Fachkräftemangel Die Mär vom Ingenieur-Mangel

Von wegen Fachkräftemangel. Eine Studie zeigt: Personalabteilungen sind oft selbst schuld an der Misere. Sie vernachlässigen das Potenzial älterer Ingenieure und stellen überzogene Anforderungen an Wiedereinsteiger.

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Steht bei den angehenden Wirtschaftswissenschaftlern und Ingenieuren als Arbeitgeber glänzend da: die BMW AG, dpa

Von wegen Fachkräftemangel. Eine Studie zeigt: Personalabteilungen sind oft selbst schuld an der Misere. Sie vernachlässigen das Potenzial älterer Ingenieure und stellen überzogene Anforderungen an Wiedereinsteiger.

Mit 51 Jahren ist Reiner Schäfer noch mal Praktikant. Monatelang hatte der arbeitslose Elektroingenieur einen Job gesucht, 98 Bewerbungen geschrieben und festgestellt, dass seine Kenntnisse nicht mehr gefragt waren. Er war raus aus Themen wie SAP, Leittechnik und Matlab/Simulink, mit denen Elektrotechniker heute arbeiten. Im Juli dieses Jahres startete er beim Schaltanlagenbauer Rittal daher ganz unten — es war seine letzte Hoffnung.

Die Initiative Q+ der örtlichen Arbeitsagenturen zusammen mit der Fachhochschule (FH) Gießen-Friedberg ebnete ihm diesen Weg: Wie er brachten sich 24 weitere arbeitsuchende Ingenieure über FH-Vorlesungen auf den aktuellen Wissensstand und starteten dann ein Praktikum in einem Betrieb. Acht von zehn Ingenieuren ergatterten so einen Job. Auch Schäfer: Seit November ist er bei Rittal fest angestellt.

Q+ ist ein Erfolgsprojekt. Und ein Beweis, dass viele qualifizierte Ingenieure trotz des Technikermangels nur schwer einen Job finden. Bei Weitem schöpfen Unternehmen nicht alle Möglichkeiten aus, wie eine exklusive Studie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) zeigt: Sie vernachlässigen die älteren Ingenieure und denken nur halbherzig an die eigenen Leute, etwa wenn es um Fortbildung geht. Die Misere auf dem Fachkräftemarkt haben sie daher zum großen Teil selbst zu verantworten.

Leugnen lässt sich der Technikermangel nicht. Rund 25 000 offene Stellen für Ingenieure wollen vor allem mit Maschinenbauern und Elektrotechnikern gestopft werden. Bei den Informatikern ist es dramatischer: Hier fehlen 43 000 Experten, vor allem Software-Entwickler und IT-Manager.

Dabei ist das Problem „hausgemacht“, sagt Gerhard Bosch, Geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation. „In Krisenzeiten wurde zu wenig eingestellt.“ Beispiel ABB Deutschland: Der Maschinenbaukonzern reduzierte Anfang des Jahrzehnts die Mitarbeiterzahl, obwohl der Fachkräftemangel „absehbar“ war, sagt Arbeitsdirektor Heinz-Peter Paffenholz. Heute rächt sich die Zurückhaltung: ABB fehlen „zwei bis drei Generationen mit jüngeren Mitarbeitern“.

Konzerne wie RWE und E.On boten Mitarbeitern ab dem 51. beziehungsweise 55. Lebensjahr noch bis vor drei Jahren Frühverrentungsprogramme an. 7500 Beschäftigte schieden allein bei RWE viel zu früh aus dem Erwerbsleben — darunter auch hoch qualifizierte Ingenieure.

Der heutige Engpass ist damit auch Resultat einer kurzsichtigen Personalplanung. Für die Fachbereiche Maschinenbau, Elektro- und Verfahrenstechnik war schon „seit Jahren klar, dass bei einer konjunkturellen Erholung der Wirtschaft die verfügbaren Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen in kürzester Zeit erschöpft sein würden“, sagt Bernd Kriegesmann, Vorsitzender des Instituts für angewandte Innovationsforschung (IAI) an der FH Gelsenkirchen.

