Rentnerparadies Florida Wie reiche Rentner verarmen

Vielen älteren Bürgern aus der amerikanischen Mittelschicht droht der soziale Abstieg. Besonders betroffen: das klassische Rentnerparadies Florida.

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Zum Verkauf stehendes Haus in Miami: Rentner Rafael Diaz wird seine Immobilie nicht los – obwohl er den Preis schon um ein Drittel gesenkt hat Quelle: Laif

Bevor die Börse im Jahr 2008 endgültig zusammenbrach, war die Welt für David und Priscilla Williams noch in Ordnung. Viele kalte Winter, so das Kalkül des Ehepaares, wollte man nicht mehr in Philadelphia verbringen. Und die Rechnung schien aufzugehen: Das Angesparte reichte schon fast aus, um einen komfortablen Ruhestand im sonnigen Florida zu ermöglichen. Ein schmuckes Anwesen, irgendwo in einer der vielen neuen Wohnanlagen, vielleicht sogar mit Blick auf einen kleinen See – so der tropische Traum des Paares.

Zwei Jahre noch wollten die Williams arbeiten, dann sollte der Umzugswagen anrollen. Doch die Wall Street machte dem freundlichen Paar aus Pennsylvania einen dicken Strich durch die Rechnung. „Jetzt können wir frühestens in fünf Jahren wieder an unsere Pensionierung denken“, schätzt David Williams. Seine Nerven liegen blank. „Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise bin ich drei Wochen lang herumgelaufen wie ein Zombie“, erinnert er sich. „Oft habe ich schon mitten in der Nacht den Computer angeschaltet, um zu sehen, wie die Märkte in Japan und Europa eröffneten – ein Albtraum!“

Aus der Traum

So wie den Williams geht es in den USA derzeit vielen der sogenannten Babyboomer. Während es vor ein paar Jahren unter Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlern noch als ausgemachte Sache galt, dass die in der Nachkriegszeit von 1946 bis 1964 Geborenen so wohlhabend in Rente gehen würden wie keine Generation vor ihnen, wurde diese Einschätzung innerhalb der letzten zwei Jahre ad absurdum geführt. Der Einbruch der Finanz- und Immobilienmärkte warf viele Kalkulationen über den Haufen: Das eigene Haus ist plötzlich weit weniger wert, das Aktienportfolio auf Miniformat geschrumpft. Und die Aussicht auf ein sorgloses Leben am Pool und unter Palmen oft nur noch Makulatur. Das dürfte dramatische Folgen für klassische Rentner-Regionen wie den Sonnenstaat Florida haben. Der unaufhörliche Strom rüstiger Oldies war lange Zeit ein wichtiger Faktor im Wirtschaftsmix des „Sunshine States“. Doch die Senioren beginnen auszubleiben: Viele von ihnen ziehen in Südstaaten mit niedrigeren Lebenshaltungskosten wie Alabama und Texas oder bleiben mangels Barem gleich ganz im kalten Norden.

Drei Billionen Dollar in Luft aufgelöst

Für Suzanne Cook, Chefin des Informationsdienstes StockSmart.com, bedeutet der Zusammenbruch der Börsen gerade für Senioren eine Katastrophe. Seit Oktober 2007 haben US-Aktien fast die Hälfte ihres Wertes verloren. „Wer jetzt in Rente gehen will, hat natürlich keine Zeit mehr, die Krise auszusitzen und auf eine Erholung der Kurse zu hoffen“, so Cook. Hinzu kommt der dramatische Preisverfall bei US-Wohnimmobilien. Seit Mitte 2006 haben sich Werte in Höhe von gut drei Billionen Dollar in Luft aufgelöst. Im Schnitt hat jeder amerikanische Eigenheimbesitzer mehr als 50.000 Dollar verloren, ermittelte das Center for Economic Policy Research in einer Studie. Und die Babyboomer trifft es überdurchschnittlich hart: Sie neigten in guten Zeiten dazu, ihr Haus eine oder gleich mehrere Nummern größer zu kaufen, als sie es sich eigentlich hätten erlauben können.

