Käme es zum Austritt eines Landes oder einem Zerfall der Euro-Zone wären die Folgen gravierend. Die Weltwirtschaft würde in eine tiefe Rezession stürzen und gerade Deutschland wäre erheblich getroffen. Schon 2015 habe ich an dieser Stelle die Konsequenzen für die Geldanlage diskutiert.
Was der Abschied der Briten bedeutet
Er gilt als das Herzstück der Europäischen Union seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 und der Europäischen Zollunion 1968. Großbritannien trat 1973 bei. Vollendet wurde der Binnenmarkt mit dem Vertrag von Maastricht 1992. Als Eckpfeiler gelten die „vier Freiheiten“: Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Das heißt, die gut 500 Millionen EU-Bürger können in den 28 EU-Staaten kaufen, arbeiten und investieren, wo sie wollen.
Die EU-Länder erkennen gegenseitig ihre Regeln an und alle gemeinsam die EU-Richtlinien und Verordnungen. Die EU-Kommission ist die Überwachungsinstanz. Sie maßregelt Länder, die den Wettbewerb verzerren, ob nun mit Subventionen oder unfairen Steuervorteilen. Auch Kartelle nimmt Brüssel regelmäßig ins Visier. Üblich sind millionenschwere Bußgelder. Die EU-Gerichte bieten einen Rechtsweg.
Die 28 EU-Staaten machen dank gemeinsamer Regeln und Zollfreiheit untereinander weit mehr Geschäfte als mit Partnern außerhalb der Gemeinschaft. So hatte allein der Warenverkehr untereinander 2015 laut der Statistikbehörde Eurostat ein Volumen von 3,07 Billionen Euro - 71 Prozent mehr als mit dem Rest der Welt. Deutschland hat einen Anteil von gut einem Fünftel: 22,6 Prozent aller Warensendungen innerhalb der EU kommen aus Deutschland, 20,9 Prozent aller in der EU verschifften Güter enden dort.
Der Handel in der EU ist für Großbritannien weniger wichtig als für die Bundesrepublik. Sein Anteil an den innerhalb der EU versendeten Güter lag laut Eurostat 2015 bei 10,2 Prozent. Es ist auch das einzige Mitgliedsland, das innerhalb der EU weniger Handel treibt als mit Drittstaaten - gemessen jeweils an Aus- und Einfuhren zusammen.
Großbritannien bezieht trotzdem rund die Hälfte seiner importierten Waren aus der EU und liefert auch etwa die Hälfte seiner Exporte dorthin, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2015 analysierte. Noch bedeutender sind britische Dienstleistungen: Hier erwirtschaftete das Königreich 2014 laut IW in der EU einen Überschuss von 19,1 Milliarden Euro, vor allem mit Finanzdienstleistungen. Eng verwoben sind beide Seiten auch in Wertschöpfungsketten. Es werden eben nicht nur fertige Produkte gehandelt, sondern auch Teile und sogenannte Vorleistungen. Hier könnte sich ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt besonders negativ auswirken, schließt das IW.
Die britische Regierung sieht die wirtschaftlichen Vorteile und würde sie gerne weiter nutzen. Eine der vier Freiheiten macht ihr jedoch politisch zu schaffen: die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern. Allein aus Polen kamen insgesamt 870 000 Menschen. Die Brexit-Befürworter beklagen den Druck auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und wollen die Freizügigkeit stoppen. Die übrigen EU-Länder geben sich aber lhart: Zugang zum Binnenmarkt gebe es nur mit allen vier Freiheiten, „Rosinenpicken“ komme nicht in Frage.
Großbritannien ginge der ungehinderte Zugang zu einem Markt mit knapp 450 Millionen Menschen verloren. London hätte dafür bei Subventionen und Steuervorteilen freie Hand und könnte Kapital anlocken. Bei einem Ausscheiden aus der Zollunion wären wieder Zölle zwischen Großbritannien und dem Kontinent denkbar. Das Königreich könnte auch mit eigenen Handelsbündnissen, etwa mit den USA, der EU eins auswischen. Wahrscheinlich ist jedoch eine Verhandlungslösung. Premierministerin May sagte am Dienstag, sie wolle den weiteren Zugang zum Binnenmarkt mit einem „umfassenden Handelsabkommen“ sichern. Ein Zollabkommen wolle sie ebenfalls. IW-Brexit-Experte Jürgen Matthes erwartet ein Geben und Nehmen, das heißt, je mehr EU-Einfluss Großbritannien zulässt, desto mehr Marktzugang kann es erwarten. Kommen beide Seiten nicht überein, wären sie immerhin noch über die Welthandelsorganisation WTO verbunden.
In einer aktuellen Studie greift die Deutsche Bank das Thema auf. Zunächst betont die Bank, dass es sich um ein unwahrscheinliches Szenario handelt, bevor sie eine detaillierte Simulation durchspielt, deren Ergebnisse es in sich haben:
Nach dem Kaufkraftindex kommt die Deutsche Bank zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass der Euro für Deutschland zu tief und für Spanien, Griechenland und Portugal zu teuer ist. In Summe ist der Euro nach diesem Modell unterbewertet. Übersetzt hieße das, eine neue Deutsche Mark würde aufwerten, während Pesete, Drachme und Escudo verlören. Eine sehr schlechte Nachricht für die deutsche Exportwirtschaft. Die Unterbewertung des Euro ist zudem auch dem Protektionisten im Weißen Haus ein Dorn im Auge.