Personalabteilungen versagen heute noch an breiter Front. Die Anforderungsprofile der Unternehmen an Ingenieure sind „viel zu spitz“, sagt Outplacementberater Alexander Panitzki. Das Problem ist, dass Unternehmen eine „gegen null tendierende Kompromissbereitschaft“ an den Tag legen. Technische Führungskräfte würden bevorzugt die Jahrgangsbesten oder Berufserfahrene einstellen, die sofort produktiv sind. Genau so klingen dann auch die Stellenanzeigen: Gesucht werden „kompetente, junge und billige“ Ingenieure, sagt Timo Taubitz, Geschäftsführer des VDI Wissensforums, des Weiterbildungsträgers des VDI. Firmen suchen quasi die „Eier legende Wollmilchsau“.

Vor allem Ältere haben es schwer. Offiziell geben das die Unternehmen nie zu, schon wegen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Doch die Bewerber spüren: Wer zu alt ist, wird aussortiert. Der 51-jährige Ingenieur Schäfer etwa erlebte, wie seine Bewerbung mit der Begründung abgelehnt wurde, das Unternehmen habe einen qualifizierteren Kandidaten eingestellt. Drei Wochen später entdeckte Schäfer dieselbe Stellenanzeige wieder.

Jugend ist den Unternehmen wichtiger als Erfahrung. Der Anteil der beschäftigten Ingenieure, die das 50. Lebensjahr überschritten haben, ging in den vergangenen zwei Jahren von 23 auf 18 Prozent zurück. Zu diesem Ergebnis kommt die VDI-Umfrage unter 1300 Personalmanagern und Ingenieuren (siehe Grafik Seite 103).

Der Grund ist oft banal: 40-jährige Führungskräfte suchen sich ungerne ältere Ingenieure, die teilweise besser qualifiziert seien als sie, sagt Berater Panitzki. Diese verfügten über langjährige Personal- und Produkterfahrung. Die Jüngeren befürchten einen „schleichenden Autoritätsverfall“. »

Erfahrungsberichte arbeitsloser Ingenieure zeigen, wie hanebüchen es zum Teil in den Personalabteilungen zugeht:

Ein 38-jähriger Maschinenbau-Ingenieur und Leiter der Marktforschung musste bei einem führenden Autozulieferer die Koffer packen, weil sein Team nicht mehr in die neue Geschäftsstruktur passte. Alternativen etwa in der Produktion wurden ihm nicht angeboten. Stattdessen sucht die Firma für den Bereich bis heute — vergeblich. Ein Siemens-Verfahrenstechniker Anfang 50 mit weltweiter Vertriebserfahrung wollte zur Konzerntochter Power Generation, die eigenen Mitarbeitern für die Vermittlung guter Kandidaten gar „Kopfgelder“ in Höhe von 3000 Euro zahlt. Der Ingenieur wurde nicht einmal zum Gespräch eingeladen. Ein Maschinenbauer schildert, wie Autohersteller Audi ihn als Bewerber im Foyer interviewte. Die Personalabteilung hatte es versäumt, ein Zimmer zu reservieren. Ein Ingenieur machte die Erfahrung, dass ein Unternehmen zwar einen „Projektmanager“ suchte, aber die Stelle eines „Entwicklungsingenieurs“ ausschrieb. Erst im Vorstellungsgespräch klärte sich der Fauxpas. Ein 53-jähriger Maschinenbau-Ingenieur mit Führungserfahrung berichtet, wie Personaler auf Rekrutierungsmessen nicht einmal wussten, welche Stellen ihr Unternehmen gerade konkret suchte. Stattdessen verwiesen sie aufs Internet. Fast alle arbeitsuchenden Ingenieure und Informatiker erleben regelmäßig, dass Wochen und Monate ins Land ziehen, bevor sich Personalabteilungen rühren, geschweige denn ein Gespräch anbieten.

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