Brexit vor Gericht Von Richtern, Wutwählern und den Kampf um Kontrolle

Bei der Brexit-Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens steht mehr auf dem Spiel als die EU-Austrittspläne der Regierung. Es geht auch um wichtige Verfassungsfragen und die Unabhängigkeit der Justiz.

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Die Brexit-Gegner fordern mehr Einfluss des Parlaments. Quelle: AFP

London Die ersten Angriffe hat er nur mit Worten pariert: „Wir haben einen Eid abgelegt, dass wir Fälle dem Gesetz entsprechend entscheiden und wenn wir das nicht tun, dann sind wir es nicht wert, Richter genannt zu werden.“ So reagierte David Neuberger, Präsident von Großbritanniens Supreme Court, zunächst auf Rücktrittsforderungen. Brexit-Befürworter stellen seine Unabhängigkeit und die einiger Kollegen, die über den politischen Spielraum der britischen Regierung in Sachen EU-Austritt entscheiden müssen, in Frage und kritisierten die Richter als zu EU-freundlich.

Am Montag legte Neuberger nach: Man habe im Vorfeld der Anhörung alle beteiligten Parteien gefragt, ob sie wollten, dass einer der Richter zurücktrete, sagte er. Es habe keine Einwände gegeben. Damit machte der Präsident des Obersten Gerichtshofes von vornherein klar: Bei seinem jüngsten Fall geht es um deutlich mehr als die Frage: Darf Großbritanniens Premierministerin Theresa May wie ursprünglich geplant die Scheidungsgespräche mit Brüssel allein in Gang setzen, oder braucht sie dafür die Zustimmung des Parlaments? Es geht bei dieser Entscheidung auch um die Reputation der Richter, die nach massiven Attacken um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Es geht um komplizierte Verfassungsfragen, um den Verhandlungsspiel der Regierung bei der Brexit-Frage und die Macht der britischen Abgeordneten.

All diese Fragen hat eine Gruppe von Brexit-Kritikern, darunter die Fondsmanagerin Gina Miller, vor Gericht gebracht. Vor gut einem Monat entschied der Londoner High Court, dass das Parlament gefragt werden muss, bevor die Regierung die Scheidung von der EU einläuten darf. Seitdem wird Miller als Volksverräterin beschimpft und bekommt Morddrohungen. Eine Boulevardzeitung hat die Richter, die den Klägern recht gegeben haben, zu „Feinden des Volkes“ erklärt und so die ohnehin schon gefährliche Stimmung auf der Insel weiter angeheizt.

Die Regierung ist nach dem Urteil des High Court in Berufung gegangen. Vor dem Supreme Court argumentierten die Vertreter der Regierung am Montag: Das Urteil, May habe nicht die Befugnisse, den Austritt nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon im Alleingang auszulösen, sei falsch. Die Premierministerin habe diese Macht durchaus – auf Grund der königlichen Hoheitsrechte, die inzwischen auf die Regierung übergegangen seien. Und das seien keine „alten Relikte“, sondern essentielle Möglichkeiten der Regierung, um die Kontrolle über gewisse Verfahren zu behalten. Dies beschneide auch nicht die parlamentarische Souveränität.

Genau darauf berufen sich Gina Miller und die anderen Brexit-Kritiker, die mehr Einfluss des Parlaments fordern. Das Parlament habe den britischen Bürgern Anfang der 70er Jahre beim Beitritt zur europäischen Staatengemeinschaft Rechte wie Freizügigkeit und Wohnrecht in der gesamten EU eingeräumt, den Banken das Recht, in allen EU-Mitgliedsstaaten Geschäfte zu betreiben, also könne nur das Parlament ihnen diese Rechte auch wieder wegnehmen – so die Argumentation der Rechtsanwälte, die Miller vertreten. Der High Court gab ihnen Anfang November recht.

Vor dem Supreme Court haben sich die schottische und die walisische Regierung Millers Position angeschlossen. Auch sie setzen sich für mehr Mitsprache des britischen Parlaments ein. Die Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof ist auf insgesamt vier Tage ausgelegt und soll bis einschließlich Donnerstag andauern. Die Richter werden ihre Entscheidung in der Brexit-Frage aber voraussichtlich erst im Januar 2017 verkünden.

Theresa May will mit den offiziellen Abschiedsverhandlungen mit der EU bis Ende März nächsten Jahres loslegen. Um diesen Zeitplan einzuhalten, auch wenn der Supreme Court das bisherige Brexit-Urteil in letzter Instanz bestätigt, bereitet die Regierung Medienberichten zufolge bereits eine Beschlussvorlage für das Parlament vor. Beobachter gehen davon aus, dass die Abgeordneten May grünes Licht für die EU-Austrittsgespräche geben werden. Unklar ist aber, ob sie möglicherweise Bedingungen an ihre Zustimmung knüpfen oder Leitlinien für die Ausstiegsverhandlungen in einem Gesetzesakt festschreiben – etwa dass der Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten bleiben muss.

May hat bisher eine größere Einmischung des Parlaments abgelehnt. Denn dies würde ihren Verhandlungsspielraum einengen. Die Premierministerin hat angedeutet, dass sie voraussichtlich Einwanderungskontrollen ganz oben auf ihre Prioritätenliste bei den Brexit-Gesprächen setzen wird und der volle Zugang zum europäischen Binnenmarkt hinten anstehen könnte. Brexit-Kritiker wollen aber einen solchen harten Bruch mit der EU verhindern.

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