Karriere und Moral Wie viel Teufel steckt in Ihnen?

Lug, Betrug, Diebstahl, Kunden anschmieren, Kollegen hintergehen – der Job kann den Charakter verderben. Wenn Ideale über Bord gehen, liegt das manchmal an der Unternehmenskultur, aber meist an der eigenen Persönlichkeit. Wie Sie stets Haltung bewahren.

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Schauspieler im Teufelskostüm: Beim Karrieremachen gehen oft Ideale über Bord, Reuters

Die Aktion soll mehr Profit bringen, weiter nichts. Nachdem Klaus Grinth* seinen Auftrag ausgeführt hat, sind 1500 Menschen ohne Job. Er hat sie alle gefeuert. Dazu wurde der Personaldirektor eigens angeheuert. Seinem Arbeitgeber geht es zu dem Zeitpunkt blendend. Jedes Jahr wächst das Unternehmen zweistellig. Doch dem Vorstandschef reicht das nicht. Er will ein Plus von 25 Prozent, er will die Konkurrenz abhängen, das Ansehen steigern, sein eigenes vor allem. Mit der jetzigen Mannschaft sei das nicht zu machen, sagt er. Also soll Grinth sie austauschen — wie, ist egal. Hauptsache neue Leute. „Und das habe ich gemacht“, sagt Grinth. Rund 18 Monate braucht er dafür. Anfangs sei das hart gewesen, erinnert er sich. Dann kam der Rausch. Grinth entdeckt Eigenschaften an sich, die er vorher nicht kannte: die Härte, den Durchsetzungswillen und die Begeisterung, jeden Monat „seine Zahlen zu bringen“. Manchmal kann er sie sogar übererfüllen, indem er binnen einer Woche über 100 Mitarbeiter entlässt. Sein Chef klopft ihm dafür auf die Schulter. Die Kollegen im Vorstand nicken achtungsvoll. Es gibt Prämien und die Aussicht zum Personalvorstand aufzusteigen. Ein paarmal wacht Grinth nachts auf, sieht die Gesichter der weinenden Männer und Frauen vor sich, die auf ihre Hypotheken und die schulpflichtigen Kinder verweisen. Er weiß, er spielt Schicksal. Er spürt die Allmacht und manchmal auch sein Gewissen. Dann denkt er an seinen Auftrag, seine Karriere. Die Macht siegt. „Ich wollte damals unbedingt Personalvorstand werden“, sagt Grinth. Für die Kündigungen gab es keine wirkliche Notwendigkeit, oft hätten schon Qualifizierungen gereicht. „Aber ich wollte nicht hören, dass ich der falsche Mann für diesen Job bin. Ich wollte nicht als schwach gelten und meinen Ruf nicht gefährden.“

Und natürlich klammert er sich an den Gedanken, dass danach bessere Zeiten kommen. Aber sie kommen nie. Stattdessen wird es schlimmer. Grinth wird tatsächlich Personalvorstand, doch nach der Kündigungswelle sollen weitere „Personalmaßnahmen“ folgen. Die Begründungen lauten diesmal so: „Schmeißen Sie die da raus – die hat kein Feuer mehr in den Augen!“ Da merkt Grinth, dass etwas gewaltig schiefläuft in dem Laden und in seinem Leben. Dass er Dinge tut, die er nicht tun will, weil sie keinen Sinn ergeben. Und dass er sich hat korrumpieren lassen, von der Macht, dem Erfolg und seinem Ego. Er kündigt — und gibt sich selbst ein Versprechen: Nie wieder will er grundlos Leute rausschmeißen, nie wieder will er so ein Schwein sein. Nicht nur Geld verdirbt den Charakter, der Job kann das genauso mitsamt der Firmenkultur, dem Korps- und Kollegengeist, den Chefallüren. All das überträgt sich früher oder später auf die Persönlichkeit. Es formt und verändert Verhalten und Werte. Langsam, aber sicher. Im