Regierungsbildung Nordrhein-Westfalen drohen hessische Verhältnisse

Nordrhein-Westfalens neue Regierung ist auch die Alte, allerdings ohne politische Macht. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers kann nicht mehr regieren, sondern wird seine eigenen Reformen der vergangenen fünf Jahren zurücknehmen müssen. Rot-grüne Politik wird letztlich am Geld scheitern. Trotzdem will (noch) keine Partei eine Neuwahl.

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Sigmar Gabriel und Hannelore Quelle: dpa

Sie ließ sich Zeit, viel Zeit. Fast fünf Wochen suchte die Landesvorsitzende der NRW-SPD, Hannelore Kraft, nach einem beziehungsweise mehreren geeigneten Koalitionspartnern. Offenbar alles vergeblich, denn am vergangenen Freitag warf Kraft das Handtuch. An eine rot-grüne Minderheitsregierung, auf die viele spekuliert hatten, traut sie sich nicht heran. Zumindest vorerst nicht. Die SPD bleibt in der Opposition.

Die amtierende schwarz-gelbe Landesregierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) bleibt damit geschäftsführend im Amt bis sich entweder doch noch eine mehrheitsfähige Koalition findet oder es zu Neuwahlen kommt. Letzteres scheuen alle Beteiligten. Denn die aktuellste Umfrage von Ende Mai prognostiziert ein fast identisches Ergebnis wie bei der Landtagswahl. Gewonnen wäre nichts. Zudem tragen die Ereignisse in Berlin nicht gerade dazu bei, dass sich CDU und Liberale im Aufwind fühlen können. Mehr noch: Die FDP müsste um ihren Einzug in den Landtag fürchten. Ebenso die Abgeordneten der Linkspartei, auch wenn sie mit prognostizierten sieben Prozent wohl wieder vertreten wären.

NRW vor hessischen Verhältnissen?

Drohen in NRW also doch die berüchtigten „hessischen Verhältnisse“? 2008 fand sich auch in Hessen keine Regierungsmehrheit, SPD-Spitzenfrau Andrea Ypsilanti scheiterte mit ihrem Versuch, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, an ihren eigenen Leuten: Vier SPD-Abweichler verhinderten die rot-grüne Minderheitsregierung. Ministerpräsident Roland Koch (CDU) blieb geschäftsführend im Amt, musste unter anderem auf Druck der Opposition die Studiengebühren wieder abschaffen. Schon kurze Zeit später hatten alle genug und im Frühjahr 2009 wurde neu gewählt. Seitdem regiert in Hessen eine schwarz-gelbe Koalition.

Kraft will nicht so enden wie Ypsilanti. Statt sich selbst zur Wahl zu stellen, will sie nun aus der Opposition heraus regieren. Sie kündigte an, bereits in der nächsten Plenarsitzung am 23. Juni Gesetzesentwürfe einbringen zu wollen. Das Pikante: SPD und Grüne haben zusammen zehn Stimmen mehr als Schwarz-Gelb und können damit vieles durchsetzen. Die Regierung Rüttgers müsste dann die rot-grüne Politik umsetzen und die eigenen Reformen wieder zurücknehmen.

Keine Überraschung also, dass Ministerpräsident Rüttgers nach wie vor für die Bildung einer großen Koalition plädiert. Er fordert von der SPD mehr Kompromissbereitschaft und sieht nach den Sondierungsgesprächen immer noch Anknüpfungspunkte. „Selbst bei der Schulpolitik hätte man Lösungen finden können“, sagte Rüttgers.

Auch in der SPD gibt es Befürworter einer Koalition mit der CDU. Knackpunkt bleibt aber die Frage, welche Partei dann den Regierungschef stellen würde. Die CDU beansprucht das Amt für sich – die CDU lag bei der Landtagswahl mit rund 6000 Stimmen knapp vor den Sozialdemokraten. In der SPD stört man sich allerdings vor allem an der Personalie Rüttgers. Noch heute tagt der SPD-Landesparteirat und berät die weitere Strategie.

Grüne sauer, Bundes-SPD skeptisch

Für Ärger sorgt die Kehrtwende der SPD vor allem bei den Grünen. Das sei zu defensiv und nicht zu Ende gedacht, urteilte die Spitze der NRW-Grünen in einem offenen Brief. Auch von der Bundes-SPD kommen mahnende Töne. Bleibt Schwarz-Gelb im Amt, ändert sich auch an den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat nichts. Die SPD wolle aber in jedem Fall die anstehenden Reformpläne der schwarz-gelben Bundesregierung in der Länderkammer stoppen, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel.

Jürgen Rüttgers brachte unterdessen auch eine „Jamaika-Koalition“ wieder ins Gespräch. „Mein Angebot, mit allen demokratischen Parteien zu reden, bleibt weiter bestehen,“ sagte Rüttgers. Die Grünen hatten eine solche Koalition allerdings bereits vor der Wahl ausgeschlossen und diesen Entschluss bislang auch nicht revidiert.

Theoretisch könnte Rüttgers bis zur nächsten Landtagswahl im Frühjahr 2015 im Amt bleiben, realistisch ist das aber nicht. Eine große Hürde ist die Verabschiedung des Haushalts für das kommende Jahr. Dafür braucht Rüttgers eine Mehrheit. Zwingend scheitern muss seine Regierung daran aber nicht, denn laut Artikel 82 der Landesverfassung kann der Haushalt auch einfach fortgeschrieben werden. Einzig neue Ausgaben kann die Regierung nicht durchbringen.

Findet sich nicht doch noch eine mehrheitsfähige Koalition, sind Neuwahlen daher unausweichlich. Schwarz-Gelb kann keine eigenen Gesetze mehr verabschieden, Rot-Grün hat keinerlei finanziellen Gestaltungsspielraum. Stillstand statt Reform ist die Folge.

Noch sind Neuwahlen in NRW kein Thema, denn die erforderlichen 91 der insgesamt 181 Stimmen für die vorzeitige Auflösung des Parlaments kämen nicht zusammen. Noch nicht.

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