Dass die derzeitige Baisse auch den Lebensplan manch wohlsituierter Rentner durcheinanderbringen kann, zeigt das Beispiel von Jack und Gail Wroldsen. Auf den ersten Blick leben die beiden einen überaus komfortablen Ruhestand: Den Sommer verbringt das Paar in seinem Haus in Southampton bei New York, im Winter genießen sie die warme Sonne Floridas in ihrem schmucken Anwesen in Siesta Key am Golf von Mexiko, Bootssteg und Blick aufs Wasser inklusive. Typische Winterflüchtlinge („Snowbirds“) eben. Doch der Crash an den Börsen und der Verfall der Immobilienpreise traf auch die Wroldsens hart. Weil ein großer Teil ihres Vermögens in Immobilien gebunden ist, sehen sie sich nun möglicherweise gezwungen, ihre Bleibe im Sunshine State aufzugeben.

„Die laufenden Kosten für zwei Wohnsitze sind einfach zu hoch“, sagt Gail Wroldsen, die früher als Immobilienmaklerin auf Long Island gearbeitet hat. Die Sommervermietung ihres Anwesens in Southampton soll den Wroldsens jetzt helfen, doch noch unbeschadet durch den Abschwung zu kommen. Doch der Ausgang ist ungewiss. Gail Wroldsen: „Das hängt ganz von der Entwicklung der nächsten Monate ab.“

Ruhestand rückt für viele in weite Ferne

Jose Abrahantes sind fallende Hauspreise indes ziemlich wurscht. 50 Jahre lang hat der Einwanderer aus Kuba in allen möglichen Jobs gerackert, um sich und seine Familie einigermaßen über Wasser zu halten: Als Bauarbeiter, als Gärtner, nachts als Reinigungsmann in einer Putzkolonne. Seine Hoffnung: einmal friedlich in Rente zu gehen. Eine unvorhergesehene Operation machte jedoch die hoffnungsvollen Planungen des Einwanderers zunichte: Abrahantes konnte sich keine Versicherung leisten, blieb auf den Krankenhausrechnungen sitzen. Jetzt hat er Konkurs angemeldet. Und der Ruhestand ist für den 66-Jährigen in weite Ferne gerückt. In der Supermarktkette Publix arbeitet Abrahantes nun aushilfsweise – für acht Dollar die Stunde. „Natürlich war mir das Ganze unglaublich peinlich“, sagt Abrahantes, der mit seiner Frau Carmen in Miamis Stadtteil Little Havana ein kleines Appartement angemietet hat. „Doch mir blieb nichts anderes übrig.“

John Randal versucht, gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Claudette Neale, Leuten wie Abrahantes zu helfen. Der knorrige Angestellte der Seniorenorganisation AARP, der früher in der Computerbranche tätig war, leitet in Sarasota ein vom Arbeitsministerium gesponsertes Jobvermittlungsbüro für Senioren. Rund ein Dutzend dieser Einrichtungen gibt es inzwischen im Sunshine State, landesweit sind es viele mehr. Randals Telefon klingelt alle fünf Minuten. Es sind alte Menschen, die sich auf die lange Warteliste für die wenigen freien Stellen setzen lassen möchten. „Wir können uns über mangelnde Arbeit derzeit nicht beklagen“, lacht der Arbeitsvermittler. Jeden nimmt er freilich nicht. Gemäß Gesetz kommt nur in den Genuss eines solchen Jobs, wer älter als 55 Jahre ist und die Armutsgrenze unterschreitet.

Anteil der Alten an der US-Bevölkerung

Offiziell als arm gilt jemand in Florida erst, wenn er jährlich weniger als 13.535 Dollar verdient oder an Renten- und Sozialbezügen erhält. Ein zweiköpfiger Haushalt wird als hilfsbedürftig eingestuft, wenn das gemeinsame Einkommen des Paares im Jahr 18.212 Dollar nicht übersteigt. Derzeit sind 2,2 Millionen Menschen im Sunshine State arm – knapp zwölf Prozent der Bevölkerung. Und ein Zehntel der Senioren lebt sogar in extremer Armut.

