Das Titanic-Szenario Der Euro steuert auf den Eisberg zu

Was passiert mit unserem Geld, wenn die Turbulenzen an den Märkten eine Kettenreaktion auslösen und die Euro-Zone zerfällt? Beraten von Prof. Clemens Fuest aus Oxford hat Handelsblatt ein „Worst-Case-Szenario“ entworfen.

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Filmszene: Die Titanic kurz vor dem Untergang. Quelle: handelsblatt.com

22. Februar 2012: Südeuropa versinkt in der Rezession. In Griechenland stürzt die Regierung.

Der globale Abschwung seit Mitte 2011 vermischt sich mit der Schuldenkrise in Europa zu einem giftigen Cocktail. Die griechische Wirtschaft droht nach 2010 und 2011 ein drittes Jahr um rund fünf Prozent zu schrumpfen. Auch Portugal gleitet tiefer in die Krise, Spanien und Italien stecken ebenfalls in der Rezession.

Die Wirklichkeit hat somit alle Sparpläne außer Kraft gesetzt. Griechenlands Haushaltsdefizit droht 2012 die Marke von zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu übersteigen, statt wie versprochen auf fünf Prozent zu sinken. Die Inspektoren des Internationalen Währungsfonds, die regelmäßig Athens Sparfortschritte kontrollieren, drohen, die nächsten Hilfskredite zu blockieren. Die Zinsen zehnjähriger Griechen-Anleihen sind gegenüber Mitte 2011 um sieben Prozentpunkte auf 25 Prozent gestiegen.

Nun ist der Punkt erreicht, vor dem Europas Politiker seit längerem schon Angst hatten: Die Appelle an die Südländer, mehr zu sparen, haben sich abgenutzt. Der Reformwille der Griechen ist am Ende, der Druck der Straße wird zu groß. Zumal es kaum noch einen Ökonomen gibt, der ein Festhalten am Sparkurs empfiehlt. Schon als die ersten Pakete aufgelegt wurden, hatte Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn gewarnt: „Mit unseren Garantien belohnen wir die Schuldensünder und ermuntern sie, ihr Tun fortzusetzen. Das bläht die europäische Schuldenblase weiter auf und lässt sie eines Tages mit einem noch größeren Knall platzen.“

Nach einer Welle von Massendemonstrationen und einem dreitägigen Generalstreik stellt Regierungschef Giorgos Papandreou im Parlament die Vertrauensfrage – und verliert sie. Es geht um mehr als einen Regierungswechsel. Griechenland steht am Scheideweg.

2. April 2012: Griechenland erklärt den Austritt aus der Währungsunion und führt die New Drachma ein.

Die Woche beginnt mit einem historischen Auftritt: Zeitgleich um neun Uhr treten in Frankfurt der neue EZB-Chef Mario Draghi und in Athen der neue Premier Antonis Samaras an die Öffentlichkeit.

Draghi begnügt sich im überfüllten Konferenzsaal der EZB mit einem kurzen Statement: „Griechenland hat im Einvernehmen mit der EZB beschlossen, ab sofort die New Drachma einzuführen, zunächst im Verhältnis 1:1 zum Euro. Alle inländischen Bankeinlagen werden auf die neue Währung umgestellt. Die Regierung in Athen erklärt sich für zahlungsunfähig in Euro und bietet den Umtausch der Staatspapiere in Drachma-Anleihen mit 80 Prozent des ursprünglichen Nennwerts an.“

Der Europäische Rettungsfonds (EFSF), die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds würden diesen Tausch vollziehen. „Bis Mittwoch gelten in Griechenland Bankfeiertage. Der EFSF garantiert danach die Funktionsfähigkeit der griechischen Banken und ihre Euro-Verbindlichkeiten“, sagt Draghi.

In Athen hat Samaras eine Sondersitzung des Parlaments einberufen. „Heute ist ein Schicksalstag für unsere Nation“, hebt er an, „aber ich sage: Es ist kein Tag der Niederlage, sondern ein Tag der Befreiung. Wir schütteln die Fesseln der Bevormundung ab und nehmen unser Schicksal selbst in die Hand.“ Er kündigt Devisenkontrollen an und verbietet die Ausfuhr von Euro.

