Auf der Flucht vor Boko Haram Gefährliche Reise auf Tschadsee

Die Terrormiliz Boko Haram kennt keine Gnade. Tausende Nigerianer sind auf der Flucht – etwa in kleinen hölzernen Booten über den Tschadsee. Ihre Zukunft ist ungewiss.

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Über den Tschadsee versucht diese Frau mit ihrem Kind der Terrormiliz zu entkommen. Quelle: ap

Baga Sola Kellou Abakar wusste, was sie zu tun hatte, als bei ihr die Wehen einsetzten – kurz nachdem die Terrorgruppe Boko Haram ihren Überfall auf die Stadt Baga begonnen hatte. Ihr Mann war nirgendwo zu finden, und so nahm sie ihren vierjährigen Sohn auf den Rücken, ihre zwei kleinen Mädchen bei der Hand und lief davon, so schnell sie konnte, um den Angreifern zu entkommen.

Die Attacke am 3. Januar wurde zu einem der bisher schlimmsten Massaker der Terroristen, die im Nordosten Nigerias einen Gottesstaat errichten wollen. Nach Schätzungen starben Hunderte Menschen, und Abakar weiß bis heute nicht, ob ihr Mann zu den Toten zählt. Drei ihrer weiteren Kinder verschwanden in dem Chaos des Angriffs, bei dem die Boko-Haram-Kämpfer wahllos das Feuer eröffneten und Einwohner in die Flammen von Häusern warfen, die sie in Brand gesetzt hatten.

Die Familie flüchtete vier Stunden lang zu Fuß. Als sie die Küste des Tschadsees erreichte, um von dort aus in den benachbarten Tschad zu gelangen und hier Sicherheit zu finden, waren Abakars Wehen zu weit fortgeschritten. Sie brachte ihr Baby in Nigeria zur Welt. Dann, sobald Aboubakar geboren war, bestieg Abakar mit den vier Kindern ein Boot. „Wenn ich dort geblieben wäre, hätten sie auch mich umgebracht“, sagt Abakar mit leiser Stimme im Zelt eines Lagers, das inzwischen mehr als 6000 vor Boko Haram geflüchtete Nigerianer beherbergt.

Die Familie erreichte das Camp Baga Sola in dieser Woche, nachdem sie zunächst in mehreren anderen Dörfern Zuflucht gesucht hatte. Das Lager am Rande der Sahara wird gemeinsam von den UN und der Regierung des Tschad betrieben.

Abakar stillt ihr Baby, während die älteren Kinder auf dem Sandboden spielen. Ihre fröhlichen Stimmen gehen fast im Lärm des Windes unter, der an der Zeltplane über den Köpfen zerrt. Abakar hofft, dass ihr Mann den Namen billigt, den sie für ihren jüngsten Sprössling gewählt hat, damit er als neugeborener Flüchtling registriert werden kann, eine Geburtsurkunde erhält. Sie hat den Jungen nach dessen Großvater benannt – jedenfalls vorläufig.

Viele im Lager haben vermisste Familienangehörige. Sie hoffen, dass ihre Lieben noch am Leben sind – vielleicht zu jenen zählen, die sich noch auf den Dutzenden Inseln im Tschadsee versteckt halten, der an den Tschad, Nigeria sowie Teile von Kamerun und Niger grenzt. Das tschadische Militär versucht, die Flüchtlinge auf seinem Territorium zu schützen. Dennoch haben Kämpfer der Terrormilz an Bord von Motorbooten vor wenigen Wochen die Halbinsel N'gouboa innerhalb des Landes angegriffen und mindestens acht Menschen getötet.

Danach wurden Familien von dort in das Flüchtlingscamp gebracht, wo das Kinderhilfswerk Unicef Gesundheitsfürsorge, Schulunterricht und Freizeitaktivitäten für den Nachwuchs anbietet. Andere Hilfsorganisationen sorgen für das Essen, das Wasser kommt aus einem Brunnen.

Die Behörden im Tschad schätzen, dass mehr als 2000 Menschen auf ihrer Flucht auf den Inseln gestrandet sind, auf den Transport in ein Lager in einem der ärmsten Länder der Welt warten. „Viele sind traumatisiert, bringen nichts mit als die Kleidung, die sie anhaben“, sagt Dimouya Souapebe, die ranghöchste Behördenvertreterin in der Region. „Wir haben die Pflicht, sie willkommen zu heißen, und teilen mit ihnen, was wir zu essen haben.“ Ungefähr 100.000 Nigerianer sind auch ins Nachbarland Niger geflüchtet, etwa 60 000 weitere nach Kamerun.

Der 60-jährige Mahamat Abakar ist verheiratet und hat acht Kinder. Er sah seine Familie zuletzt, als sie sich auf zwei kleine Holzboote verteilte. Als er in Baga Sola ankam, erfuhr er, dass sich auch einer seiner Söhne hier aufhält. Als er ihn sah, kamen ihm die Tränen. „Ich bewahre mir den Glauben, dass Gott auch den Rest von ihnen gerettet hat und ich sie ebenfalls finde“, sagt der Mann.

Wie der zehnjährige Sohn berichtet, sank das Boot, auf dem er sich befand. Der Mann, der es ruderte, befahl ihm und einem anderen Kind, ins Wasser zu springen. Sie beide hätten sich an Baumäste geklammert, bis Menschen auf einem anderen Boot sie gesichtet und an Bord genommen hätten. Selber ein Muslim, hat der Vater nur Zorn übrig für Menschen, die sagen, dass sie ihre Angriffe im Namen des Islam ausführten. „Es gibt keine Passage im Koran, die sagt, dass du jemanden töten, sein Hab und Gut stehlen und dann seine Kinder entführen kannst“, sagt er und reibt sich mit einem sandigen Stück Stoff die nassen Augen.

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