Volkswirtschaften Überschüsse in der Leistungsbilanz sind ein Segen

Internationale Ungleichgewichte sind kein Schaden für die Weltwirtschaft. Im Gegenteil: Sie finanzieren den Aufschwung in Schwellenländern und schützen etablierte Ökonomien vor den Risiken einer alternden Bevölkerung.

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Renate Ohr

In den wirtschaftspolitischen Schlagzeilen der vergangenen Wochen spiegelt sich immer wieder die Sorge über "globale Ungleichgewichte" wider. Dabei wird meist ein längerfristiger, signifikant positiver oder negativer Leistungsbilanzsaldo als – außenwirtschaftliches – Ungleichgewicht identifiziert.

Doch sind die außenwirtschaftlichen Beziehungen nicht immer dann im Gleichgewicht, wenn die in eine Volkswirtschaft einfließenden und aus ihr abfließenden Zahlungsströme übereinstimmen? In diesem Fall eines marktmäßigen Gleichgewichts kompensieren sich die Zahlungsströme aus Handel und Kapitalverkehr. Genau dies finden wir bei den meisten der derzeit beobachtbaren Leistungsbilanzsalden: In Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen gibt es kompensierende Kapitalabflüsse, also den Erwerb ausländischer Vermögenswerte, während Länder mit Leistungsbilanzdefiziten kompensierende Kapitalzuflüsse aufweisen.

Anpassung nötig

Trotzdem kann eine solche Situation als Ungleichgewicht gelten – wenn man einen anderen Gleichgewichtsbegriff verwendet. Es lässt sich von Gleichgewicht sprechen, wenn das ökonomische System nach einem Schock wieder in eine stabile Ruheposition zurückkehrt, ohne dass weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen nötig sind. Machen die Leistungsbilanzsalden – insbesondere die hohen Leistungsbilanzdefizite in manchen Ländern – nun Anpassungsvorgänge notwendig, um die übrigen gesamtwirtschaftlichen Zielgrößen stabil zu halten, müsste in diesen Fällen von einem Ungleichgewicht gesprochen werden. Daraus wird deutlich, dass die alleinige Tatsache eines Leistungsbilanzdefizits oder -überschusses keine Aussage zulässt, ob dieses ungleichgewichtig ist oder nicht.

Ein Leistungsbilanzdefizit, das durch gleich hohe Kapitalzuflüsse aus dem Ausland finanziert wird, kann auch in dieser Hinsicht ein Gleichgewicht bedeuten, wenn seine Ursache der Aufholprozess einer sich entwickelnden und nachholenden Volkswirtschaft ist. Eine solche Volkswirtschaft muss mehr verbrauchen, als sie selbst produziert. Sie benötigt Investitionsgüter aus dem Ausland und muss diese durch Kredite finanzieren, da die heimische Ersparnis zu gering ist.

Die aufholende Volkswirtschaft greift in diesem Fall auf die Ersparnisse etablierter Ökonomien zurück, die aufgrund ihres höheren Entwicklungsstandes nicht mehr jene Wachstumsraten erzielen wie geringer entwickelte Länder.

Ein Leistungsbilanzdefizit ist allerdings dann problematisch, wenn die damit einhergehende Auslandsverschuldung allein für Konsum genutzt wird. Dann können Zins und Tilgung nicht aus zusätzlichem Wachstum finanziert werden. Umgekehrt darf ein Leistungsbilanzüberschuss kein Selbstzweck sein. Er bedeutet ja schlicht, dass die Volkswirtschaft mehr produziert, als sie selbst verbraucht, die überschüssige Produktion an das Ausland verkauft und gegen Vermögenstitel eintauscht. Doch welchen Sinn sollte es machen, dauerhaft viel zu arbeiten und zu produzieren, das Ergebnis dieser Anstrengung aber anderen zur Verfügung zu stellen?

Profit für beide Seiten

Grafik: Deutscher Export und Außenbeitrag 2006-2011

Der eigentliche Zweck hoher Exporte ist der Erwerb von Devisen. Diese ermöglichen den Import von Waren und Dienstleistungen, die im Ausland günstiger hergestellt werden können. Der Sinn internationaler Arbeitsteilung ist also der gegenseitige wirtschaftliche Austausch und damit eine im Wesentlichen ausgeglichene Leistungsbilanz. Doch muss dieser Ausgleich nicht unbedingt zeitnah erfolgen, er kann auch "intertemporal" sein. Eine Volkswirtschaft kann heute mehr sparen, also Leistungsbilanzüberschüsse erzielen und mit diesen entsprechende Kapitalanlagen im Ausland erwerben. Morgen kann sie das Ersparte auflösen, sobald die inländische Produktion die eigenen Verbrauchswünsche nicht mehr deckt.

In Deutschland zeigte sich dieses Wechselspiel ganz deutlich: In den Achtzigerjahren bauten wir hohe Überschüsse auf, doch nach der Wiedervereinigung war der Verbrauch stark gestiegen, sodass eine Dekade mit Leistungsbilanzdefiziten folgte. Das zurückliegende Jahrzehnt ist bis heute wieder durch hohe Überschüsse geprägt, die jedoch im intertemporalen Kontext zu sehen sind: Wegen der stark alternden Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten die arbeitende Generation nicht genug produzieren, um den gewünschten Verbrauch zu decken. Dann wird ein Importüberschuss nötig sein, der jedoch unproblematisch ist, wenn zuvor Auslandsvermögen aufgebaut wurde.

Fazit: Überschussländer bereichern sich nicht an den Defizitländern. Beide Gruppen können profitieren, solange das Kapital "in die richtige Richtung" fließt. Nicht Leistungsbilanzdefizite per se sind ungleichgewichtig, oft aber die Verwendung der sie finanzierenden Kapitalströme. Nicht Leistungsbilanzüberschüsse per se sind ungleichgewichtig, außer sie werden durch protektionistische Maßnahmen erzielt statt durch Spar- und Investitionsentscheidungen der Marktteilnehmer. Nicht Merkantilismus oder übermäßiger "Geiz" sind die Ursache deutscher Leistungsbilanzüberschüsse, sondern ein Vorsichtssparen mit dem Ergebnis einer nachhaltigen, generationenübergreifenden und die Vorteile der Globalisierung nutzenden Altersvorsorge. Der Versuch einer Lenkung von Leistungsbilanzsalden sollte daher massive ordnungspolitische Bedenken hervorrufen.

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