Die 19 schaffen wir nicht“, raunt Boris Ziganke seinem Chef zu. Der Börsenmakler von Scheich & Partner muss gleich den ersten Kurs für den Börsenneuling Talanx berechnen. Anleger haben die Versicherer-Aktie zu 18,30 Euro gezeichnet, jetzt hoffen alle auf einen Kurs über 19. Doch die Vorzeichen sind nicht gut; Talanx-Chef Herbert Haas hatte den Börsengang erst angekündigt, dann abgesagt und dann doch durchgezogen. Zu allem Überfluss eröffnet der Dax an diesem Morgen vor dem Einheits-Feiertag 50 Punkte im Minus.
Haas steht vor Zigankes Maklerschranke, umringt von Fotografen und Kamerateams, und wartet auf die erste Kursschätzung. Um 9.05 Uhr wagt Ziganke sie: „18,50 bis 19,20 Euro.“ Der Dax rauscht weiter nach unten. Ziganke telefoniert hektisch mit der Deutschen Bank, die den Börsengang an vorderster Stelle organisiert. Endlich, um 9.24 Uhr, verkündet er den ersten Kurs: 19,05 Euro.
Spürbare Erleichterung
Applaus. Die Deutsche Bank hat tatsächlich einen Kurs über 19 hinbekommen. Auf der großen Börsentafel dreht auch der Dax nun langsam ins Plus. „Talanx zieht den Dax“, witzelt Wolfram Schmitt, der für den Versicherer Investoren betreut. Das ist zu viel der Ehre; der Talanx-Kurs bröckelt wieder ab, aber die Erleichterung auf dem Frankfurter Parkett ist spürbar: Der erste große Börsengang des Jahres ist geglückt, und der deutsche Leitindex demonstriert in dieser goldenen Oktoberwoche erneut seine Stärke. Seit dem Tief von Anfang Juni stieg er von 6.000 auf 7.350 Punkte – ein Plus von fast 23 Prozent in nur vier Monaten.
Es scheint, als hätten die Anleger negative Signale ausgeblendet, die aus aller Welt an die Börse drängen:
- Chinas Wachstum flaut ab. Jüngsten Daten zufolge wuchs die Wirtschaft zuletzt im Vergleich zum Vorjahr nur noch um sieben Prozent; in den kommenden Jahren könnte sich das Wachstum von früher acht bis elf auf drei bis sechs Prozent einbremsen, befürchten die Analysten der Société Générale. Für viele deutsche Konzerne ist China nicht der größte, aber der am schnellsten wachsende Markt. Nachlassende Dynamik könnte nicht ohne Folgen bleiben für Umsätze und Aktienkurse.
- Europa ist von einer Lösung seiner Schuldenprobleme weit entfernt, Spanien und Italien schlittern immer tiefer in die Rezession. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis eines der beiden Länder dem Beispiel Irlands, Portugals und Griechenlands folgen wird und Hilfe aus dem ständigen Rettungsschirm der Euro-Zone (ESM) beantragen muss. Nach Schätzung der Ratingagentur Moody´s brauchen allein Spaniens marode Banken bis zu 105 Milliarden Euro aus den Rettungstöpfen. Griechenland hat sich derweil als das befürchtete Fass ohne Boden entpuppt; weder Schuldenschnitte noch Hilfszahlungen und harsche Sparprogramme haben bislang die Wende einleiten können.
Flut schlechter Daten
- In den USA ist die Lage nicht viel besser als in Europa. Zwar stabilisierten sich zuletzt die Häuserpreise, deren Verfall am Anfang der Finanzkrise stand. Doch hohe Arbeitslosigkeit und die klamme öffentliche Hand bremsen die Konjunktur. Die USA dürften nur über ihre Re-Industrialisierung nachhaltiges Wachstum schaffen können – Häuserbau, Handel und Service werden auf Dauer nicht ausreichen. Doch gerade die Industrieinvestitionen schwächeln. Analysten rechnen für das Gesamtjahr 2012 nur noch mit maximal zwei Prozent US-Wachstum – auf Dauer zu wenig.
