Berufsbezogene Impfpflicht Bringt die Impfpflicht in der Pflege den „Pflexit“ des Personals?

Verschärft eine berufsbezogene Impfpflicht den Personalmangel in der Pflege? Quelle: dpa

Viele Unternehmen befürchten, dass Pflegekräfte jetzt vor der verpflichtenden Spritze gegen Corona flüchten. Doch Daten der Jobportale zeichnen ein anderes Bild. Und dann sind da noch all die Fake-Stellengesuche.

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Für manche vom Fachkräftemangel gebeutelte Branchen reicht das klassische Vokabular nicht mehr aus. Bei der Jobplattform Stepstone sprechen sie schon von „Arbeiterlosigkeit“ statt Arbeitslosigkeit, die in der Pflege herrsche. „Viele Menschen hinterfragen ihren Job und suchen nach besseren Jobmöglichkeiten“, sagt Sebastian Dettmers, Chef von Stepstone. Die ohnehin schon raren Pflegekräfte sind also auch noch besonders wechselwillig. Das Phänomen des kollektiven Ausstieg aus der Pflege machte in den vergangenen Monaten auch als „Pflexit“ Schlagzeilen.

Glaubt man jüngsten Aussagen von Arbeitgebern und ihren Verbänden, dann könnte dieser Pflexit nun Realität werden – mit existenziellen Folgen. Für Pflegebedürftige. Und für die Branche. Denn mit der Impfpflicht, die für Alten- und Krankenpfleger, die Intensivpflegerin und den Arzthelfer ab Mitte März gilt, steigt die Sorge, die Pflege schlichtweg nicht mehr stemmen zu können. Im sächsischen Bautzen kündigte der Vize-Landrat sogar Anfang der Woche an, den Mitarbeitern „in der Pflege und im medizinischen Bereich kein Berufsverbot“ auszusprechen und sich so gegen die Impfpflicht aufzulehnen. Und am vergangenen Wochenende füllten Annoncen angeblich ungeimpfter Krankenschwestern und Arzthelferinnen die Stellenanzeigenseiten in mehren Lokalzeitungen. 

Bei vielen Annoncen scheint es sich um eine koordinierte Aktion von Impfgegnern zu handeln, also um Fake-Stellengesuche. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg berichtete etwa darüber, dass viele Telefonnummern in den Anzeigen ins Leere führten. Und es gibt weitere Anzeichen, dass die anstehende Impfpflicht keinesfalls das größte Problem der Pflegebranche ist.

Die Jobbörse Indeed widmete sich in einer Sonderauswertung zuletzt Ausschreibungen von Arbeitgebern, die ganz gezielt nach ungeimpftem Personal suchten: Am 24. Januar waren demnach deutschlandweit nur 17 Stellenanzeigen online, „die sich ausdrücklich auch an Ungeimpfte wenden. Fünf der 17 Ausschreibungen stammen von einem Pflegedienst in Nordbayern“, heißt es bei Indeed. Kaum Angebot und kaum Nachfrage also. Das Unternehmen kommt zu dem Schluss: „Die näher rückende Impfpflicht scheint nicht wirklich einen Effekt auf die Jobsuche zu haben.“

Der WirtschaftsWoche liegen andere Zahlen von Stepstone und Indeed exklusiv vor, die ebenfalls keinen Anlass für Panik liefern: Zwar schreiben die Portale seit Jahren im Trend immer mehr Stellen in der Pflege aus. Diesen Anstieg verzeichnen sie jedoch nicht erst seit der Pandemie und nicht erst seit dem Beschluss über die berufsbezogene Impfpflicht: Bei Stepstone schrieben Unternehmen etwa im vergangenen Dezember 88 Prozent mehr Stellen aus als noch zu Zeiten des ersten Lockdowns, im April 2020. Über alle Branchen hinweg lag dieser Wert sogar bei 92 Prozent. Und aktuell sieht das Unternehmen in der Pflege bislang „keinen überproportionalen Anstieg an Jobausschreibungen“.

Dazu passen die Daten von Indeed. Sie zeichnen die Zu- und Abnahme der Stellenanzeigen während der gesamten Pandemie nach (siehe Grafik). Ausgehend vom 1. Februar 2020 zeigen die Werte für jeden Tag, wie stark die Anzahl der ausgeschriebenen Stellen in der Pflege zugelegt hat. Dazu nutzt Indeed als Jobsuchmaschine neben den Stellen, die Unternehmen direkt auf dem Portal ausschreiben, etwa auch Stellen, die Unternehmen lediglich auf ihren eigenen Karriereseiten veröffentlichen. Der Anstieg fällt nicht ganz so steil aus wie bei Stepstone. Doch auch bei Indeed spitzte sich der Personalmangel in der Pflege ab Mitte Mai 2020 nach einem ersten Coronaschock immer stärker zu.



Demnach waren auch in den vergangenen Tagen wieder mehr Stellen in der Pflege ausgeschrieben. Im Vergleich zum Februar 2020 waren es zuletzt gut 50 Prozent mehr. Allerdings: Dieser Wert ist weit entfernt vom Höchststand. Am 30. Oktober 2021, also noch deutlich vor der Entscheidung über die berufsbezogene Impfpflicht, waren sogar fast 60 Prozent mehr Pflegeberufe ausgeschrieben als noch im Februar 2020. Im Gegenzug stieg die Aktivität von Jobsuchenden im Pflegebereich auf der Plattform nicht annähernd in ähnlichem Maß an. Im Gegenteil: Ende 2021 lag das Suchvolumen in der Pflege 18 Prozent unter dem von Februar 2020. Im Oktober 2020 fiel das Suchvolumen sogar 42 Prozent geringer aus als noch zu Beginn der Coronapandemie. 

Annina Hering, Ökonomin bei Indeed, sagt deshalb: „Die Konkurrenz um die vorhanden Pflegefachkräfte wird steigen und Arbeitgeber müssen umdenken.“ Es brauche bessere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen. „Eine Stärkung der Wertschätzung und des Images ist nicht nur zentral, um die Beschäftigten zu halten, sondern auch dringend erforderlich, um junge Berufstätige für eine Ausbildung zu begeistern“, betont Hering. 



Tatsächlich zeigen auch Zahlen von Stepstone, dass 42 Prozent der Personen, die in der Pflege arbeiten, gerade einen neuen Job suchen. 43 Prozent der Befragten sind im Job unzufrieden. Der populärste Grund für die Wechselwilligkeit ist demnach das Gehalt (64,6 Prozent), gefolgt von Führungsstil (47,7) und den Aufgaben (45,6).

Zumindest beim Gehalt tut sich aktuell etwas: Zum 1. April steigt der Mindestlohn für Pflegekräfte von 15 Euro auf 15,40 Euro. Die Pflege-Mindestlohnkommission soll gerade „intensiv“ an Empfehlungen zur weiteren Erhöhung der Löhne arbeiten, kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil in dieser Woche bei einer Rede auf dem „Kongress Pflege 2022“ des Springer Medizin Verlags an. Und ab dem 1. September sollen nur noch Einrichtungen aus der Langzeitpflege zur Versorgung zugelassen werden, in denen die Beschäftigten mindestens den Tariflohn erhalten. Dazu hatten Arbeitsministerium und Gesundheitsministerium erst am Freitag neue Richtlinien genehmigt.

Mehr zum Thema: Seit Jahren fehlt es in der Pflege an Personal. Warum sich das Problem in Zukunft noch verstärken dürfte, was das mit der Corona-Pandemie zu tun hat – und was sich ändern müsste, um den Trend aufzuhalten.

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