Im Mittelalter gerieten die gastrosophischen Klassiker in Vergessenheit – bis sie im 18. und 19. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsche und Ludwig Feuerbach wiederentdeckt wurden. Von Feuerbach sind eine ganze Reihe gastrosophischer Kalendersprüche überliefert: „Der Mensch ist, was er isst“ zum Beispiel oder auch: „Wer die Welt verändern will, muss bei der Speisekarte anfangen“.
Auf den Begriff gebracht aber hat die genussvolle Verbindung von Essen und Denken ein anderer kluger Feinschmecker: der deutsche Schriftsteller Eugen von Vaerst. Er setzte 1851 erstmals die altgriechischen Wörter sophos (Weisheit) und gaster (Magen) zusammen und definierte Gastrosophie als Lehre von den Freuden der Tafel und der Ästhetik der Esskunst, vom Benehmen bei Tisch, aber auch von der Gartenkultur. Heute wird der Begriff semantisch enger, moralischer gefasst.
Phänomene wie Massentierhaltung und Gengemüse bestimmen die gastrosophischen Debatten im Jahr 2016: Wie können wir acht, neun, zehn Milliarden Menschen ethisch zumutbar ernähren? Wie viel gentechnische Unterstützung benötigen wir dabei? Wie viel Bio ist möglich und nötig? Wie sieht die Ökobilanz einer Flugananas aus? Darf ein Schweineschnitzel weniger kosten als Hofgemüse?
Die Deutschen stehen auf Wurst und Fleisch
Für viele Deutsche ist ein Frühstück ohne Wurst kaum vorstellbar. Eine repräsentative Befragung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat ergeben, dass 85 Prozent aller Deutschen den Verzehr von Fleisch und Wurst als „selbstverständlich und naturbewusst“ ansehen. 83 Prozent der Befragten wollen unter keinen Umständen auf den Verzehr von Fleisch und Wurstwaren verzichten.
Die Studie zeigt, dass jeder zweite Deutsche zumindest einmal am Tag Wurst oder Fleisch verzehrt. Ein Viertel der Befragten hat ein schlechtes Gewissen, wenn er an die geschlachteten Tiere denkt. Knapp 42 Prozent achten beim Fleischeinkauf jedoch insbesondere auf einen möglichst günstigen Preis.
Über 80 Prozent der Befragten essen gerne gegrilltes Fleisch und gegrillte Würstchen. Das Grillen ist eines der beliebtesten Hobbys der Deutschen und ganz klar eine Männerdomäne. Sechs von zehn Befragten sind der Meinung, dass „Männer einfach mehr Fleisch zum Essen brauchen als Frauen.“ Frauen sind hingegen weniger häufig bedingungslose Fleischesser. Sie haben nicht nur häufiger gesundheitliche Bedenken beim Fleischkonsum, sie achten auch eher auf die Herkunft des Fleisches.
Nur etwas mehr als jeder Dritte (36 Prozent der Befragten) gab an, beim Fleischkonsum vorsichtiger geworden zu sein. Die Fleischskandale der vergangenen Jahre haben zu einem Umdenken bei vielen Fleischkonsumenten geführt: Ein Drittel der Studienteilnehmer sagt, dass eine vegetarische Ernährung gesünder sei. Außerdem könne der Verzicht auf Fleisch Gesundheitsrisiken vorbeugen.
Während sich ein Großteil der Befragten beim Fleischkonsum mit gesundheitlichen Risiken konfrontiert sieht, verzichten nur 15 Prozent generell auf Fleisch. Lediglich drei Prozent gaben an, sich ausschließlich vegetarisch zu ernähren. Zwölf Prozent der Befragten kaufen ausschließlich Bio-Fleisch. Allerdings legen 65 Prozent der Befragten laut der Studie keinen besonderen Wert auf die artgerechte Haltung der Tiere.