Laufe der Zeit können so aus einstmals fröhlichen, aufgeschlossenen und geduldigen Menschen berechnende, ruhelose und misstrauische » Zeitgenossen werden. Zuerst verändern sich oft nur die Gedanken, dann die Betriebsoberfläche: der Gestus, die Kleidung, die Sprache, manchmal sogar der Freundeskreis. Danach verrücken die Grenzen: Was die anderen okay finden, kann so schlecht nicht sein. Und je mehr mitmachen, desto mehr verschiebt sich die Verantwortung vom Einzelnen auf die Gruppe. Am Ende gibt es nicht einmal mehr Ausreden – dann zählt nur noch der Erfolg. Solchen Denk- und Verhaltensmustern dann wieder zu entkommen, das kostet Kraft — und nicht selten auch den Job. Sozialwissenschaftler kennen diesen Gewissenswandel: Je stärker sich ein Mensch mit seinem Beruf identifiziert, desto schneller passt er sich den Gepflogenheiten des Betriebs oder der Branche an. Um von den Kollegen und vom Chef respektiert und gelobt zu werden, überschreiten manche Grenzen, die für sie früher unpassierbar gewesen wären – aus Skrupel und Anstand. Die Idee des Kollegen als eigene verkaufen? „Selbst Schuld, hätte er eben schneller sein müssen!“ Dem Kunden die aktuellen Probleme des Produktes vorenthalten? „Hey, er hat ja auch nicht danach gefragt!“ Schmiergeld bezahlen, um den Auftrag zu bekommen? „Na und, macht doch jeder!“

Die Erosion der Moral beginnt im System, wenn Vorstände und Analysten die Messlatten für den Erfolg immer höher legen. Obwohl auch die Hälfte der Zielvorgabe ausreichen würde, definieren sie gigantische Renditeziele, die Aufmerksamkeit in den Medien bringen. Immer mehr Umsatzsteigerungen sollen mit immer weniger Mitarbeitern erzielt werden. Das Problem ist nur, dass der Weg dorthin den Managern der nachfolgenden Ebenen überlassen bleibt. Die rackern sich ab, geben ihr Bestes und – wenn das nicht reicht, dann greifen sie in die Trickkiste. Heraus kommt oft schwarze Magie. Oder eben schwarze Kassen wie bei Siemens, riskante Spekulationsgeschäfte wie bei den Landesbanken Sachsen LB und WestLB, Samba tanzende Betriebsräte bei Volkswagen oder zwielichtige Vertriebspraktiken bei Ratiopharm. Jenseits der smarten Unternehmenskommunikation und hinter den Kulissen der Corporate Governance rumort es gewaltig, wie eine exklusive Umfrage für die WirtschaftsWoche belegt. Jede zweite Führungskraft beklagt inzwischen mehrmals im Jahr ein schlechtes Gewissen im Job. Immer öfter leiden die befragten Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter sowie Geschäftsführer darunter, dass sie bei betrieblichen Entscheidungen ihre persönlichen Wertvorstellungen über Bord werfen müssen. Jeden zehnten Manager quält das schlechte Gewissen sogar einmal pro Woche. Das hat die Düsseldorfer Personalberatung Lachner Aden Beyer & Company Consultants (LAB) im Rahmen einer deutschlandweiten Befragung von 265 Managern herausgefunden – die von teilweise schockierenden Zitaten begleitet ist: „Ich neige dazu, die Dinge so zu machen, wie sie vorgelebt werden — Hauptsache die eigene Tasche kommt dabei gut weg“, gesteht einer der Befragten. Oder: „Ehrlichkeit und Geradlinigkeit sind hier geradezu hinderlich für die Karriere.“ Oder: „Gewissenloses Handeln ist bei uns längst Routine.“ Deutschland, Land der Opportunisten.

