Psychische Erkrankungen treffen immer mehr Menschen, werden aber immer noch unterschätzt. Vor allem von ihren Vorgesetzten. Wer im Feierabend nicht abschalten kann, wegen der Arbeit schlecht schläft oder im Urlaub ständig an den Job denkt, sollte sich Hilfe suchen.
Aber viele Beschäftigte tun dies leichtfertig ab oder trauen sich nicht, Probleme im Job anzusprechen. Deshalb sind Chefs besonders gefragt, Warnsignale zu erkennen und die mentale Gesundheit ihrer Beschäftigten zu schützen. „Führung ist bei psychischer Gesundheit im Beruf ein Schlüsselfaktor“, unterstreicht Ina Schöllgen von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Die Zahlen sind alarmierend. Unter den Versicherten der Techniker Krankenkasse lagen psychische Störungen 2022 auf Platz zwei der Erkrankungen mit den meisten Fehltagen (17,5 Prozent). Die Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr erneut, wie fast durchgehend seit 2006. Der Anteil von psychischen Erkrankungen als Grund für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit stieg seit 1990 von knapp 14 auf mehr als 43 Prozent, wie aus Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung hervorgeht. Zwar spielt bei den steigenden Zahlen auch eine Rolle, dass solche Leiden von Ärzten und Betroffenen inzwischen ernster genommen werden. Damit wird das wahre Ausmaß des Problems aber erst deutlich.
Immer noch ein Stigma
Auch in Chefetagen seien Depressionen und Angststörungen immer noch stigmatisiert und tabuisiert, warnt der Psychologe Jürgen Walter. Noch immer gebe es Führungskräfte, die psychische Erkrankungen als ein Zeichen der Schwäche verstünden – und glaubten, es seien nur wenige Mitarbeiter betroffen und sie dafür keinesfalls verantwortlich. Dabei ist klar: Psychische Erkrankungen können jeden treffen und wirken sich direkt auf die Arbeitsleistung aus.
Vorgesetzte sollten laut Walter vor allem auf drei Bereiche achten: Sozialverhalten, Stimmung und das Arbeitsverhalten. Ein Warnsignal kann es demnach sein, wenn sich ein Beschäftigter isoliert, reizbar oder ängstlich wird – oder es Spannungen zwischen den Mitarbeitern gibt. Unterlaufen einem Beschäftigten plötzlich mehr Fehler, schwankt seine Leistung oder fehlt er häufig, kann das laut dem Coach ebenfalls auf psychische Probleme deuten.
7 Risikofaktoren für psychische Erkrankungen im Job
Warnsignale: Pausen fallen aus, Überstunden, Arbeit in der Freizeit
Gegensteuern: effiziente Strukturen, Transparenz (Wer ist wofür verantwortlich? Passen unsere Prozesse zu unseren Aufgaben?), reibungslose Abläufe (Unterbrechungen reduzieren), angemessene Personalausstattung, gegebenenfalls Aufgabenspektrum ändern, Vertretungsmöglichkeiten, Fortbildungen für nötige Kompetenzen
Warnsignale: viele und knappe Abgabefristen, unnötige Arbeitsschritte, aufwändige (Abstimmungs-)Prozesse
Gegensteuern: weniger Bürokratie, Termine flexibel anpassen, Aufträge im Team priorisieren, Beschäftigte können bei Abläufen mitreden und sich für konzentriertes Arbeiten an ruhige Orte zurückziehen
Warnsignale: tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeiten werden überschritten, tägliche Ruhezeiten von mindestens elf Stunden werden nicht eingehalten
Gegensteuern: Arbeitszeiten erfassen; Arbeits- und Bereitschaftszeiten klar von Erholungszeiten abgrenzen; ausreichende und störungsfreie Pausen- und Erholungszeiten sicherstellen und für Beschäftigte planbar machen
Warnsignale: Spannungen zwischen Mitarbeitern, viele Konflikte, schlechte Zusammenarbeit
Gegensteuern: Aufgaben- und Rollenverteilung klar kommunizieren, eindeutige und einheitliche Regeln, wie persönliche Angriffe sanktioniert werden, Ansprechpartner für Betroffene, Training für Konfliktlösung und respektvolle Kommunikation anbieten
Warnsignale: Beschäftigte können bei der Arbeit mit Tod, schweren Verletzungen oder sexueller Gewalt konfrontiert werden
Gegensteuern: Betroffene akut und langfristig unterstützen, beispielsweise durch Notfallpläne oder ein betriebliches Erstbetreuungskonzept, die soziale Unterstützung stärken, traumatische Situationen weitestgehend verhindern, zum Beispiel durch organisatorische oder bauliche Veränderungen
Warnsignale: physische Erkrankungen und verminderte Produktivität
Gegensteuern: Gesundheits- und Sicherheitsprüfungen (etwa bei Lärm), Mitarbeiter befragen, Sicherheitsschulungen durchführen
Warnsignale: keine festen Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit
Gegensteuern: klare Regeln, wann der Beschäftigte im Homeoffice erreichbar sein muss, regelmäßiger Austausch mit Kollegen, informell per Videochat, aber auch vor Ort
Stress beziehungsweise eine zu hohe Arbeitsbelastung ist für Walter wie auch Schöllgen der Risikofaktor Nummer eins für psychische Probleme, die durch den Beruf entstehen. Aber wann genau wird es gefährlich? „Stress ist zum einen bedenklich, wenn es zu unmittelbaren Konsequenzen wie Unfällen und Fehlurteilen in Stresssituationen kommt“, erläutert die BAuA-Expertin. Riskant werde es zudem, wenn Stress nicht mehr in der Freizeit kompensiert werden könne.
