25 Jahre Mauerfall Ein Grenzoffizier erinnert sich

Wer ist jener Grenzoffizier, der im Sommer 1989 entschied, DDR-Flüchtlinge aus Ungarn in den Westen passieren zu lassen? Oberstleutnant Bella ist ein penibler Beamter, aber mit dem Herz am richtigen Fleck.

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So oder so ähnlich sah die innerdeutsche Grenze aus: Stacheldraht auf einer Mauer der Justizvollzugsanstalt (JVA) Landsberg. Quelle: dpa

Csapod Die Dienstvorschriften sind seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gültig, dennoch machen sie dem Oberstleutnant im Ruhestand Arpad Bella noch heute zu schaffen. Der rüstige, hochgewachsene 69-Jährige sitzt in seiner Küche in einem Bauernhaus im Dorf Csapod am Computer. Er klickt den Scan eines Dokuments an, das er aus einem Budapester Archiv ausgegraben hat. „Sehen Sie? Hier steht es geschrieben. Eigentlich hätte ich schießen müssen.“

Bella hat aber nicht geschossen an jenem 19. August 1989 in Sopronpuszta, als Massen von DDR-Flüchtlingen beim „Paneuropäischen Picknick“ das Grenztor nach Österreich aufdrückten und so in den Westen flohen. Dafür, dass er damals seine Dienstvorschriften missachtete und somit Gewalt, Massenpanik und vielleicht noch Schlimmeres verhinderte, hat Bella das Bundesverdienstkreuz, den ungarischen Staatsorden und viele andere Anerkennungen bekommen.

Dennoch kommt die Vergangenheit nicht zur Ruhe. Vereine heutiger Grenzschützer und manche oppositionelle Aktivisten von damals werfen Bella vor, dass er sich unverdient als Held aufspiele, weil es zu dem Zeitpunkt in Ungarn gar keinen Schießbefehl mehr gegeben habe. Aus den Dokumenten in Bellas Computer geht hervor, dass Ungarn kommunistisches Regime die Regelung zwar nicht ganz abgeschafft, aber gemildert hatte.

Demnach galt damals, dass ein Grenzoffizier von der Schusswaffe Gebrauch machen darf, wenn er selbst tätlich angegriffen oder an der Ausübung seines Dienstes gehindert wurde. Es klingt sehr interpretierbar. Zudem ist bis heute unklar, wer von den damals in Ungarn Verantwortlichen wie viel über den Gang der Dinge wusste. Bella hatte nur zwei Tage vor dem „Paneuropäischen Picknick“ vom Budapester Innenministerium ein eher vages Telegramm bekommen, in dem auf mögliche Grenzverletzungen hingewiesen und Umsicht angemahnt wurde.

In dem Augenblick aber, als völlig überraschend die DDR-Flüchtlinge zu Hunderten die Grenze stürmten, war für Bella klar: „Gegen eine solche Masse kann man nichts ausrichten. Es hätte ein Unglück gegeben, wenn wir eingeschritten wären“ - Vorschrift hin oder her. „Als der Ansturm auf uns zukam, hat der Hansi von drüben noch gerufen 'Hast du einen Vogel?'“, erzählt Bella. „Hansi“ ist Bellas damaliger österreichischer Kollege, Johann Göltl. Die beiden kannten sich zu dem Zeitpunkt schon seit mehr als zehn Jahren durch die dienstlichen Kontakte. Sie waren längst Duzfreunde geworden. Dennoch war Göltl damals davon überzeugt, dass Bella vorab über den bevorstehenden Massenansturm der DDR-Flüchtlinge Bescheid gewusst und nur ihn nicht informiert habe.

Bella hatte wegen seines Verhaltens damals zunächst Probleme mit seinen Vorgesetzten, die ein Verfahren gegen ihn einleiteten. Es wurmt Bella heute noch, dass dieses ohne Ergebnis einfach eingestellt wurde - er hätte gerne eine dienstliche Bestätigung gehabt, dass er korrekt gehandelt habe. „Ich habe meinen Beruf gemocht“, erzählt Bella, „aber nicht seine gewaltsame Seite. Ich habe gerne Pässe kontrolliert und das Land repräsentiert.“ Dem kommunistischen Regime habe er sich nur insofern gebeugt, als er aus Karrieregründen gleich nach Abschluss seiner Ausbildung in die KP eingetreten ist. Er ist ein Mann, der im richtigen Moment das Herz auf dem richtigen Fleck hatte. 

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