In Berlin tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Kameras. Sie erklärt, es gebe keinen Grund zur Sorge: „Es ist ein schwieriger Tag für Europa. Aber die Euro-Zone ist in ihrem Kern gesund, und sie wird dadurch, dass Griechenland seinen eigenen Weg geht, nur noch stärker.“

Die deutschen Banken versichern, dass ihr Griechenland-Engagement mit keinen existenzbedrohenden Risiken verbunden sei. Ende 2010 hatten sie griechische Staatsanleihen im Wert von 8,8 Milliarden Euro in den Büchern.

An den Finanzmärkten schnellen die Risikoaufschläge für Anleihen aus Portugal, Spanien und Italien auf neue Rekorde. Bank-Aktien – betroffen sind vor allem Institute in Paris und Frankfurt – fallen ins Bodenlose. Das zypriotische Bankensystem kollabiert.

5. April 2012: Eine Bankenkrise erfasst Europa. Der Rettungsschirm wird verdoppelt.

Drei Tage nach dem Euro-Austritt Griechenlands öffnen die Banken des Landes für eine Stunde vormittags die Schalter. Das neue Geld besteht aus Euro-Scheinen, auf die „New Drachma“ gestempelt wurde. Am Geldautomaten gibt es nur einen 50er-Schein je Tag und Konto. Der Geldverkehr spielt sich hauptsächlich in bar ab, außerdem schreiben kleine Geschäfte für Kunden an. Ein offizieller Devisenhandel findet bis auf weiteres nicht statt. Die Polizei schützt mit einem Großaufgebot die Banken und die Regierungsgebäude.

Nach den Portugiesen beginnen auch Spanier und Iren, die Bankschalter zu belagern. Die Banken verkürzen ihre Öffnungszeiten und sperren die Geldautomaten. Im Süden Europas ereignet sich das, was die Experten einen „Bank Run“ nennen. Zuletzt hatte das während der Finanzkrise 2007 Großbritannien erlebt, als die Kunden Schlange standen, um ihr Geld bei der Pleitebank Northern Rock abzuheben.

In Berlin treten Merkel und Sarkozy vor die Presse. Sie wollen alles tun, um die Euro-Zone zusammenzuhalten. „Der französische Präsident und ich haben beschlossen, täglich zu telefonieren und weitere Schritte zur Stabilisierung der Situation einzuleiten“, kündigt Merkel an. Sarkozy ergänzt, er gehe davon aus, dass bald Euro-Bonds ausgegeben würden, die Details dazu seien aber noch nicht festgelegt. Merkel geht auf diese Bemerkung nicht weiter ein. Sie hatte die Diskussion schon im Frühjahr 2011 für beendet erklärt, weil der Widerstand in der eigenen Koalition zu groß war.

Am folgenden Wochenende treffen sich die Euro-Regierungschefs zum Krisengipfel in Amsterdam. Wie schon vor früheren Gipfeltreffen haben Merkel und Sarkozy mit ihren Beratern vorgearbeitet. Doch erst nach einer langen Verhandlungsnacht steht der Kompromiss: Der Europäische Rettungsfonds EFSF, der erst im Juli 2011 von 440 auf 780 Milliarden Euro aufgestockt wurde, wird auf 1,5 Billionen Euro verdoppelt – dagegen hatte sich die Bundesregierung immer gewehrt. Der Rettungsfonds übernimmt von der Europäischen Zentralbank Staatsanleihen im Wert von 212 Milliarden Euro. Die EZB hatte diese noch aus verschiedenen Stützungskäufen in den Büchern, die Summe hatte sich seit Mitte 2011 verdoppelt.

Italien und Spanien verpflichten sich im Gegenzug für das deutsche Entgegenkommen bei der Ausweitung des Rettungsfonds ESFS zu verstärkten Sparanstrengungen.