An sich ist es ganz normal, dass sich mit der Zeit die Maßstäbe verschieben, Bedenken abschleifen und Werte umdefiniert werden, weil jeder einen „Reifungs- und Realitätsanpassungsprozess durchlebt“, sagt Michael Kastner, Organisationspsychologe an der Universität Dortmund. Zu Schulzeiten und am Studienanfang scheint alles noch ganz einfach zu sein. Doch mit dem Alter und im Job stellen die Leute fest, dass es im Leben nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern mehrheitlich Kompromisse. Die Handlungsoptionen werden facettenreicher, die Welt wird dadurch aber auch grauer. Mit den rigiden Moralvorstellungen der Jugend kommt keiner mehr weiter. Das aber vergrößert zugleich das Risiko eines Fehltritts. „Lebenserfahrung verleitet dazu, dass man glaubt, gute Gründe zu haben, um sein unmoralisches Handeln zu entschuldigen“, sagt der Tübinger Philosophieprofessor Otfried Höffe. Jeder wisse, dass er — wie jeder Mensch — „schwache Momente hat“. Nobody is perfect. Warum einen Vorteil ausschlagen? Wieso verzichten? Der Ehrliche ist doch sowieso immer der Dumme. Natürlich sind das Ausreden. Trotzdem reagieren die meisten Menschen auf solche Rechtfertigungsversuche immer gleich: Sie nehmen sie zur Kenntnis. Und das war’s. Dabei ist der Ehrliche selten der Dumme, häufiger ist es der Ignorant. Wer nicht zum Schwein werden will, braucht ein starkes Rückgrat von Anfang an. Jeder Fehltritt erleichtert den nächsten. Denn in der Rückschau verklärt sich das Fehlverhalten oft zur Lappalie, weil die menschliche Erinnerung „selbstreferenziell arbeitet“, sagt Organisationspsychologe Kastner. Unser Gedächtnis ist keineswegs das verlässliche Archiv, für das wir es gerne halten. Vielmehr vermischen wir beim Memorieren häufig Erfahrungen mit Erlebnissen, die wir gar nicht selbst gemacht haben. Unser Gehirn wählt Eindrücke aus, ergänzt sie, formt sie neu, und zwar so, wie es für das Überleben in einer komplexen Welt nützlich ist. So hat das, was wir erinnern, oft extrem wenig mit der Vergangenheit zu tun. Weil wir aber keinen inneren Lügendetektor besitzen, werden unsere Untaten so im Laufe der Zeit immer richtiger – „bis daraus neue Wahrheiten entstehen“, sagt Experte Kastner. Gier ist dabei die größte Versuchung. Sozialneid und Statusdenken treiben Menschen in die Verfehlung, wenn es um ein ansehnlicheres Büro geht oder ein repräsentativeres Auto. Ein bisschen Gier ist noch harmlos, stachelt vielleicht sogar an und weckt bei den Betroffenen Ehrgeiz und Kreativität; ein bisschen zu viel, und es wirkt mörderisch. Die Leute sehen dann nur noch den Reichtum ihrer Kollegen, ihrer Kunden und ihrer Nachbarn. Sie wollen mithalten und auch ein Stück vom Kuchen abhaben. Erst nur eins, dann immer mehr. So übertragen viele die Glorifizierung des Unternehmenswachstums unbewusst auf die eigene Karriere und die eigenen Ansprüche. Der Bonus, den einer gestern erst bekommen hat, ist morgen schon Teil seines Anspruchs, den er nächstes Jahr steigern muss – mehr Gehalt, mehr Mitarbeiter, mehr Verantwortung, mehr Budget. Mehr. Mehr. Mehr. „Wer gierig ist, wird Sklave eines Triebs, der den Verstand ausschaltet“, erkannte Psychoanalytiker Sigmund Freud.

Das erzeugt ungeheuren Druck. Wer nicht schafft, sich stetig zu verbessern, ist schon ein Verlierer. In der Zunft der Unternehmensberater gibt es dafür sogar eine simple Formel: „Grow or go“ („Wachse oder zieh Leine“). Erstaunlich viele setzen das ungeprüft um. Uwe Dolata, Kriminalhauptkommissar und Lehrbeauftragter für Korruptionsbekämpfung an der Fachhochschule Würzburg, kann dazu zahlreiche Geschichten aus der Praxis erzählen. Im Kern lauten sie immer gleich – etwa so: Ein Geschäftsführer, der nun im Gefängnis sitzt, verhält sich in mittlerer Position völlig normal. Dann kommt der Tag, an dem er befördert wird. Mit einem Mal verdient er ein Vielfaches seines alten Gehalts. Er denkt: Was einmal funktioniert hat, muss wieder klappen. Also versucht er sein Einkommen weiter zu steigern. Er verbeißt