Bei den großen US-Konzernen geht es um den Spirit - Leidenschaft statt Lebenslauf. Wer zu Google möchte, muss seine "Googlyness" unter Beweis stellen, Facebook sucht Wegbereiter, Hacker und Pioniere mit Werten, und wer bei Amazon anheuern will, muss sich voll und ganz in den Dienst des Kunden stellen. Daraus macht Amazon auch kein Geheimnis. Auf der hauseigenen Karriereseite steht der Punkt „Customer Obsession“ ganz oben. „Du passt hier rein oder eben nicht“, sagt Amazon-Managerin Nimisha Saboo in einem Video. „Du liebst es oder eben nicht. Es gibt keinen Mittelweg.“
Mehr als 160.000 Menschen weltweit haben sich für die Liebe entschieden und arbeiten bei Amazon, jährlich kommen mehrere tausend hinzu. Laut einem aktuellen Bericht der New York Times gibt es allerdings auch viele Manager, die die Arbeit bei Amazon ganz und gar nicht lieben. Ex-Mitarbeiter wettern in der renommierten Zeitung gegen den Warenhaus-Giganten und die Methoden, mit denen die Angestellten zu Höchstleistungen getrieben werden sollen, um den Kunden zufrieden zu stellen. Erst wenn König Kunde zufrieden ist, kommen die Bedürfnisse der Mitarbeiter.
Aufstieg mit Schattenseiten: Wie funktioniert Amazon?
Jeff Bezos gründete amazon.com im Jahr 1995. Den deutschen Ableger amazon.de gibt es seit 1998. Groß wurde das Unternehmen mit dem Versand von Büchern, Videos und Musik-CDs. Seit dem Jahr 2000 können auch fremde Händler ihre Produkte bei Amazon anbieten. Mittlerweile macht der Konzern mit Sitz in Seattle zwei Drittel seines Umsatzes mit Waren wie Computern, Digitalkameras, Mode oder Lebensmitteln. Amazon ist auch einer der Vorreiter bei elektronischen Büchern sowie Musik- und Video-Downloads. Zweites großes Standbein neben dem Handel sind die Webservices mit dem Cloud Computing.
Amazon fährt eine riskante Wachstumsstrategie: Der Konzern lockt die Kunden mit günstigen Preisen sowie einer schnellen und vielfach kostenlosen Lieferung. Zudem investiert er kräftig, in die Versandzentren wie auch in die Entwicklung neuer Technologie. Dieser Wachstumskurs hat jedoch eine Kehrseite: Die Gewinnmargen sind eher dünn. Im vergangenen Jahr machte Amazon einen Verlust von 39 Millionen Dollar. Im ersten Quartal blieben unterm Strich 108 Millionen Dollar (78 Millionen Euro) – bei einem Handelsumsatz von 19,7 Milliarden Dollar.
Es ist der größte Auslandsmarkt. Im vergangenen Jahr setzte Amazon hierzulande 8,7 Milliarden Dollar um, umgerechnet sind das derzeit etwa 6,5 Milliarden Euro. Damit lag Deutschland noch vor Japan mit 7,8 Milliarden Dollar und Großbritannien mit 6,5 Milliarden Dollar. Der wichtigste Markt überhaupt ist allerdings Nordamerika mit 34,8 Milliarden Dollar. Amazon wuchs in seiner Heimat zuletzt auch deutlich schneller als im Ausland.
Gemessen am Einzelhandelsumsatz insgesamt ist die Rolle von Amazon überschaubar. Etwa 1,5 Prozent trägt Amazon zum Branchenumsatz von fast 428 Milliarden Euro bei. Das meiste sind jedoch Lebensmittel. Betrachtet man den Online-Handel von Unterhaltungselektronik bis hin zu Büchern, sieht die Sache ganz anders aus: Amazon hält hier fast ein Viertel des Marktes.
In Deutschland unterhält das Unternehmen Logistikzentren in Graben bei Augsburg, Bad Hersfeld, Leipzig, Rheinberg, Werne, Pforzheim und Koblenz. Dort arbeiten nach Auskunft von Amazon etwa 7700 fest angestellte Vollzeitmitarbeiter. In Spitzenzeiten wie dem Weihnachtsgeschäft kommen in jedem dieser Zentren Tausende Saisonkräfte hinzu. Weltweit arbeiteten zum Jahreswechsel 88.400 Festangestellte im Unternehmen.
Amazon selbst äußerte sich auf Nachfrage bisher nicht dazu, ob seit der Ausstrahlung der ARD-Doku weniger bestellt wurde. Doch ein Vergleich legt nahe: Zu große Sorgen muss sich Amazon wohl nicht machen. Auch über den deutschen Rivalen Zalando tobte bereits ein - wenn auch kleinerer - Sturm der Aufregung nach Berichten über schlechte Arbeitsbedingungen. Am rasanten Umsatzwachstum änderte das nichts. Von 2011 auf 2012 verdoppelte Zalando seine Erlöse von 510 Millionen auf 1,15 Milliarden Euro.