- Der an der Börse viel beachtete deutsche ifo-Index sank zuletzt zum fünften Mal in Folge, ein klares Rezessionssignal. Der Index gilt als einer der besten Frühindikatoren für die Börse.
- Das Gewinnwachstum der meisten Unternehmen schwächt sich deutlich ab. Einige Dax-Konzerne, wie Daimler oder der Chiphersteller Infineon, mussten ihre Prognosen für das 2012 schon deutlich nach unten korrigieren.
Wie lange also kann die Rally im Dax der Flut schlechter Daten noch standhalten?
Mit neuem Geld
Dass die Börse im Moment alles in Rosa sieht, ist vor allem zwei Herren zu verdanken: Ben Bernanke und Mario Draghi, den Präsidenten der Notenbanken Federal Reserve und Europäische Zentralbank (EZB). Sie kaufen Staatsanleihen und andere Papiere gegen Dollar und Euro auf und fluten die Banken so mit frischem Geld. „Dieses Geld fließt zu einem guten Teil an die Börsen, es wird die Kurse nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig befeuern“, sagt Klaus Schlote, Chef des Research beim Broker Solventis.
Falls Spanien als erstes großes Euro-Land Hilfen beim Euro-Rettungsfonds ESM beantragen muss, wäre dies aber keine Horrormeldung für die Börsen mehr. „Inzwischen würde diese Meldung kurzfristig sogar weitere Kursgewinne auslösen, der Weg wäre dann frei für die EZB, spanische Staatsanleihen zu kaufen und die Märkte weiter mit Geld zu fluten“, sagt Ralf Zimmermann, Kapitalmarktstratege des Vermögensverwalters Döttinger/Straubinger.
„Man sollte den Einfluss der Notenbank-Liquidität auf die Aktienmärkte keinesfalls unterschätzen, die Börsen haben schon immer positiv auf eine solche Geldflut reagiert“, sagt der renommierte Vermögensverwalter Jens Ehrhardt, der sich auf die Zusammenhänge zwischen Geldpolitik und Börsenperformance spezialisiert hat. „Das Geldmengenwachstum hat sich als sehr guter Indikator für die Entwicklung der Aktienkurse erwiesen, und diese Ziffer steigt gerade, vor allem in den USA.“
Rettende Geldflut
Natürlich muss irgendwann die Konjunktur wieder anspringen, sonst geht jeder liquiditätsgetriebenen Rally die Puste aus. Danach sieht es im Moment noch nicht aus. „Aber die Börse läuft der Wirtschaft in der Regel um sechs bis zwölf Monate voraus“, sagt Schlote, „es ist auch möglich, dass die derzeit schlechten Nachrichten aus Spanien, Italien und China schon den Tiefpunkt des aktuellen Konjunkturzyklus markieren; im Moment wettet der Markt auf eine bessere Konjunktur ab 2013.“
Das Schlimmste haben die Notenbanken mit ihrer Geldflut den Euro-Krisenländern fürs Erste erspart. „Es ist den Zentralbanken gelungen, das Risiko eines baldigen unkontrollierten Auseinanderbrechens der Euro-Zone deutlich zu vermindern“, so Schlote. Ansonsten wären Bankenpleiten unausweichlich gewesen.
Mit Vollgas in die Inflation?
So verwundert es nicht, dass vor allem die Aktien von Banken und Versicherungen zuletzt die Rally befeuert haben. „In den Bankaktien waren zuvor Staatspleiten, Verstaatlichung oder Zerschlagung eingepreist“, sagt Zimmermann. Doch jetzt fallen die Zinssätze am Interbankenmarkt, zu denen sich Banken gegenseitig Geld leihen, auch die Kosten für Kreditausfallversicherungen signalisieren Entspannung. Zwar ist es zweifelhaft, ob die Politik der Notenbanken auf Dauer der Realwirtschaft – dem Handwerker, dem Maschinenbauer, dem Chemiekonzern – hilft oder ob sie nur neue Preisblasen aufpumpt und am Ende gar zu galoppierender Inflation führt. Zudem reagierten die Börsen zuletzt verhalten auf die Ankündigung weiterer Geldspritzen.