„Mangelnde Erholung ist also als ein Warnzeichen zu sehen“, betont die Psychologin. Dazu zählt ihr zufolge, wenn man im Feierabend oder im Urlaub nicht abschalten kann oder wegen des Jobs schlecht schläft. Das habe schnell Konsequenzen, warnt Schöllgen: Je stärker die Erholung beeinträchtigt sei, desto größer werde das Risiko für Erschöpfung, depressive Symptome sowie verminderte Arbeitsfähigkeit.
Wenn sich Führungskräfte fragen, auf welche Mitarbeiter sie besonders achten sollten, liegen einige Antworten nahe. So sind Frauen stärker betroffen. Psychische Erkrankungen waren zuletzt der Grund für Berufsunfähigkeitsrenten bei 49 Prozent der Empfängerinnen und bei 37 Prozent der Empfänger. Ähnlich sah das Geschlechterverhältnis bei den Fehltagen in der TK-Statistik aus. „Frauen üben öfter Berufe aus, die Kontakt mit Menschen und schwierigen sozialen Situationen mit sich bringen“, erklärt Walter die Diskrepanz. Neben dem Gesundheits- und Sozialwesen seien psychische Probleme besonders häufig in der öffentlichen Verwaltung und Sozialversicherung, dem Bildungswesen sowie in Banken und Versicherungen zu finden.
„Hohe psychische Arbeitsanforderungen treten auch bei Erwerbstätigen mit überwiegend körperlichen Tätigkeiten auf, zum Teil sogar häufiger als bei anderen Erwerbstätigen“, betont Schöllgen. Besonders häufig über depressive Symptome klagen laut der Psychologin körperlich tätige Menschen mit höherer Qualifikation, zum Beispiel Instandhaltungstechniker oder Facility-Manager.
Auch alleinerziehende Eltern sind laut den Experten überdurchschnittlich stark von psychischen Problemen betroffen, ebenso wie Arbeitnehmer mit niedrigem Bildungsstand. Chronische Gesundheitsprobleme anderer Art könnten die Psyche ebenfalls in Mitleidenschaft ziehen, ergänzt Walter: „Menschen, auf die ein oder mehrere dieser Faktoren zutreffen, haben also eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, zu erkranken.“
Hilfe holen bei physischen Problemen
Wenn sich Erschöpfung einstellt, ist die Ursache allerdings oft diffus – und Symptome lassen sich nicht immer klar benennen. „Wenn man merkt, dass einen die Arbeit mental überlastet, man aber nicht klar ausmachen kann, was los ist, ist der allererste Schritt, sich an eine Vertrauensperson zu wenden“, rät Walter. Das Gespräch mit Familie, Freunden oder Kollegen könne die Last nehmen, sich mit seinem Problem alleingelassen zu fühlen.
Im Unternehmen könne man sich an den Betriebs- oder Personalrat wenden. Als nächstes solle man seinen Hausarzt aufsuchen. Der könne körperliche Erkrankungen ausschließen und an einen qualifizierten Psychotherapeuten weiterleiten, rät der Experte.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Vorgesetzte können laut Schöllgen mit einer Gefährdungsbeurteilung vorbeugen. Diese schließe auch psychische Belastung ein. Eine Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungen gibt dazu Tipps und stellt Checklisten zur Verfügung. Diese Prävention ist keine Kür, sondern Pflicht für Arbeitgeber, wie Walter unterstreicht. Firmen seien nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, die Arbeitsbedingungen nach möglicher Gefährdung zu überprüfen. Psychische Belastung wird dabei im Gesetz explizit genannt.
Für Arbeitgeber gibt es laut den Experten eine Fülle von einfachen Möglichkeiten, die psychische Gesundheit ihrer Belegschaft zu schützen. Walter nennt als Beispiele Entspannungsräume, soziale Ansprechpartner, Betriebssport sowie Kurse zur Rückengesundheit und Stressbewältigung. Wichtig sei auch, dass das Aufgabenprofil wirklich zu dem Mitarbeiter passe und es für extro- oder introvertierte Beschäftigte passende Kommunikationswege gebe – von der Gruppendiskussion über das Vieraugengespräch bis zum schriftlichen Austausch.
Schöllgen unterstreicht, wie wichtig bei diesem Thema die arbeitsmedizinische Vorsorge ist. Unternehmen sollten Beschäftigten die Möglichkeit geben, möglichst früh auf psychische Belastungen im Job hinzuweisen. Freiwillige Angebote wie eine psychosomatische Sprechstunde im Betrieb oder präventives Gesundheitscoaching könnten verhindern, dass Beschwerden chronisch würden. Wichtig sei auch ein gutes Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) für Beschäftigte, die länger als sechs Wochen innerhalb eines Jahres arbeitsunfähig sind.
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