Das ist schwer abzuschätzen. Die Empörung hat auch die Politik erreicht und es ist Wahlkampf. Die Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung von Leih- und Zeitarbeitern richten sich aber primär gegen die Leiharbeitsfirmen. Denen droht das Bundesarbeitsministerium inzwischen mit einer Sonderprüfung. Die Firmen selbst äußern sich nicht. Die Bezahlung bei Amazon entspricht aber wohl den gültigen Standards. Mit einem Bruttostundenlohn von mindestens 9,30 Euro zahlt Amazon mehr als den gesetzlichen Mindestlohn für Zeitarbeiter, der derzeit im Westen bei 8,19 Euro und im Osten bei 7,50 Euro liegt.
In Großbritannien gab es im vergangenen Jahr eine Debatte darüber, wie sich Amazon und andere US-Konzerne mit legalen Tricks vor dem Steuerzahlen drückten. Ein Amazon-Vertreter musste vor einem Ausschuss des Parlaments erscheinen und wurde dort von den Parlamentariern vor laufenden Kameras in die Mangel genommen. In den USA hatten sich Mitarbeiter darüber beschwert, dass sie im heißen Sommer in unklimatisierten Lagerhallen schuften mussten. Nach US-Medienberichten erlitten mehrere Beschäftigte Schwächeanfälle. Amazon reagierte und rüstete Klimaanlagen nach.
Das ist bei anderen Internet-Giganten wie Google oder Facebook nicht anders, jedoch setzt Bezos laut der Times auf mittelalterliche Arbeitsbedingungen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Kernvorwürfe, die die Times in dem Artikel nach Interviews mit „mehr als 100 derzeitigen und ehemaligen“ Amazon-Angestellten erhebt:
• Mitarbeiter spionieren sich gegenseitig aus
• Angestellte sollen ihre Kollegen bei den Vorgesetzten anschwärzen, wenn sie Fehler machen, Mobbing sei an der Tagesordnung
• der Job als Amazon-Manager erfordere 85-Stunden-Wochen
• endlose Konferenzen und Mails am Wochenende und um Mitternacht raubten den letzten Rest an Freizeit.
Dass die Arbeit in den Amazon-Logistikzentren kein Zuckerschlecken ist; dass die Angestellten dort angetrieben, kontrolliert und überwacht werden, ist bekannt. In Deutschland etwa prangert die Gewerkschaft Verdi eine hohe Krankenquote von 20 bis 30 Prozent an – ausgelöst durch „lange Laufwege, extrem hohes Arbeitspensum“ und „ständige Kontrolle und Vergleichbarkeit“. Dass Amazon aber auch die Angestellten in der Firmenzentrale massiv unter Druck setzt, sorgt für neuen Wirbel.
„Bist Du nicht fähig, 80 Stunden pro Woche absolut alles zu geben, dann sehen sie das als große Schwäche", zitiert die Times etwa Molly Jay, einst mitverantwortlich für Amazon-Ebook-Kosmos Kindle. Krankheiten wie Krebs gelten als persönliche Schwierigkeit im Privatleben und seien kein Grund, einen Gang runterzuschalten.Wer die Anforderungen nicht erfülle, dem werde die Kündigung nahe gelegt, heißt es in dem Bericht. "Fast jede Person, mit der ich zusammengearbeitet habe, hab ich am Schreibtisch weinen gesehen“, sagt Bo Olson, einst verantwortlich für das Bücher-Marketing.
Rückendeckung aus der eigenen Belegschaft
Nick Ciubotariu arbeitet seit März 2014 bei Amazon als technischer Leiter und ist stolz auf seine Arbeit und die seiner Kollegen. Ihm stößt der Artikel der Times mehr als sauer auf und er wirft den Autoren vor, gezielt Anekdoten von ehemaligen Angestellten ausgewählt zu haben, um Vorurteile zu untermauen. Trotzdem schlägt dem Konzern seit der Times-Veröffentlichung weltweit Kritik entgegen. Die ist so groß, dass sich Bezos selbst zu einer Stellungnahme gezwungen sah. „Der Artikel beschreibt nicht das Amazon, das ich kenne, oder die Amazionians, mit denen ich jeden Tag arbeite“, schreibt er in einem Memo an die Angestellten – und startet gleich eine Gegenoffensive. „Aber wenn ihr von irgendeiner Geschichte wie den berichteten wisst, möchte ich, dass ihr sie an die Personalabteilung meldet. Ihr könnt mich auch direkt anschreiben unter jeff@amazon.com.”
Vita: Jeff Bezos
Geboren als Jeffrey Preston Jorgensen in Albuquerque, US-Bundesstaat New Mexico.
Miguel Bezos, neuer Ehemann der Mutter Jacklyn Gise, adoptiert ihn.
Jahrgangsbester seiner Highschool in Miami.
