An wahnhaften Äußerungen aus Amerika herrscht seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes kein Mangel. Dafür sorgt vor allem Donald Trump. Einige seiner Äußerungen jüngeren Datums sind nicht mehr lustig oder peinlich, wie in der Frühphase der Vorwahlen. Wenn ein möglicher Präsident der größten Militärmacht der Welt anscheinend ernsthaft fragt, warum das Militär nicht einfach mal Atombomben einsetze, muss man sich tatsächlich Sorgen machen. Auch wenn ein deutscher Außenminister besser beraten wäre, seine Empörung runterzuschlucken. Schließlich wird er im schlimmsten Fall diesem „Hassprediger“ einmal im Weißen Haus die Hand schütteln müssen.
Für keine Empörung sorgt dagegen eine Ankündigung von Trumps Gegnerin Hillary Clinton, in der auch eine gute Portion Wahn steckt. Und deren Umsetzung ist angesichts ihrer deutlich größeren Wahlchancen sehr viel wahrscheinlicher als die halbgaren Prahlereien Trumps. Es geht um das von Clinton versprochene größte Investitionsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg.
Sie hat sich ganz offensichtlich angesichts des großen Zuspruchs für ihren nur knapp abgehängten innerparteilichen Konkurrenten Bernie Sanders an die eher linke und keynesianische Tradition der demokratischen Partei erinnert. Franklin D. Roosevelts legendärer „New Deal“ lässt grüßen.
Vom damals während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre herrschenden Massenelend der unteren Schichten - durch die Romane John Steinbecks veranschaulicht - ist das heutige Amerika zwar sehr weit entfernt. Aber die Radikalisierung des Wahlkampfes zeigt, dass die wachsende soziale Ungleichheit, verwoben mit dem wieder erstarkenden Ressentiments zwischen den Rassen, am Zusammenhalt der Gesellschaft noch mehr nagt als im sozialstaatlich verfassten Europa.
Vom „Digital Divide“, der digitalen Trennung, ist die Rede: Die kreativen Eliten, die von den neuen digitalen Techniken als Unternehmensgründer oder gut bezahlte Angestellte profitieren, und die ohnehin schon Reichen, die durch Finanzinvestition in ebenjene neuen Unternehmen noch reicher werden, stehen auf der Gewinnerseite dieser Trennlinie. Auf der Verliererseite stehen die um ihren Job fürchtenden Industriearbeiter und die digitaltechnologisch Minderbemittelten, denen oft nur die Arbeiten verbleiben, zu denen Roboter oder Computer (noch?) nicht in der Lage sind: Putzen, Kochen, Pflegen, etc.
Dazu kommt vielleicht noch stärker als in den westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften das Gefühl der Weißen auf der Verliererseite, durch Zuwanderung austauschbar geworden zu sein. Nicht nur als potenzielle Arbeitnehmer, sondern auch als Objekte der Fürsorge des Staates und seiner Funktionseliten. Hier ist zumindest teilweise der Grund für die extreme Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und das daraus erwachsene Phänomen Trump zu finden.
Auf die brennenden Fragen der Zeit, vor allem für die Suche nach mehr Stabilität angesichts der wachsenden sozialen Ungleichgewichte, hat die professionelle Elitenvertreterin Clinton allerdings offenbar ebenso wenig eine neue Antwort zu bieten wie der polternde Milliardärs-Proll Trump. Ihre Angebote sind beide Rückgriffe auf die Zeiten der großen ökonomischen Expansion in der Mitte und zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Trump lockt mit dem alten Wundermittel der Steuerkürzung. Er setzt, wie einst zu Reagonomics-Zeiten, auf den „Trickle-down-Effekt“, also darauf, dass von den zusätzlichen Früchten der Reichen auch genug zu seinen weniger begüterten Wählern durchsickert. Doch das funktionierte allenfalls in Zeiten sehr hoher Wachstumsraten einigermaßen. Clinton greift noch weiter zurück: nämlich auf das alte keynesianische Rezept der staatlichen Großinvestitionen zur Ankurbelung der Nachfrage. Wie weiland Roosevelts Regierung, die – inspiriert durch den damaligen Ökonomie-Superstar John Maynard Keynes - durch den Bau von Straßen, Brücken und Tunnels Millionen neuer Jobs schuf, will auch Clinton ein riesiges öffentliches Investitionsprogramm starten. Finanziert durch neue Staatsschulden – was sonst.