Immer häufiger klopfen bei Randal auch Rentner an, die sich eigentlich längst ins geruhsame Nichtstun verabschiedet hatten. „Bei vielen ist die private Betriebspension wegen des Börsencrashs auf ein Minimum geschrumpft“, berichtet Randal. „Und von der staatlichen Social-Security-Rente allein kann kaum jemand leben.“ Ihnen vermittelt der AARP-Mann Ausbildungsplätze und Teilzeitjobs für 18 Stunden die Woche. Den Minimallohn – 5,25 Dollar – bezahlt das Arbeitsministerium, AARP legt 1,96 Dollar drauf. Nach drei bis sechs Monaten spätestens soll der betagte Azubi im Privatsektor unterkommen, damit der Platz frei wird für den nächsten. Die Chancen für die Oldies stehen nicht einmal schlecht: In den USA ist Job-Diskriminierung aufgrund des Alters verboten. Und manche Unternehmen wie etwa die Supermarktkette Publix setzen gezielt auf betagtere Aushilfskräfte, weil diese zeitlich flexibler sind. „Unser ältester Mitarbeiter ist derzeit 94 Jahre alt“, sagt Maria Brous, Pressesprecherin von Publix.

Einstellung zur Arbeit wird neu definiert

Arbeitsvermittler Randal hat früh gespürt, dass der wirtschaftliche Abschwung diesmal klassenübergreifend ist. „Zum ersten Mal seit 1991 fiel im vergangenen Jahr das Realeinkommen mittelständischer Haushalte“, sagt er. Immer mehr Amerikaner im arbeitsfähigen Alter und deren Kinder verlieren ihre Krankenversicherung, weil sie diese nicht mehr bezahlen können – unweigerlich setzt sich eine Abwärtsspirale aus dem Verlust persönlichen Wohlstands und dem Verlust sozialer Sicherheit in Gang. Betroffen sind nicht nur ethnische Minderheiten wie Lateinamerikaner oder Schwarze. Floridas Armut ist ein Problem der weißen Mittelklasse geworden, besonders betroffen sind ältere Menschen. Der Kursverlust an den Börsen zwingt viele Betagte nun, trotz Ruhestand wieder zu arbeiten, die Pensionierung zu verschieben oder ihren Lebensstil drastisch zu ändern.

Manche finden das nicht einmal bedenklich: Schon vor der Krise hätten ältere Babyboomer ihre Einstellung zur Arbeit neu definiert, glaubt Jeff Taylor, Präsident der Babyboomer-Online-Community Eons.com. Anders als ihre Eltern oder Großeltern empfänden Menschen im Pensionsalter heute den Übergang in den Ruhestand nicht mehr als „endgültig“. Statt im Schaukelstuhl zu sitzen, verdiene man sich bei Wal-Mart halt noch ein paar Dollar hinzu. Angesichts von gebrechlichen 80-Jährigen, die im Supermarkt schuften müssen, um sich abends eine warme Mahlzeit erlauben zu können, klingt das freilich zynisch.

Im Zahlungsverzug bei Hypotheken

Und arbeiten kann nur, wer noch einigermaßen gesund ist. Betty Kellogs eine 71-jährige Witwe in Saratoga, erholt sich gerade von einer Krebsoperation. Ihr Problem: Wegen der hohen Krankheitskosten kommt sie jetzt mit den Hypothekenzahlungen für ihr Haus nicht mehr nach, ihr droht die Zwangsvollstreckung. „Die Hypothekenbanken haben uns Alten in den vergangenen Jahren Finanzierungen aufgeschwatzt, die für uns überhaupt nicht bezahlbar sind“, schimpft die Rentnerin. Ende September waren 10,4 Prozent aller Immobilienschuldner in Florida mehr als 90 Tage im Zahlungsverzug oder es lief gegen sie bereits ein Zwangsversteigerungsverfahren – so viele, wie nirgendwo sonst in den USA und mehr als doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt. Betty Kellogs will alles versuchen, um finanziell über Wasser zu bleiben. Denn das Schicksal vieler ihrer Altersgenossen will sie nicht teilen: „Die wohnen jetzt in ihren Autos.“

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