sich regelrecht in dieses Ziel. Irgendwann stößt er an Grenzen. Legal ist auf die Schnelle nichts zu machen. Also fängt er an, krumme Dinger zu drehen – und wird irgendwann erwischt. Im Verhör fragt sich dann jeder: Wie konnte es dazu kommen? Es sei jedes Mal dasselbe, sagt Dolata. Irgendwann vollzieht sich in den Tätern ein „Wandel vom Gemeinwohl zum Meinwohl“. Erst packt sie die Gier, dann das Verderben. Delinquenz ist an der Tagesordnung: 47 Prozent der befragten Führungskräfte im LAB Managerpanel gaben an, dass sie „oft“ oder gar „sehr häufig“ unmoralisches Verhalten in ihrem Berufsumfeld beobachten. Besonders Führungskräfte seien für Hinterlist und Betrug empfänglich. Macht korrumpiert. Aber „absolute Macht korrumpiert absolut“, schrieb der Historiker John Acton vor 150 Jahren. Geändert hat sich daran bis heute nicht viel, eher verändert sich die Unmoral in ungekehrter Proportionalität: Je höher einer auf der Karriereleiter klettert, desto ungehemmter sinkt das Unrechtsbewusstsein, ebnen sich Hemmschwellen ein – das gilt für die Wirtschaft wie für die Politik: „Um sich gegen Verletzungen zu wappnen, lernen Spitzenpolitiker, sich emotional zu reduzieren“, analysiert der Journalist Jürgen Leinemann in seinem Buch „Höhenrausch“. Die renommierte Fotografin Herlinde Koelbl, begleitete acht Jahre lang Politiker und Wirtschaftsbosse mit der Kamera. Sie kennt seither die Isolation der Bosse, ihre Einsamkeit an der Spitze. Macht sei eine „Charakterprobe“, sagt Koelbl. Wer immer nur Ja und Amen höre, verlerne die Fähigkeit, Kritik anzunehmen. Manche bedienen sich gar einer Art Patchwork-Ethik, eines Rollenwechsels, bei dem sie zwischen unterschiedlichen Wertesystemen hin- und herspringen: tagsüber Betrüger, Intrigant, Mobber; abends treusorgender Familienvater, aufmerksamer Ehemann und hilfsbereiter Nachbar. Manch einer streift sich seine Persönlichkeiten über wie andere ihren Blaumann. Für die Seele aber ist das auf Dauer eine kaum überwindbare Zerreißprobe. Muss das so sein? Gilt am Ende auch für Moral und Management das Gesetz der Evolution: Nur der Stärkere überlebt? Die Antworten fallen allzu oft allzu trivial aus: „Moral und Management bedingen einander“, heißt es dazu gerne in wohlfeilen Managementbrevieren. Die Wahrheit ist aber weit weniger bequem. Sie lautet: Moral im Management ist möglich, aber man muss dafür kämpfen. Jeden Tag. Und man muss bei sich selbst damit beginnen. So: Wehre den Anfängen! Wissenschaftler haben festgestellt: Einmal vom rechten Weg abgekommen, fällt es denjenigen schwer, dauerhaft zurückzufinden. Wer aber von Anfang an für hohe Werte einsteht, tut das auch im Laufe seiner Karriere mit hoher Wahrscheinlichkeit. Zum Beispiel Ulf Ganady. Als er kurz nach seinem BWL-Diplom 1996 als Assistent des Leiters Finanz- und Rechnungswesen bei der Unternehmensberatung GMO einstieg, war bald klar, dass er – wenn alles gut läuft – den Posten seines Vorgesetzten irgendwann erben würde. Es lief tatsächlich alles gut, und nach zwei Jahren war Ganady Finanzchef – und mitten im Strudel der Probleme. Anfang 2000, als das Unternehmen in schweres Fahrwasser geriet, wuchs der Druck der englischen Muttergesellschaft, die mit den sich abzeichnenden rückläufigen Ergebnissen unzufrieden war. „Die wollten Wachstum sehen“, sagt Ganady. Also forderte der damalige Deutschland-Geschäftsführer von seinem Finanzchef „geschönte Ergebnisprognosen“, um die Ansprüche der Engländer wenigstens optisch zu befriedigen. Ganady widerstand und entschied sich stattdessen für eine Palastrevolte. In vertraulichen Vier-Augen-Gesprächen erzählte er sowohl dem Finanzvorstand als auch dem Chef-Controller der englischen Mutter die Wahrheit über die frisierten Zahlen, ohne Erfolg. Die Konzernspitze hielt zu ihrem Geschäftsführer. Ganady stand isoliert da, blieb aber nicht untätig: Er kündigte im August 2001 und fand bei einem großen Hamburger Logistikunternehmen einen neuen Job. Sein alter Arbeitgeber schlidderte derweil in die Insolvenz.