Unzufriedene Weiße
Beide Konzepte werden, selbst wenn sie ihren ökonomischen Zweck – mehr Wachstum – vordergründig erfüllen, das Problem wohl nicht grundlegend lösen können, sondern es möglicherweise sogar noch verschärfen. Denn in einer derart reifen Volkswirtschaft und reichen Gesellschaft wie den USA laufen beide Rezepte auf erneute Verschärfungen der Bedingungen heraus, die diese Probleme erst geschaffen haben: mehr Staatsschulden, also mehr Abhängigkeit des Staates und der ganzen Gesellschaft von den Finanzmärkten und langfristig immer weniger Spielraum für die (Sozial-)Politik. Hinter den großspurigen Plänen und Versprechungen aus vergangenen Epochen verbirgt sich die reine Ratlosigkeit, wie es mit dem amerikanischen Kapitalismus und dem Land weitergehen kann.
Diese Ratlosigkeit herrscht in allen früh industrialisierten und heute hochentwickelten westlichen Gesellschaften. Man glaubt einen Organismus durch immer höhere Doping-Dosen anfeuern zu müssen – in der immer weniger begründbaren Hoffnung, dass er irgendwann wieder aus eigener Kraft immer wieder über sich selbst hinauswächst - wie in seinen Jugendjahren. Amerika als Modell der Moderne und Wirtsnation des Kapitalismus leidet natürlich besonders an den Phantomschmerzen einer Gesellschaft, die sich (noch) nicht damit abfinden kann, dass die ökonomischen Expansionsmöglichkeiten offensichtlich an Grenzen stoßen. Das Gebot des "immer weiter, immer mehr!" ist schließlich in keinem Land so sehr Grundlage des nationalen Selbstverständnisses wie in den USA.
Für Amerika gilt in ganz besonderer Weise, was für alle kapitalistischen Gesellschaften gilt: Die Leute sind nicht unbedingt zufrieden, wenn es ihnen nach objektiven Kriterien gutgeht. Entscheidend ist, dass es ihnen besser geht als früher, als den Eltern und vor allem als den Nachbarn: „Keeping up with the Joneses“ lautet die Parole. Der Schwarze oder der hispanische Einwanderer, der sich gerade so durchschlägt, ist womöglich zufriedener als ein Mittelklasse-Weißer in Kentucky, der das Gefühl hat, mit seinen früheren Klassenkameraden nicht mithalten zu können und sich von selbstgerechten Bewohnern der West- oder Ostküste als „white trash“ bezeichnen lassen muss.
Für viele weiße Männer in Amerika ist es derzeit besonders schwierig, aus Vergleichen mit anderen Zufriedenheit zu gewinnen. 73 Prozent der weißen Amerikaner sagen, so eine Umfrage vor einigen Monaten, dass sie mindestens einmal am Tag sauer sind, aber nur 56 Prozent der Schwarzen und 66 Prozent der Hispanics. Die Weißen, zumindest die auf der Verliererseite des Digital Divide, erleben, dass sie allmählich als Kollektiv ihre dominierende Stellung verlieren. In früheren Generationen konnten selbst durchschnittlich erfolgreiche weiße Männer Selbstbewusstsein aus ihrer Überlegenheit über Frauen und nicht-weiße Männer beziehen. Vorbei.
Egal, ob Trump oder Clinton an die Macht kommt: mit ihren gestrigen oder vorgestrigen Wirtschaftsrezepten werden beide die heutigen und morgigen sozialen Wunden nicht grundlegend heilen. Das Wachstum, das sie sich erhoffen, ist erstens schlicht unmöglich und zweitens würde es wohl mehr neue Wunden schlagen als alte heilen. Denn seine Profiteure wären sicher nicht in erster Linie die wütenden weißen Männer von Kentucky.
Dem Zeitalter der säkularen Stagnation, das Ökonomen wie Larry Summers vermutlich zu Recht voraussehen, werden Gesellschaften und ihre Eliten nicht entkommen. Man wird sich in ihm einrichten müssen. Amerika wird der Abschied vom immer neuen Aufstieg besonders schwerfallen.