Doch nach Meinung vieler Befragter ist Fleisch nicht gleich Fleisch: 58 Prozent der Befragten gaben an, Geflügel – sogenanntes „weißes Fleisch“– sei gesünder als „rotes Fleisch“ von Rind oder Schwein. Doch die Geflügelskandale der vergangenen Jahre beunruhigen die deutschen Fleischkonsumenten. 29 Prozent kaufen ihr Fleisch deshalb direkt bei Bauern oder Erzeugern.
Fleischkonsum als Gruppenzwang? Knapp 19 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, weniger Fleisch und Wurst einkaufen zu wollen, Familie oder Partner wollten aber nicht auf Fleisch verzichten. Insbesondere Frauen haben ein ambivalentes Verhältnis zum Fleischkonsum. Ein Viertel der weiblichen Studienteilnehmer gab an, zumindest zeitweise auf den Verzehr von Fleisch oder Wurstwaren zu verzichten.
Alter, Bildung und Herkunft der Befragten spielten eine Rolle: So achten 54 Prozente der 20- bis 29-Jährigen beim Fleischeinkauf auf einen günstigen Preis. Dagegen haben 34 Prozent der Jüngsten (14- bis 19-Jährige) ein schlechtes Gewissen, wenn sie beim Fleischkonsum an die geschlachteten Tiere denken. Menschen mit höherer Schuldbildung essen weniger Fleisch, als Menschen mit niedriger Bildung. In den neuen Bundesländern waren 90 Prozent aller Befragten der Meinung, dass Fleischessen beim Menschen naturbedingt ist.
Die durch den „Wort & Bild Verlag“ veröffentlichte Studie wurde von der GfK-Marktforschung vom 9. bis zum 27. August 2013 als telefonische Befragung durchgeführt. In diesem Rahmen wurden 2094 Befragte im Alter ab 14 Jahren befragt. Die nach Quoten gezogene Stichprobe gilt als repräsentativ für die Bundesrepublik Deutschland.
Die Deutschen sind im Hinblick auf ihre Lebensmittel besonders geizig; nirgends sonst in Europa gibt es mehr Discounter und mehr Billigangebote. Laut Statistischem Bundesamt verwenden die Deutschen gerade einmal zehn Prozent ihrer Konsumausgaben auf Lebensmittel. Spanier und Franzosen sind immerhin bereit, 14 Prozent in das leibliche Wohl zu investieren; in Italien liegt der Anteil sogar bei 15 Prozent. „In Bezug auf ethische Fragen sieht es in Frankreich oder Spanien nicht besser aus als in Deutschland“, sagt Gastrosoph Lemke.
„Aber die Menschen dort nehmen sich mehr Zeit für gemeinsame Mahlzeiten und haben ein größeres Bewusstsein dafür, dass Qualität eben auch kostet.“ Immerhin, der Gastrosoph erkennt auch hierzulande einen Sinneswandel. „Die Zeit des billigen Essens ist vorbei“, sagt er. Das zeigen die Renaissance des regionalen Wochenmarktes und die wachsende Anzahl von Biosupermärkten.
Doch wie ernährt sich eigentlich ein Gastrosoph? Wie lässt sich auch im Alltag, abseits eines einzelnen gastrosophischen Abends, nach der Philosophie des guten Essens leben? Lemke hat da ein paar Ideen. Ein Mensch, der Fast Food isst, is(s)t unmoralisch, sagt er. Stattdessen viel Bio und Regionales, weniger Fleisch. Lemke gärtnert, geht selten in Restaurants, kocht jeden Tag selbst, und mindestens eine Mahlzeit verbringt er dabei in Gesellschaft: Das stärkt die Konzentration auf das Essen und steigert seine Wertschätzung.
Aber auch der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Wie viele Stunden am Tag sind wir bereit für die Herstellung und Zubereitung unserer Nahrung zu opfern? Bei dieser Frage wird der Gastrosoph leidenschaftlich. „Den ganzen Wohlstand, den wir uns erarbeitet haben, sollten wir dafür nutzen: für gutes Essen, gutes Denken – für die Idee von einem guten Leben.“