlichen Raum zu. Hat der ländliche Raum ein Problem?
Nein. Allein in dieser Begrifflichkeit steckt eine Wertung, die so nicht stimmt. Zunächst sollte man immer vom Plural sprechen, von den ländlichen Räumen. Es gibt eine solche Vielfalt in Deutschland, sowohl problematische als auch boomende Regionen. Und gerade bei den boomenden entstehen ja auch Probleme. Wenn ich mir das Umland von München anschaue, frage ich mich schon: Ist so etwas denn erstrebenswert? Dass die Dörfer aus den Nähten platzen und die Immobilienpreise explodieren? Ist das Lebensqualität?

Deutlich häufiger sind jedoch ländliche Gemeinden, die an Bevölkerung verlieren.
Das stimmt, seit Jahrzehnten sehen wir bei den meisten ländlichen Räumen, insbesondere in Ostdeutschland, aber auch in anderen strukturschwachen Regionen, dass die Abwanderung überwiegt. Das hat sich in den letzten Jahren jedoch verändert, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Wir haben in vielen Dörfern und Kleinstädten nach wie vor eine starke Abwanderung, aber wir haben auch eine starke Zuwanderung. Bei kleinen Dörfern können ja ein paar Leute schon ganz viel ausmachen. Dass viele weiterhin an Bevölkerung verlieren, liegt fast ausschließlich an der negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung.

Die Dörfer sterben im wahrsten Sinne des Wortes aus.
Ja, mehr Menschen sterben, als geboren werden. Aber ganze Dörfer sterben so ohne weiteres nicht.

Was können die Gemeinden tun, um sich zu verjüngen?
Ein klassisches Mittel ist die Baulandausweisung, wenn die Orte das denn dürfen. Das ist eins der wenigen Instrumente, mit denen die Kommune vor Ort selbst etwas ändern kann. Und es ist natürlich gerade in Situationen wie jetzt attraktiv, wo die Großstädte aus allen Nähten platzen. Aber das hat Folgewirkungen. Wenn die Zahl der Einwohner wächst, brauche ich eine Folgeinfrastruktur. In der Regel werben die Kommunen ja besonders um junge Familien. Die brauchen einen Kindergarten, eine Schule, Straßen, Nahverkehr. Das kann sich jedoch langfristig ändern. Vielleicht brauche ich in 20 Jahren die gerade gebauten Kindergärten gar nicht mehr. So etwas mussten viele Kleinstädte in den letzten Jahren erleben.

Stattdessen braucht es dann eher Seniorenbetreuung.
Es gibt sogar Orte, die das seit langem machen und sich gezielt an Senioren wenden, Bad Habsburg etwa. Das sieht man da sogar im Straßenbild, so dominiert ist das von hochbetagten Menschen. Ob das eine gute Strategie ist, mag jeder für sich entscheiden. Es hat jedenfalls dazu geführt, dass die Einwohnerzahlen wieder steigen oder sich trotz der negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung stabilisieren.

Ist das ein neues Phänomen?
Wir beobachten das nicht nur als Wohlstandswanderung, so wie früher: an die Küste oder ins Alpenvorland, wo es schön ist, aber nur von denen, die es sich leisten können. Sondern eben vermehrt auch in schrumpfenden Regionen, da allerdings als oft auch unfreiwillige Abwanderung. Viele wollen nicht vom Dorf weg, aber müssen es. Weil der Bus dort nur einmal am Tag fährt und in den Schulferien gar nicht. In den regionalen Zentren ist die Infrastruktur besser.

Es gibt Studien, die fordern, die Dörfer ganz aufzugeben und Investitionen auf die Klein- und Mittelzentren zu konzentrieren, also etwa die Kreisstädte.
Ich würde nicht von Aufgeben sprechen, aber viele Dörfer werden seit langem auf eine Wohnfunktion reduziert. Dahinter steckt aber nicht immer gezieltes planerisches Handeln, sondern es ist die Summe aus ganz vielen ganz unterschiedlichen Entscheidungen. Von Bürgern, Wirtschaft, Politik.

Inwieweit können die Menschen vor Ort überhaupt beeinflussen, wie gut es ihrem Dorf geht?
Man braucht eine Verwaltung, die eine Vision verfolgt und nicht nur Dienst nach Vorschrift macht. Doch viele Dörfer sind gar nicht mehr selbstständig. So hat zum Beispiel Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren riesige Einheitsgemeinden geschaffen, die sind zum Teil von ihrer Fläche her so groß wie Berlin oder Hamburg. In westlichen Bundesländern ist das vielerorts bereits in den 1970er Jahren erfolgt. Was ein ehrenamtlicher Dorfbürgermeister da bewegen kann, ist extrem gering. Viele Dörfer haben ja noch nicht einmal eigene Einnahmen. Natürlich kann man auch auf dieser Ebene etwas gestalten, aber nur dann, wenn die Kommunen genügend finanziellen Spielraum haben.

Daran dürfte es bei den meisten scheitern.
Das stimmt. Und es ist besonders schwer, dagegen anzukämpfen, weil das oft strukturelle Probleme sind, die über Jahrzehnte gewachsen sind. Kommunale Selbstverwaltung ist zwar in Deutschland ein sehr hochgehaltener Wert. Er scheitert jedoch in der Praxis daran, dass viele Städte und Gemeinden gar nicht handlungsfähig sind, weil all das, was Lebensqualität vor Ort ausmacht, unter die sogenannten freiwilligen Aufgaben der Kommunen fällt. Und wenn die verschuldet sind, muss an genau dieser Stelle gespart werden. Jugendarbeit, Seniorenangebote, manchmal sogar funktionierende Straßenlaternen.

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Wie kann das geändert werden?
In manchen Bundesländern gab beziehungsweise gibt es Entschuldungs- oder Konsolidierungsfonds, um den Kommunen Anreize und überhaupt die Gelegenheit zu geben, wieder handlungsfähig zu werden. Oft ist der Spielraum jedoch gering. Das beklagen auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister immer wieder. Die haben oft sehr viele Ideen, doch selbst wenn sie gute Wirtschaftsdaten haben, kommen sie aus dem strukturellen Defizit nicht heraus.

Was ist Ihr Vorschlag? Sollte man entschulden?
Der entscheidende Punkt ist, die kommunale Ebene zu stärken, damit sie selbstständig handeln kann. Und das geht nur über finanziellen Spielraum. Dann könnten sich viele Städte und Gemeinden noch viel, viel besser entwickeln.

Was ist mit den Bürgern, wie wichtig sind die für Erfolg oder Misserfolg?
Sehr wichtig. In den Dörfern gibt es ein anderes Verständnis von aktiver Bürgerschaft – wenn auch nicht in jedem Dorf. Mir hat mal eine Bewohnerin eines ziemlich kleinen Dorfes gesagt: In der Stadt kann ich mich zurücklehnen, da passiert auch ohne mich genug. Aber wenn ich in meinem Dorf nicht anpacke, dann findet das Dorffest eben nicht statt oder das Heimatmuseum schließt.

Es gibt aber auch Dörfer, wo sich niemand berufen fühlt, aktiv zu werden. Woran liegt das?
Ja, es gibt Dörfer, die haben sich in einer Negativ-Spirale eingerichtet. Das sind aber gar nicht so viele. Und bei den anderen mit ihren Initiativen wie etwa Dorfläden muss man auch erst schauen, was davon langfristig überlebt. Am Anfang ist das Engagement oft groß, aber die Leute müssen langfristig dort einkaufen, damit sich ein solcher Laden halten kann.

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