Natürlich, sagt er heute, seien ihm damals Zweifel an der eigenen Courage gekommen, Skrupel wegen des Verrats am Vorgesetzten und der Konsequenzen. Aber die Alternative wäre gewesen, dass er als Finanzchef für eine Insolvenz mitverantwortlich gewesen wäre – und nichts schadet dem Ansehen eines Controllers mehr als solch ein Eintrag im Lebenslauf. Die Lösung bin ich! Wer darüber klagt, dass ihn der Job korrumpiert, sagt in Wahrheit, dass er zu schwach ist, „für seine Werte auch die beruflichen Konsequenzen zu tragen“, sagt Marcus Schmidt, Personalberater bei Hanover Matrix in München. Über das System schimpfen und gleichzeitig Teil des Systems bleiben ist inkonsequent, solange man nichts dagegen unternimmt. Manager wie Mitarbeiter sind immer Opfer und Täter zugleich. Wer versucht, moralisch Haltung zu bewahren, müsse vor allem „bei sich selbst anfangen“, fordert auch der Managementberater Reinhard Sprenger. Konsumenten können etwa darauf verzichten, Produkte zu kaufen, die den eigenen Wertvorstellungen widersprechen: Wer Massentierhaltung ablehnt, darf eben kein Billigfleisch kaufen; wer die Arbeitsbedingungen auf Kaffeeplantagen kritisiert, muss zu fair gehandeltem Kaffee greifen; wer den Personalabbau eines Konzerns für menschenverachtend hält, wendet sich als Kunde ab und verkauft die Aktien. Schwer ist es nicht, so eine Grundhaltung zu entwickeln. Es kostet nur: fast immer Geld und manchmal auch das Ansehen, wenn man als Weichei, Gutmensch oder Weltverbesserer stigmatisiert wird. Es muss ja nicht gleich ein Boykott sein; die Treue zum eigenen Wort reicht. Beispiel Georg Kulenkampff. Im Dezember vergangenen Jahres trat er als Geschäftsführer des Wohnungsunternehmens Deutsche Annington an, um das Unternehmen mit seinen 230.000 verwalteten Wohnungen an die Börse zu bringen. Nur 48 Stunden vor der Analystenpräsentation wurde der Börsengang jedoch „aus guten und richtigen Gründen“ gestoppt, sagt Kulenkampff. Die Mission war gescheitert, Kulenkampff sollte zurück in die englische Zentrale, die Wohnungsgesellschaft wurde zum ungeliebten Stiefkind der Company. Kulenkampff lehnte das Angebot jedoch ab, weil er der Belegschaft, den Mietervertretern sowie den Landes- und Kommunalpolitikern bei seinem Antritt bekräftigt hatte, dass er seinen Job „als langfristig“ ansehe. Sein Versprechen könne und wolle er „nicht einfach brechen“, begründete er seine Absage an die Londoner Zentrale. Als der Vorstand seine Entscheidung nicht akzeptieren wollte, kündigte er. Das brachte ihm viel Achtung ein, vor allem vor sich selbst. Höre auf deinen Bauch! Wenn Wissenschaftler über Ethik debattieren, kommen sie am Ende immer zu der Frage: Ist Moral angeboren oder wird sie erlernt? Neuste Studien von Hirnforschern und Rechtsphilosophen zeigen: Jeder Mensch besitzt einen angeborenen Sinn für Gut und Böse, einen inneren Moralinstinkt. Der Bonner Philosoph und Neurowissenschaftler Henrik Walter geht davon aus, dass „die Grundregeln des sozialen und damit moralischen Zusammenlebens in uns angelegt sind“. Schon Kinder haben demnach ein Gespür dafür, was richtig ist und was falsch. Unser Unrechtsempfinden werde also nicht erst durch Erziehung und Sozialisation geprägt, so der Neurologe. Allerdings entwickelt sich unser Rechtsempfinden mit den Jahren. Was wir im Jugend- und Erwachsenenalter als Recht oder Unrecht empfinden, entscheide über unsere persönliche Betroffenheit, weiß der Harvard-Psychologe Joshua Greene. In einer Reihe von Befragungen stellte sich heraus, dass beispielsweise Autofahrer einen stark blutenden Verletzten am Straßenrand sofort ins nächste Krankenhaus fahren würden, auch wenn dieser dabei die 200 Dollar teuren Sitzpolster ruiniert – und das unabhängig davon, ob es Zeugen gäbe. Von einer ebenso hohen Spende zur Linderung des Hungers in der Dritten Welt sähen die meisten jedoch ab. Greene’s Fazit: Emotionale Bindung ist Voraussetzung für moralisches Handeln. Gerade im Wirtschaftsleben beruhen aber Entscheidungen oft auf emotional fernen, auf unpersönlich anmutenden Zahlen und Statistiken. Menschliche Schicksale