Abschlüsse in Computerwissenschaften und Elektrotechnik an der Princeton-Universität.
Analyst beim New Yorker Hedgefonds D. E. Shaw & Co.
Gründung von Cadabra in Seattle, später in Amazon umbenannt.
Börsengang von Amazon.
Das „Time Magazine“ kürt ihn zum Mann des Jahres.
Bezos gründet das Raumfahrtunternehmen Blue Origin.
Amazon übertrifft voraussichtlich die Umsatzschwelle von 100 Milliarden Dollar.
Es dürfe keine Toleranz gegenüber einem solchen Mangel an Empathie geben. „Ich glaube fest daran, dass jeder, der in einem Unternehmen arbeitet, wie es die New York Times beschreibt, verrückt wäre zu bleiben“, schreibt Bezos an seine Mitarbeiter. „Ich weiß, dass ich eine solche Firma verlassen würde.“ ´
Laut der Times lassen die Kündigungen der Amazon-Mitarbeiter auch nicht lange auf sich warten. Das Blatt zitiert eine Studie des US-Unternehmens PayScale aus dem Jahr 2013, wonach Amazon-Angestellte im Durchschnitt gerade mal ein Jahr bei dem Konzern bleiben. Doch jetzt kommt das Aber: Angestellte bei Google, dem weltweit beliebtesten Arbeitgeber, bleiben im Median auch nur 1,1 Jahre im Unternehmen. Bei Ebay sind es 1,9 Jahre, bei Yahoo 2,4. Unternehmen wie Facebook, Twitter oder Netflix tauchen in der Liste der untersuchten 500 US-Unternehmen nicht auf.
Trotzdem scheint es auf den ersten Blick ein Problem der Internetwirtschaft zu sein, dass die Mitarbeiter nach nur sehr kurzer Zeit das Handtuch werfen – und zwar unabhängig vom Wohlfühlfaktor. Die treuesten Mitarbeiter hat dagegen die Eastman Kodak Company. Dort bleiben die Angestellten im Median 20 Jahre.
Amerikaner kündigen im Schnitt nach fünf Jahren
Doch an der Branche liegt es nicht – jedenfalls nicht nur. Zum einen bleiben Amerikaner ihrem Arbeitgeber wesentlich kürzer treu als die Deutschen: Während amerikanische Mitarbeiter durchschnittlich nach 4,6 Jahren Betriebszugehörigkeit kündigen, bleiben die Deutschen 10,3 Jahre in einem Unternehmen, bevor sie weiterziehen. Ein schneller Durchlauf ist also nichts Ungewöhnliches. Zum anderen haben Internet- und Technik-Konzerne dank ihres rasanten Wachstums einen riesigen Personalhunger, der sich aber oft nur in befristeten Verträgen niederschlägt. Allein bei Google arbeiten mehr als 40.000 Menschen, jedes Jahr gehen dort mehr als 2,5 Millionen Bewerbungen ein. Im Jahr 2013 hat Google rund 8000 neue Mitarbeiter eingestellt. Diese haben entsprechend nur eine Betriebszugehörigkeit von maximal zwei Jahren vorzuweisen. Ähnlich argumentiert auch Amazon als Reaktion auf die Vorwürfe der Times. Die Kündigungsrate sei vergleichbar mit anderen Tech-Firmen.
Hinzu kommt, dass Mitarbeiter in der Internetbranche in der Regel sehr jung und eher wechselwillig sind. Bei Google liegt das Durchschnittsalter bei 29 Jahren, bei Amazon sind es 32 Jahre. Zum Vergleich: Mitarbeiter bei Eastman Kodak sind im Schnitt 50 Jahre alt.
Entsprechend nutzen viele Berufseinsteiger die Konzerne als Sprungbretter. Das funktioniert besonders gut, weil die Personalchefs der Internet-Riesen oftmals auf gute Unizeugnisse und den Maßanzug pfeifen, solange der Bewerber nur den richtigen Hunger und ausreichend Leidenschaft mit bringt. Entsprechend schnell lässt es sich bei Amazon aufsteigen. Doch wie bei anderen US-Innovatoren ist auch bei Amazon ein Aufstieg nicht ohne entsprechendes Engagement zu schaffen. Auch Tesla-Chef Elon Musk soll nicht gerade zimperlich mit seinen Angestellten umgehen. Dennoch sind die Zufriedenheitswerte der Mitarbeiter – sowohl bei Tesla als auch bei Amazon – recht hoch.
So schreibt ein Nutzer bei der Arbeitgeber-Bewertungsplattform kununu: „Nach mehreren Arbeitgebern und 20 Jahren Berufserfahrung, kann ich nur sagen: Ich kenne keinen anderen Arbeitgeber, der so mitarbeiterorientiert ist wie Amazon. Die Arbeitsweise unterliegt klaren Regeln, damit muss man leben können oder nicht. Wer das kann, der ist bei Amazon sehr gut aufgehoben.“