Atomkatastrophe in Japan Die Angst sitzt unter der Haut

Die dramatische Lage in Fukushima ist Alltag, selbst die Japaner kehren zur Normalität zurück – so sieht es für das Ausland aus. Doch im Land ist die Krise allgegenwärtig. Unter der Oberfläche herrschen Sorge und Angst.

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Stumme Trauer, fast heimliche Angst: Japan kehrt nur notgedrungen zur Normalität zurück. Quelle: handelsblatt.com

Der Shopping-Tempel ist gut besucht. Es ist Dienstagvormittag, eine kühle Frühlingsbrise treibt die Kunden in das Innere von Daimaru, einem großen Kaufhaus in Osaka. Es sind überwiegend Frauen, die da an Handtaschen, Sonnenbrillen und anderen Accessoires vorbeischlendern. Die Stimmung ist heiter, entspannt.

Japan, als sei nichts passiert, so wie immer - konsumfreudig, höflich, einladend glitzernd und emsig. Doch eine einziger Satz kann in diesen Tagen den Schleier der vorgetäuschten Normalität lüften: „Hier in Osaka ist man doch ziemlich sicher“, sage ich leichten Herzens zu der Verkäuferin in der Abteilung für Herrenbekleidung. „Hm, ja vielleicht“, entgegnet sie zögernd. „Aber der Wind“.

Was der Wind mit sich trägt, dass kann man nicht sehen. Und deshalb fürchten die Japaner ihn, selbst hier, in Osaka. Bringt er radioaktive Partikel mit in ihre Stadt, aus dem 700 Kilometer entfernten Fukushima? Dort wo Regierung und die Betreibergesellschaft Tepco noch immer gegen den atomaren Gau im havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ankämpfen? Wind und Regen sind keine Gefahr, sagen alle Experten, sagt die Regierung, sagt auch Tepco. Aber Japans Bürger haben aufgehört, daran zu glauben. Sie machen weiter, weil ihr Leben weitergehen muss. Die Krise aber ist nicht kleiner geworden, Angst und Misstrauen sind geblieben.

Über einen Monat ist es jetzt her, das große Erdbeben vom 11. März, das im Nordosten Japans einen Tsunami von ungeheuren Ausmaßen auslöste. Vielen tausend Menschen brachte er den Tod, Hunderttausende machte er obdachlos und das Atomkraftwerk Fukushima eins ist seither derart beschädigt, dass die ausgetretene Radioaktivität Landstriche, Meer- und zeitweilige Trinkwasser und wohl auch Menschen verseuchte. Über 13.000 Tote sind mittlerweile gefunden worden, die Zahl der Vermissten ist noch höher. Am Ende wird die Zahl der Todesopfer wahrscheinlich bei rund 30.000 liegen.

In den Notunterkünften in den betroffenen Regionen, wo der Tsunami ganze Städte wegschwemmte, leben noch Hunderttausende dicht gedrängt, die Zustände bessern sich dort nur langsam. Starben einige Menschen am Anfang an ihren Verletzungen oder daran, dass sie aufgrund fehlender Privatheit der Sanitäranlagen nichts mehr tranken, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen, sterben sie nun teilweise an Lungenentzündungen, da in ihre Lungen völlig verdrecktes Meerwasser geriet – und es an Medikamenten noch immer mangelt.

Hinzu kommt das Stigma der möglichen radioaktiven Verstrahlung. Das trifft nicht mehr nur Gemüse, Reis und Fisch aus den 12 Regionen, die um die Unglücksstelle herum liegen. Die ansässigen Landwirte und Fischer sind wahrscheinlich für immer ihrer Existenz beraubt. Es trifft auch die Bewohner der Notlager. Erst kürzlich wurde ein kleines Mädchen nicht in eine Notunterkunft gelassen, weil sie keine Zertifikat vorweisen konnte, das sie als strahlenfrei auswies. Das Mädchen wollte in der Unterkunft einen Arzt aufsuchen. Die Behörden geben diese Zertifikate aus, obwohl sie unter Experten umstritten sind. Tatsächlich ist eine direkte „Ansteckung“ mit Strahlung kaum möglich – Radioaktivität kann allenfalls über die Kleidung mittransportiert werden.

Die psychischen Schäden werden deutlich

Langsam werden zudem nun die psychischen Schäden offensichtlich, die die Opfer der Katastrophe davon getragen haben. In den Unterkünften jammern viele im Schlaf, sie unterdrücken ihren Kummer, um der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen. Eine Situation mit großer Sprengkraft, sagen Psychologen. „Ich habe meinen Vater verloren, mein Haustier, mein Auto, meine Ersparnisse“, sagt der 45-jährige Kenichi Endo der „Japan Times“.  Aber er könne nicht weinen, denn jedem in seiner Unterkunft sei es ähnlich ergangen. „Wenn ich weine, wird das hier jeder tun, also kann ich nicht.“

Die Situation in Japan nach dem Erdbeben ist noch immer schrecklich und mitleiderregend. In den ausländischen Presse aber ist das Interesse an Japan merklich abgeflaut. Nur selten flackern noch die mit dem Japan-Erdbeben populär gewordenen Live-Ticker der Online-Medien auf – zuletzt, als Tokio in der letzten Woche von einem schweren Nachbeben erschüttert wurde und es zu einer kurzzeitigen Tsunami-Warnung kam. Dabei wackelt in Japan weiter beständig die Erde. Rund 500 Nachbeben hat es seit dem 11. März bereits gegeben, Geologen gehen davon aus, dass die Erde frühestens in einem halben Jahr zur Ruhe kommt.