reduzieren sich so zu Excel-Grafiken, und krumme Touren verstecken sich in anonymen Kennziffern wie Ebit-Marge und Deckungsbeitrag. Damit lässt sich zwar das Auge betrügen, nicht aber der Bauch. Deshalb ist es wichtig, gerade bei Entscheidungen in der Grauzone auf sein Bauchgefühl (beziehungsweise das Gewissen) zu hören, und sei es, um sich an die Popularisierung des kategorischen Imperativs zu erinnern: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Fairness lohnt sich! Sei nett, betrüge und belüge nicht – dann wirst du auch selbst nicht betrogen und belogen. Das Prinzip des sogenannten reziproken Altruismus untersuchte der US-Ökonom Vernon Smith bereits in den Sechzigerjahren: Bei seinem Versuch sollten die Probanden Geld in eine Gemeinschaftskasse einzahlen und so vermehren. Der Gewinn wurde anschließend an alle zu gleichen Teilen ausgezahlt. Allerdings hatten die Teilnehmer die Wahl zwischen zwei Strategien: kooperieren und einzahlen oder nicht einzahlen und trotzdem profitieren. Das Experiment zeigte sehr schnell: Spielten alle mit, erzielten sie den höchsten Gewinn. Den höchsten Einzelprofit aber gab’s für egoistische Schmarotzer. Wie zu erwarten war, spielte zu Beginn des Experiments die Mehrheit der Probanden fair, eine Minderheit kassierte mit. Die Ehrlichen waren die Dummen und verhielten sich schon bald ebenfalls eigennützig. Effekt: Der Gemeinschaftsprofit schmolz mit jeder Runde und erreichte zum Schluss seinen Tiefststand. Wie die Stimmung auch. Erst als die Mitspieler Trittbrettfahrer bestrafen konnten, verbesserten sich das Ergebnis und die Atmosphäre schlagartig. Die Sanktionen sorgten für ein neues Gemeinwohl. Der Effekt ist heute vergleichbar mit dem Händler-Feedback im Online-Auktionshaus Ebay: Nur wer dauerhaft fair ist und entsprechend beleumundet wird, macht weiterhin gute Geschäfte. Der Alltag zeigt: Fairness, Ehrlichkeit und Geradlinigkeit sollten unverrückbare Prinzipien bleiben, auch um Reputation und Respekt dauerhaft zu sichern. Suche Sparringpartner! Wer sich immer nur im Dunstkreis derselben Kollegen bewegt, bleibt in einer Art Käseglocke. Die hohen Gehälter, die privilegierte Stellung, der vorauseilende Gehorsam der Untergebenen – all das macht immun gegenüber Zweifeln und Kritik. Spätestens dann, wenn auch der private Freundeskreis nur noch aus Gleichgesinnten derselben Branche besteht, verliert man die Bodenhaftung. Jeder braucht ein soziales Korrektiv, um nicht an der eigenen Zerrissenheit oder Überheblichkeit zugrunde zu gehen – unabhängige Personen – vielleicht der Fachkollege aus einer anderen Firma, ein langjähriger Mentor, der unbeteiligte Joggingpartner –, mit denen Ängste, Sorgen und Bedenken ausgetauscht und weitgehend neutral eingeordnet werden können. Selbst der noch so hartgesottene Haudegen braucht Gelegenheiten, in denen er seine Fehlbarkeit erkennt. Auch Finanzmanager Ganady besprach sich damals mit vertrauten Mitarbeitern und tauschte Informationen aus. „Die Gespräche haben mir die Sicherheit gegeben, dass ich nicht alleine bin mit meiner Meinung“, sagt er heute. Ziel dabei ist auch, das eigene Reflexionsvermögen zu verbessern. Wer ständig mit sich hadert und sich mit seinen Zweifeln im Kreis dreht, braucht externe Impulse, um Denkblockaden aufzulösen. Allerdings haben viele Manager diesen Kontakt zu sich verloren, weil ihre Aufgaben, die 14-Stunden-Tage und täglichen Diskussionen im Job längst die Kontrolle über ihr Leben übernommen haben. Was ihnen fehlt, ist ein Spiegel, der sie wieder erdet und die Prioritäten gerade rückt. Außenstehende leisten hierbei oft die wertvollsten Impulse. Wenn sie weder Unternehmen noch Branche kennen, stehen sie dem Job „kritischer gegenüber“, sagt Berater Sprenger. Ihre Rückmeldung sei deshalb unverblendeter, unangepasster und so erfrischend freimütig, wie nur ein Kumpel das abends beim Bier sagen kann: „Du hast dich ganz schön verändert – und nicht zum Besten!“ Wer drauf hört, profitiert davon mehr als von allen Coachings und Therapien dieser Welt.

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