„Griechenland ist ein Sonderfall“, versichert Kommissionspräsident José Manuel Barroso. „Wir sind uns einig, dass wir keines der verbliebenen Länder fallen lassen werden. Der Euro ist und bleibt eine stabile Währung.“

Zum Abschluss geben Merkel und Sarkozy vor den Fernsehkameras noch eine Zusatzerklärung ab. „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern Europas, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür stehen die Regierungen Deutschlands und Frankreichs ein“, sagt Merkel. Sarkozy nickt. Damit verwendet Merkel den gleichen Wortlaut wie im Oktober 2008, als sie zusammen mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück die Spareinlagen der Deutschen garantierte.

Am Montag nach dem Gipfel steigen die Börsen weltweit, die Anleihezinsen der Euro-Zone geben nach, und der Euro erholt sich auf 1,10 Dollar. Er war zuvor von 1,43 Dollar Anfang September 2011 auf bis zu 98 US-Cent gefallen. Doch als am Dienstag neue Gerüchte um die Insolvenz einer französischen Großbank kursieren, fallen die Kurse erneut.

Eine Woche später verstaatlicht die Regierung in Lissabon eine Großbank, die mit dem Versuch einer Kapitalerhöhung gescheitert war. Ministerpräsident Pedro Passos Coelho fordert die Bürger in einer Fernsehansprache auf, kein Geld mehr von den Konten abzuheben. Schweizer Banken berichten von steigenden Zuflüssen aus allen Euro-Staaten.

20. Juni 2012: Auch Portugal scheidet freiwillig aus der Währungsunion aus. Die Bankenkrise verschärft sich.

Der nächste Dominostein kippt: Portugal. Wochenlang hatten die Menschen mit Massendemonstrationen und Streiks gegen die Sparpolitik der Regierung Coelho protestiert. Die Wirtschaftsleistung, die schon 2011 um 1,2 Prozent geschrumpft war, ist im ersten Halbjahr um drei Prozent gesunken; die Arbeitslosenquote stieg auf 18 Prozent.

Coelho hat es der griechischen Regierung nachgemacht – und den Ausstieg aus der Euro-Zone gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank vorbereitet. Das Land führt den „Escudo Novo“ im Verhältnis 1:1 zum Euro ein. Der Internationale Währungsfonds und der europäische Rettungsschirm EFSF tauschen portugiesische Euro-Anleihen mit einem Abschlag von 20 Prozent in die neue Währung. Die Banken bleiben für eine Woche geschlossen, die Kapitalverkehrskontrollen werden verschärft.

In Spanien, Italien, Zypern und sogar Frankreich bestürmen nun die Kunden die Banken, um ihre Konten zu leeren.

Wenige Tage später kündigt die Regierung in Madrid die Fusion von elf Sparkassen zu zwei neuen Instituten an, die mit einer milliardenschweren Kapitalspritze der EFSF unterstützt werden. Eine französische Bank, die vor der Pleite steht, erhält drei Milliarden Euro vom Rettungsfonds, eine deutsche Bank sogar fünf Milliarden. Außerdem gibt die EFSF bekannt, dass sie seit dem 1. Mai für 125 Milliarden Euro Staatsanleihen aufgekauft habe. In ihrem Besitz befinden sich mittlerweile Anleihen für 700 Milliarden Euro, etwa ein Zehntel der gesamten Staatsschulden der Euro-Zone.

In Spanien und Frankreich gehen Zehntausende zu Protestkundgebungen gegen die „neoliberale Zwangsjacke Europa“ auf die Straße. Sie fordern ein „Ende des Spardiktats“ und staatliche Konjunkturhilfen.

7. Juli 2012: Auf Drängen Obamas beschließen die Europäer Euro-Bonds und einen Marshallplan für Südeuropa.

Wieder ist Wochenende, und wieder steht ein Euro-Krisengipfel an. Schauplatz ist diesmal der Petersberg bei Bonn, und der internationale Druck ist stärker denn je.

Zwei Tage zuvor hat US-Präsident Barack Obama die Europäer aufgerufen, den Zerfall der Euro-Zone zu stoppen. „Es geht schon lange nicht mehr nur um Europa, es geht darum, eine neue Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg von Extremisten zu verhindern“, sagte Obama in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz im Rose Garden des Weißen Hauses.