- Die Autoren blicken auf Frankreich, wo Marine Le Pen sich besonders große Vorteile aus einem Euro-Austritt ausrechnet. Nach den Analysen ist Frankreich, wenn überhaupt, unterbewertet, weshalb sich kein Abwertungsgewinn ergeben dürfte. Dieser wäre nur Folge der dann geänderten Wirtschaftspolitik, die auf notenbankfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme setzt.
- Natürlich bliebe es nicht bei diesen moderaten Anpassungen. Die Bank geht davon aus, dass dem Zerfall Kapitalverkehrskontrollen vorausgehen, nachdem die EZB das Target-II-System ausgesetzt hat. Noch ist das nicht wahrscheinlich, sollte sich der derzeitige Trend jedoch fortsetzen, dürfte der politische Druck stark zunehmen, dem demokratisch nicht legitimierten Finanzausgleich durch die Hintertür ein Ende zu setzen. In der Folge würde der Euro an den internationalen Kapitalmärkten massiv unter Druck geraten. Es käme zu einer tiefen Rezession und damit verbunden einer nachhaltigen Verminderung der Produktivität der betroffenen Volkswirtschaften sowie höherer Inflation. Spanien, Griechenland, Portugal und Italien würden um mehr als 40 Prozent abwerten.
- Hinzu käme eine erhebliche Kapitalflucht aus dem (ehemaligen) Euro-Raum, der von der Bank auf mindestens 500 Milliarden Euro geschätzt wird. Dies hätte eine weitere Abwertung des Euro beziehungsweise seiner Nachfolgewährungen zur Folge.
- Gegenmaßnahmen der Notenbanken wären zu erwarten und dürften den Zins für zehnjährige US-Staatsanleihen auf ein Prozent und den auf deutschen Staatsanleihen noch deutlicher in den Negativbereich drücken. Damit könnten die Notenbanken das Chaos etwas mildern.
- Käme es bei der Wahl in Frankreich zum überraschenden Sieg von Marine Le Pen, würde der Euro in Erwartung der oben beschriebenen Effekte um 25 Prozent gegenüber dem Dollar stürzen, so die Studie der Deutschen Bank.
Kurz gefasst, es handelt sich um ein Armageddon-Szenario. Kritiker mögen der Deutschen Bank unterstellen, die negativen Folgen bewusst dramatisch zu umschreiben, weil es im Geschäftsinteresse liegt, den Euro zu erhalten. Ich würde das nicht tun, sind die Annahmen doch plausibel begründet.
Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat
Als Großbritannien 1963 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Gründerstaaten beitreten will, legt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle sein Veto ein. Großbritannien sei weder politisch noch wirtschaftlich reif, argumentiert er. Erst sein Nachfolger Georges Pompidou bringt die Wende. Der Beitritt der Briten gelingt 1973 - zehn Jahre nach dem ersten Antrag.
Quelle: dpa
Von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre schwächelt die Gemeinschaft wirtschaftlich und politisch. Von „Eurosklerose“ ist die Rede. Die Konkurrenz aus den USA und Japan macht dem europäischen Markt zu schaffen. Die Mitgliedsländer versuchen, ihre Märkte zu schützen und nationale Interessen durchzusetzen. Die Krise wird überwunden durch neuen Schwung nach den Beitritten von Spanien und Portugal und dem Plan eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
Es soll der Startschuss zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Doch die Dänen sagen in einem Referendum Nein zum Vertrag von Maastricht und setzen das politische Europa 1992 unter Schock. Elf Monate vergehen, bis ein Kompromiss mit Sonderrechten ausgehandelt wird, dem die Dänen zustimmen.
Mehrere Mitglieder der vom Luxemburger Jacques Santer geführten EU-Kommission müssen sich einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament wegen möglicher Betrugsaffären stellen. Ein von „fünf Weisen“ erstellter „Bericht über Betrug, Missmanagement und Vetternwirtschaft“ besiegelt kurz darauf das Schicksal der Santer-Kommission. Das gesamte Kollegium tritt im März 1999 zurück.
Mehr Demokratie und Transparenz - darum geht es 2005 in dem mühsam ausgehandelten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der damals 25 EU-Staaten. Doch die Franzosen und die Niederländer lehnen die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen ab. An ihre Stelle tritt letztlich 2009 der Vertrag von Lissabon, der ähnliche Ziele verfolgt.
Wette auf die Politik ist riskant
Angesichts dieser dramatischen Gefahren könnte man als Bürger und Investor denken, dass die Politik alles tut, um die Euro-Zone auf eine stabile Grundlage zu stellen. Doch weit gefehlt. Die grundlegenden Probleme der Überschuldung, des bankrotten Bankensystems und der auseinanderlaufenden Wettbewerbsfähigkeit bleiben trotz vereinzelter Fortschritte ungelöst. Stattdessen durfte die EZB mit Negativzinsen die Währungsunion zusammenhalten und die Zinskosten der Staaten um Hunderte Milliarden Euro senken. Das reduziert die Schmerzen, ändert aber nichts an der Krankheit. So wachsen die Spannungen in der Euro-Zone immer weiter. Kein Wunder, dass nach einer Studie des Hedgefonds Bridgewater der Zuspruch für radikale Parteien auf dem höchsten Stand seit den 1930er Jahren liegt. Unsere Depression läuft im Unterschied zu damals in Zeitlupe ab, was es nicht besser macht.
Als Investor muss man erkennen, dass meine Gedanken zur Positionierung für den Fall der Fälle reichlich naiv waren. Es ist zwar richtig auf Aktien der Peripherie und Anleihen aus Deutschland zu setzen. Zur Sicherung von Vermögen wird es jedoch nicht genügen. Dazu müssen wir das tun, was die Profis schon lange tun: Die Euro-Zone untergewichten, egal wie billig sie auch sein mag.