Wenn Japan für das Ausland interessant bleibt, dann steht vor allem Tokio im Mittelpunkt – nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen. Immerhin übersteigt das Bruttoinlandsprodukt der Metropole das von ganz Australien. Die meisten ausländischen Unternehmen in Japan haben dort ihre Niederlassung. Einige Ausländer sind mittlerweile auch wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Viele Unternehmen, gerade auch die nicht heimischen, wollen zum „Business as usual“ zurück.

Tokio aber ist noch weit von Normalität entfernt. Zwar erscheint das Leben dort auf den ersten Blick wie üblich abzulaufen. Menschen hasten mit der U-Bahn an ihre Arbeitsplätze und zurück nach Hause. Aber den meisten bleibt auch gar nichts anderes übrig, wollen sie ihren Arbeitsplatz nicht aufs Spiel setzen. Ein japanischer Freund erzählt, dass in den Unternehmen durchaus auch Druck aufgebaut wird, die Rückkehr zur Normalität des Arbeitsalltags auch als Dienst an der japanischen Gesellschaft zu betrachten.

Noch immer aber wird in der Metropole Strom gespart, sind die Kneipen und Restaurants leer und die früher so hell erleuchteten Ausgeh- und Einkaufsviertel teilweise gespenstisch dunkel. Und noch immer gibt es beängstigende Nachbeben und Versorgungsengpässe. So können Familien in vielen Stadtteilen etwa weiterhin nur maximal zwei Liter Wasser am Tag in den Supermärkten kaufen. Sie tun das vor allem auch deshalb, weil die Angst vor radioaktiv verseuchtem Trinkwasser nicht weg ist - auch wenn Experten dem Leitungswasser  wieder Trinkqualität bescheinigen.

Regierung und Tepco haben Vertrauen verspielt

Doch den vielen Experten, kommen sie nun von Tepco oder der Regierung, glaubt in Japan kaum noch jemand. In einer Umfrage der großen Zeitungen „Asahi“, „Manichi“ und „Nikkei“ zeigten sich mehr als zwei Drittel der japanischen Bürger mit dem Krisenmanagement der Männer um Premier Naoto Kan unzufrieden. „Tepco kann man nicht trauen“, schimpfte kürzlich ein 53-Jähriger selbstständiger Unternehmer stellvertretend für viele Menschen auch über den Kraftwerksbetreiber.

Daran ändert auch der neue Zeitplan von Tepco nichts. Der Konzern hat am Montag einen Plan vorgelegt, wonach er in neun Monaten das Kraftwerk in Fukushima Daiichi unschädlich gemacht haben will. „Unseriös“, nennen viele Kritiker diesen Plan – es gibt zu viele Unwägbarkeiten. „Das einzige, was im Moment klar ist, ist, dass weiter Radioaktivität austritt“, sagt Christoph von Lieven von der Umweltschutzorganisation Greenpeace.

Tatsächlich wurden durch einen Roboter in den Reaktorblöcken 1 und 3 wieder erhöhte Strahlungswerte gemessen, die so hoch sind, dass die Arbeiter von Tepco diese Gebäude erst einmal nicht betreten dürfen. Sie würden innerhalb einer Stunde ein Fünftel der Strahlendosis abbekommen, der sie maximal in einem Jahr ausgesetzt sein dürfen.

Und auch die Gefahr eines großen Bebens, das alle schönen Pläne durcheinander wirbeln könnte, ist keineswegs gebannt. Das Meteorologische Institut Japans warnt vor weiteren schlimmen Erdstößen. Experten diskutieren, wo es statt finden könnte und welche Schäden es anrichten kann. Sollte es Fukushima treffen, könnte das noch einmal alles auf Null setzen – würde dadurch etwa das Atomkraftwerk erneut erheblich, möglicherweise sogar unbeherrschbar beschädigt. Spätestens dann wäre Japan auch in der ausländischen Presse wieder in den Schlagzeilen.

„Sie kommen aus Tokio?“, fragt die Verkäuferin in der Herrenabteilung von Daimaru. „Abunai“– das ist gefährlich dort, sagt sie. Es gibt Katastrophenszenarien über ein großes Beben in Tokio, mein Stadtteil ist danach besonders brandanfällig - zu viele Holzhäuser. 

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