Das Gipfeltreffen beginnt am Freitagmorgen im Zeichen neuer Rekordhochs der Anleihezinsen Spaniens und Italiens und neuer Rekordtiefs europäischer Bank-Aktien. Als durchsickert, die Einführung von Euro-Bonds werde beschlossen, beginnt eine Erleichterungs-Rally an den Märkten.

Tatsächlich einigen sich die Regierungschefs darauf, einen Vorschlag der Brüsseler Denkfabrik Bruegel aus dem Mai 2010 umzusetzen und für einen Großteil der Staatsschulden der Einzelstaaten gemeinschaftlich geradezustehen.

Außerdem beschließt der Gipfel die Schaffung einer europäischen Haushaltsbehörde, die künftig das letzte Wort über alle Staatshaushalte in der Währungsunion haben soll. Zusätzlich legen Deutschland und Frankreich einen 100-Milliarden-Euro-Fonds für Spanien und Italien auf, der das Wachstum beleben soll. „Das ist eine historische Entscheidung, die eines beweist: Wenn Deutschland und Frankreich zusammenstehen, dann wird Europa nicht untergehen“, sagt Merkel.

Zwei Tage später kündigen drei FDP-Abgeordnete und drei Unions- Parlamentarier aus Protest den Austritt aus ihren Bundestagsfraktionen an – die Mehrheit der Regierungskoalition schrumpft.

23. Juli 2012: Der Bundestag lehnt Euro-Bonds und Marshallplan ab.

Der Bundestag berät über das eilig formulierte Gesetz zur Einführung von Euro-Bonds. Auch über eine stärkere Wirtschaftsförderung für Italien und Spanien soll diskutiert werden. Am Vorabend der Beratungen haben FDP- und Unionsfraktion Zählappelle durchgeführt. „Die Mehrheit steht“, sagten danach die Fraktionsvorsitzenden. Trotz der sechs Austritte hat die Koalition noch eine Mehrheit von 14 Sitzen. Auf Stimmen aus der Opposition will sich Merkel nicht stützen – sie verbindet die Abstimmung mit der Vertrauensfrage.

Die Debatte im Bundestag verläuft hitzig. SPD-Finanzexperte Peer Steinbrück wirft der Kanzlerin vor, mit ihrem ständigen Zögern vor jedem Schritt die Euro-Rettung immer teurer gemacht zu haben. Schon im Juli 2011 hatte er der Kanzlerin vorgehalten: „Die Horrorvision einer Transferunion halte ich für absurd, weil wir es längst mit einer Transferunion zu tun haben.“ Damals hatte sich die SPD für Euro-Bonds ausgesprochen. Inzwischen rücken aber auch immer mehr SPD-Politiker angesichts der wachsenden Wut der Bürger davon ab.

Aus den eigenen Reihen spürt die Kanzlerin Widerstand. CSU-Chef Horst Seehofer greift sie an: „Es ist dem deutschen Steuerzahler nicht mehr zuzumuten, auch nur einen weiteren Euro für Südeuropa zu zahlen“, poltert er. Das ist nicht originell, aber Seehofer trifft Volkes Stimmung.

Als Merkel ans Rednerpult tritt, spricht sie ungewohnt emotional: „Es geht hier um die Zukunft Europas, und, ja, es geht womöglich auch um Krieg und Frieden“, ruft sie ins Plenum. „Wir alle müssen jetzt über unseren Schatten springen, um die europäische Idee zu retten.“

Als das Abstimmungsergebnis bekanntgegeben wird, wird sie bleich. Weil sich der größte Teil der Opposition enthält, scheitert das Gesetz. Die FDP erklärt ihren Austritt aus der Koalition.

Gespräche über eine Große Koalition scheitern – Union und SPD einigen sich auf Neuwahlen in sechs Monaten. Bis dahin will Merken mit einer Minderheitsregierung, die von der SPD toleriert wird, weiterregieren. Meinungsumfragen sehen die obskure, erst vor kurzem gegründete „Deutschlandpartei“ bei über 15 Prozent.