„Solange neue Schocks ausbleiben, etwa ein Angriff Israels auf den Iran, dürfte es zumindest zu keinem starken Einbruch an der Börse kommen, wenn die Notenbanken die Märkte weiter mit Geld fluten“, meint Zimmermann. „Dazu gibt es zu viele Investoren, die genau auf die Geldmengen schauen und bei deren Wachstum zumindest nicht verkaufen, meistens zukaufen.“
„Aktien sind besonders im Vergleich zu Anleihen nach wie vor attraktiv bewertet“, sagt Ehrhardt. So liegt das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der Dax-Werte auf Basis der 2013 erwarteten Gewinne bei zehn; der historische Durchschnitt liegt bei rund 14. „Da ist bereits eine Menge an schlechten Nachrichten in den Kursen drin“, meint Zimmermann. Hinzu kommt, dass Anleger immer weniger Alternativen zu Aktien haben, wenn sie real, also nach Abzug der Inflation, noch eine Rendite erzielen wollen: Deutsche Staatsanleihen bringen derzeit 1,2 Prozent; nach Inflation verlieren Anleger also Kaufkraft.
Großanleger stützen Börse
Die Folge: Großanleger schichten um. Allianz-Chef Michael Diekmann kündigte an, keine Staatsanleihen mehr mit neuen Kundengeldern kaufen zu wollen. Der weltgrößte Anleihemanager Pimco, eine Allianz-Tochter, will massiv von Anleihen in Aktien umschichten. Ehrhardt ist überzeugt: „Bei vielen Pensionsfonds, Staatsfonds und Versicherern, gibt es solche Pläne. Das wird die Börse weiter stützen.“
Dabei kaufen die Kapitalsammelstellen alle ähnlich ein: „Sie suchen große, weltweit operierende Konzerne mit hohen Cash-Flows, soliden Bilanzen und stabilen Dividenden“, beobachtet Dominic Wilson, Goldman-Sachs-Analyst, „diese Käufe lassen sich in den Anlageausschüssen leichter durchsetzen, und die Dividenden bringen den Versicherern genau jene regelmäßigen Renditen über der Inflation, die sie dringend brauchen.“ Zyklische, also stark von der derzeit schwächelnden Konjunktur abhängige Unternehmen, wie Maschinenbauer, Stahlkonzerne oder Automobilhersteller, lassen sie links liegen.
Trotz relativ hoher KGVs sollten sich Anleger weiter an Substanzaktien halten, deren überdurchschnittliche Entwicklung dürfte anhalten. „Wir beobachten an der Börse ein ähnliches Phänomen wie am Immobilienmarkt“, sagt Frank Ebach, Leiter der Kölner Niederlassung der BHF-Bank, „nach Qualität und 1a-Lagen steigt die Nachfrage ungebremst, 1b wird mit überhöhtem Risiko gleichgesetzt und gemieden.“ Anleger, die nur Zinspapiere und Tagesgeld haben, können – trotz der bisher nur auf billigem Notenbankgeld fußenden Rally – einen Teil ihres Vermögens in Dax-Aktien investieren. Zumal der Index weiter besser laufen sollte als andere Börsen.
Deutscher Wettbewerbsvorteil
„Sehr viele deutsche Firmen haben sich Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten aus Europa und den USA erarbeitet“, sagt Schlote, „dass deutsche Produkte auf dem Weltmarkt, speziell in Asien, erfolgreicher sind als amerikanische, liegt nicht nur am schwachen Euro.“ So konnte der Softwareriese SAP dank neuer Produkte dem Konkurrenten Oracle aus den USA viele Kunden abjagen; auch BASF baut seine Weltmarktführerschaft weiter aus; selbst zuletzt gebeutelte Werte, wie der unter der Energiewende leidende Versorger E.On oder die Telekom, bieten nun Chancen.
Die WirtschaftsWoche hat neun aussichtsreiche Papiere aus dem Dax ausgewählt: drei solide Dax-Werte, die in keinem Depot fehlen sollten, drei Nachzügler mit hoher Dividendenrendite und drei Papiere für eine offensive Spekulation.