Unternehmen befördern grundsätzlich die fachlich besten Mitarbeiter zur Führungskraft – nicht aber diejenigen, die als beste Führungskraft geeignet sind. So zumindest die gängige Praxis in Unternehmen. Sinnvoll ist das jedoch nicht! Denn Führungskräfte müssen keine Spezialisten sein und fachlich nicht das können, was ihre Mitarbeiter leisten. Sie müssen nicht der beste Ingenieur, der beste Verkäufer oder der beste Sachbearbeiter sein. Ihre vorrangige Aufgabe ist das Führen ihres Teams und ihrer Mitarbeiter.
Es ist ein fataler Irrglaube und ein vollkommen überzogener Anspruch zu glauben, dass Führungskräfte fachliche Vorbilder sein müssen. Welche Konsequenzen dies haben kann, zeigt das Beispiel eines Ingenieurs in der Automobilbranche:
Dieser Mann - nennen wir ihn Christian Lehmann - hat mit 33 Jahren alles erreicht, wovon die meisten Ingenieure seines Alters nur träumen: Bereits während seines Studiums mit Schwerpunkt Maschinenbau an der TU München wurde er als Werkstudent von einem weltweit anerkannten Automobilzulieferer rekrutiert. Nach seinem Abschluss dann der Direkteinstieg als Entwicklungsingenieur für Turbolader. Drei Jahre und einen Auslandseinsatz in China später wird er zum Projektleiter befördert; seine Aufgabe: einen neuen Turbolader zu entwickeln, der besonders effektiv und leistungsstark ist.
Lehmann hat mittlerweile fünf Patente innerhalb von nur vier Jahren angemeldet und ein Team von hoch qualifizierten Spezialisten geführt. Die Firma boomt und auch Lehmanns Karriere geht durch die Decke: er wird zum Abteilungsleiter der neuen Forschungs- und Entwicklungsabteilung befördert – eine außergewöhnliche Auszeichnung für jemanden seines Alters.
Lehmanns Alltag besteht jetzt aus Besprechungen. Er muss Berichte an die Bereichsleiter schreiben, ihnen Rede und Antwort stehen, wenn eine Deadline nicht zu halten ist – doch egal wie lange er arbeitet, die Papierberge auf seinem Schreibtisch werden nicht weniger. War er früher den ganzen Tag damit beschäftigt, Komponenten für Turbolader zu entwickeln, neue Ideen zu verfolgen oder Spezifikationen zu erstellen, stehen nun Leistungsbeurteilungen der Mitarbeiter auf dem Plan. Mittlerweile delegiert Lehmann Aufgaben anstatt sie selbst zu erledigen. Aber so hatte er sich seinen neuen Job wahrlich nicht vorgestellt. Das, was ihm bis vor kurzem noch Freude bereitet hatte, nämlich das Tüfteln, das Entwickeln von Turboladern, ist nicht mehr länger Bestandteil seines Jobs. Dafür sind jetzt andere zuständig. Lehmanns Aufgabe ist es, seine Teammitglieder zu befähigen, ihre Arbeit gut zu erledigen – ob er diese selbst beherrscht oder sogar der bessere Entwickler wäre, spielt keine Rolle.
Das ist es nicht, weshalb er Ingenieur werden wollte. Christian Lehmann merkt, wie er immer unzufriedener, frustrierter wird. Eigentlich wollte er die Arbeit machen, die nun seine Mitarbeiter erledigen. Nur widerwillig geht er jeden Morgen ins Büro: „Wozu das Ganze noch?“, fragt er sich. Ja, die Bezahlung stimmt, aber erfüllend ist das nicht. Seine schlechte Laune färbt mittlerweile auf alle ab, die Stimmung im Team ist angespannt – mit dem Ergebnis, dass die Qualität der Arbeit erheblich leidet.
Auf die persönlichen Werte kommt es an
Eine verhängnisvolle Annahme
Das Beispiel verdeutlicht, dass Werte bei angehenden Führungskräften immer höher einzustufen sind als fachliche Qualifikationen. Die Erfüllung dieser Werte, also dessen, was jemandem bei der Arbeit wichtig ist, bestimmt seine grundsätzliche Zufriedenheit; der Verlust dieser Werte erzeugt Frustration, die Verletzung Ärger.
Ursprünglich ist Christian Lehmann Ingenieur geworden, um tüfteln, um entwickeln zu können – sein oberster Wert war Kreativität. Holte er sich früher die Anerkennung, die Freude an seinem Beruf über den Erfolg bei seiner Entwicklungsarbeit und seinen Patenten, ist sein Wertesystem durch die Beförderung zum Abteilungsleiter verloren gegangen. Das Resultat: Er reagiert enttäuscht, verärgert, frustriert.
Wollte das Unternehmen hier nun eingreifen und versuchen, Lehmann aktiv zu unterstützen, müssten seine Vorgesetzten eine immense Energie aufwenden: Beispielsweise einen Coach hinzuziehen, um ihm dadurch neue Impulse, Ideen oder Strategien zu vermitteln, wie er trotz veränderter Tätigkeit sein Wertesystem erfüllen kann. Das Wertesystem selbst, also der Sinn dafür, worauf jemand Wert legt, ist allerdings nicht veränderbar.
Die richtigen Weichen stellen
Die einzige Möglichkeit, solche Mühen und Anstrengungen zu vermeiden, ist von vornherein zu überprüfen, welche Werte angehende Führungskräfte haben: Arbeiten sie gerne mit Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten zusammen? Suchen Sie den Austausch? Oder sitzen sie lieber an ihrem Computer und beschäftigen sich Stunden damit, kniffelige Aufgaben zu lösen und zum Beispiel den nächsten Prototyp eines Turboladers zu entwerfen? Mögen sie zwischenmenschliche Herausforderungen oder sind ihnen derlei Dinge eher lästig? Bei letzterem ist ganz klar eher die Fachkarriere anzuraten. Denn gute Führungskräfte müssen vor allem eines gut können: Führen. Und das bedeutet, nicht all das selbst zu können, was Mitarbeitern abverlangt wird. Es bedeutet in erster Linie Vorbild für Menschenführung zu sein.
Deshalb der Rat für Unternehmen: Wählt Führungskräfte, die überdurchschnittlich gut mit Menschen umgehen können und die auch Führen wollen – und nicht automatisch die Besten ihres Fachs.