In den folgenden Tagen spielen die Finanzmärkte verrückt. Anleger flüchten aus dem Euro und auch aus Staatsanleihen der europäischen Staaten, bis auf Deutschland. Die Börsen brechen um zehn Prozent ein, der Dax fällt unter die Marke von 2 500 Punkten.

In Paris, Rom und Madrid formieren sich Demonstrationszüge gegen Deutschland.

5. August 2012: Auf einem Geheimtreffen in Deauville beschließen Merkel und Sarkozy den Nord-Euro.

Die Lenker der beiden größten Länder der Europäischen Union, Merkel und Sarkozy, kommen an diesem Sonntag in einem Privathaus im französischen Seebad Deauville unter größter Geheimhaltung zusammen. Die beiden Kernländer der Euro-Zone wollen retten, was zu retten ist – und beschließen, aus der abgebröckelten Währungsunion einen Nord-Euro zu schaffen. Der neue Euro soll zu einem Anker der Stabilität werden und von Anfang an den richtigen institutionellen Rahmen erhalten.

Bereits im Sommer 2011 hatten Berlin und Paris im Élysée-Palast die Pläne für eine europäische Wirtschaftsregierung diskutiert. Damals waren sie auf große Skepsis gestoßen. Nun wollen sie Ernst machen.

Hinter verschlossenen Türen handeln die deutsche und die französische Regierung ein Grundgerüst für die Zeit nach dem Euro aus: Die neue Währungsunion soll nur finanziell solide und politisch stabile Länder aufnehmen und von Anfang an auch eine gemeinsame Finanzpolitik umfassen. Das bedeutet, dass die Teilnehmer ein gutes Stück nationaler Souveränität aufgeben müssen. Das Budgetrecht wird europäisiert.

Als Kandidaten für die Teilnahme identifizieren Merkel und Sarkozy die Niederlande, Belgien und Luxemburg, Finnland und Estland, Österreich und Slowenien. Alle anderen EU-Länder sollen später dazustoßen dürfen.

Das Treffen bleibt nicht lange geheim. Französische Journalisten bekommen Wind davon, Spekulationen machen die Runde. Die Journalisten erinnern sich an das missglückte Geheimtreffen im Sommer 2011: Damals hatte Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker seinen Sprecher bestreiten lassen, dass es überhaupt irgendein Euro-Treffen gebe, „egal in welcher Besetzung und zu welchem Thema“.

Nun ist das Stichwort „Nord-Euro“ in der Welt, und Merkel und Sarkozy sehen sich gezwungen, die Berichte zwei Tage später im Kern zu bestätigen. An den Märkten beginnen Spekulationen darüber, welches Land dabei ist und welches nicht. Anleihezinsen und Aktienkurse fahren Achterbahn. In hochverschuldeten Ländern beginnen fieberhafte Vorbereitungen für die Rückkehr zu einer eigenen Währung. Der Euro profitiert jedoch: Er steigt bis auf 1,25 Dollar.

12. August 2012: Auf einem Gipfeltreffen in Eltville besiegeln die verbliebenen Euro-Länder formal den Nord-Euro.

In Eltville am Rhein – hier hält die Bundesbank traditionell ihre Ausbildungsseminare ab – beschließen die Regierungschefs der neuen Kern-Euro-Gruppe nun formal den Nord-Euro. Die Währung soll weiter Euro heißen. Auch die Münzen und Scheine bleiben, wie sie waren – um weiteren organisatorischen Aufwand – und vor allem Kosten – zu sparen.

Aus dem Zentralbankrat und dem Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) scheiden die Mitglieder aus, deren Heimatländer nicht mehr zum Euro gehören. Die Frankfurter Institution bleibt ansonsten nahezu unverändert.

Als Merkel und Sarkozy vor die Kameras treten, ist die Stimmung angespannt. „Wir haben die notwendigen Weichen gestellt“, sagt Sarkozy. Merkel ergänzt: „Wir gehen fest davon aus, dass die Märkte dieses Signal der Stabilität würdigen.“ Sie fliegt nach Berlin.

Dort erreicht sie noch am gleichen Tag die Zustimmung des Bundestags für den Nord-Euro und einer gemeinsamen europäischen Haushaltspolitik, inklusive Finanzausgleich. Ein Schritt zum europäischen Bundesstaat ist getan – doch es nimmt nur noch ein Drittel der EU-Mitglieder daran teil.

Spanien, Italien und die anderen faktisch aus der Euro-Zone ausgestoßenen Staaten diskutieren kurz und ergebnislos die Gründung einer eigenen Währungsunion und führen dann notgedrungen neue, eigene Währungen ein.

Die Mitglieder des Nord-Euros übernehmen die Verpflichtungen des europäischen Rettungsschirms EFSF und akzeptieren, dass die Südeuropäer ihre Verbindlichkeiten in den neuen Landeswährungen abtragen. Schuldenschnitte gewähren sie ihnen aber nicht. Die Verluste in Milliardenhöhe aufgrund der Abwertung ihrer Währungen werden unter den Nord-Euro-Mitgliedern aufgeteilt.

Die Realwirtschaft leidet unter der Bankenkrise. In Deutschland sinkt das Bruttoinlandsprodukt.

30. Januar 2013: Die Realwirtschaft leidet, die EZB ist machtlos.

Das EZB-Direktorium ist von fünf auf drei Mitglieder geschrumpft. Ihr Ziel, mit der neuen Währung einen Stabilitätsanker zu schaffen, erfüllt sich nicht. Der Nord-Euro wertet gegenüber den Währungen der ausgestoßenen Länder auf – um bis zu 40 Prozent. Gegenüber dem Dollar steigt er binnen weniger Wochen von 1,25 auf 1,50 Dollar je Euro.

Die deutsche Exportwirtschaft erlebt das, wovor sie sich immer gefürchtet hat. Der Preisvorteil durch den Euro ist dahin. Selbst Maschinen und Fahrzeuge, für die es feste Liefertermine gibt, bekommen deutsche Firmen ohne große Preiszugeständnisse nicht mehr los. Die Kunden in den Südländern verweigern die Annahme zu den ausgehandelten Euro-Preisen. Sie sind in dieser Währung kaum noch zahlungsfähig.

BDI-Chef Hans-Peter Keitel fordert die Bundesregierung auf, den betroffenen Unternehmen mit Subventionen zu helfen – nach dem Vorbild der Schweiz, die im August 2011 ein Hilfsprogramm über zwei Milliarden Euro aufgelegt hatte. Dafür hatte sich Swatch-Chef Nick Hayek starkgemacht. Die Franken-Stärke habe die Wirtschaft in eine extrem schwierige Situation gebracht, hatte er im Sommer 2011 gewarnt: „Wir werden das alle noch massiv spüren.“ Wie die Schweizer Notenbank ein Jahr zuvor versucht die EZB nun, mit Interventionen an den Devisenmärkten den Höhenflug zu bremsen – aber die Eingriffe verpuffen.

Das Chaos verschafft Europakritikern überall Aufwind. Referenden über den EU-Austritt werden vorbereitet, Bestimmungen des Binnenmarktes und die Reisefreiheit werden teilweise außer Kraft gesetzt.  Die Euro-Skeptiker beherrschen die Debatte.

Mit einem feurigen Leitartikel hält Helmut Schmidt dagegen. Schon vor Jahren hatte er in einem seiner Bücher gewarnt, wenn wir die EU verkümmern oder gar scheitern ließen, „dann bliebe der noble Anfang nicht viel mehr als ein interessantes Thema für spätere Historiker“.

Schmidt erinnert daran, dass er bereits Ende August 2011 die deutsche Politik gewarnt hatte, die Risiken zu unterschätzen: „Man muss sich auf die Deutschen verlassen können. Und das ist gegenwärtig weder in Paris noch in London, noch in anderen Hauptstädten in Europa der Fall.“

Dieses Szenario entstand unter wissenschaftlicher Beratung von Clemens Fuest. Er lehrt als Professor in Oxford und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums. Fuest ist einer der zehn forschungsstärksten jüngeren deutschen Volkswirte und ein Experte für Wirtschafts- und Finanzpolitik.

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