Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei "Bomben besiegen nicht die Armut"

Der ägyptische Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei über Probleme in Ägypten, den Islamischen Staat – und warum deutsche Waffenlieferungen an die Kurden nicht ausreichen, um den Konflikt zu lösen.

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WirtschaftsWoche Online sprach während des Campus Symposiums in Iserlohn mit dem ägyptischen Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei. Quelle: dpa

Herr ElBaradei, der Arabische Frühling hat viele Hoffnungen geweckt – und wenig später für Ernüchterung gesorgt. Geht es den Menschen in Ihrem Heimatland Ägypten heute besser oder schlechter als vor der Protestwelle im Januar 2011?

Mohammed ElBaradei: Der Arabische Frühling hat an vielen Stellen gewirkt. Und tut es bis heute. Es sind keine Wunder passiert, aber natürlich geht es den Menschen besser als in den Jahrzehnten unter Ex-Präsident Husni Mubarak, einem Autokraten, der Menschenrechte mit Füßen getreten hat. Ich verstehe gleichwohl die Zweifel: Die Leute haben erwartet, dass sich die Dinge über Nacht ändern. Sie haben Sehnsucht danach, dass sich ihre Lage so schnell wie möglich grundlegend ändert. Aber das tut sie leider nicht. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass es Zeit braucht, um ein autoritäres System in eine Demokratie zu verwandeln.

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Erwarten die Ägypter tatsächlich so viel? Mir scheint es, sie möchten lediglich eine Perspektive und einen Job. Und beides bekommen sie von den Eliten nicht – unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist.

Es gibt viele Baustellen. Wir erschaffen gerade eine neue Kultur, ein neues Lebensumfeld. Dazu gehört, dass wir lernen müssen, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert. Wir brauchen glaubwürdige, fähige Institutionen, starke Parteien und eine schlagkräftige Wirtschaft. Wir sind bereit, daran zu arbeiten. Die jungen Menschen, die bereit waren auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, sehen dank der Sozialen Netzwerke, dass die Welt anders sein kann und sie wissen jetzt, was Freiheit heißt und was soziale Gerechtigkeit ist. Sie sehnen sich nach Veränderung – aber sie brauchen Geduld.

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Und Jobs.

Ägypten braucht Wirtschaftswachstum und neue Jobs, ja. Es kann nicht sein, dass ein Großteil der jungen Menschen ohne Arbeit ist. Das schafft große soziale Probleme. Das sind keine ägyptischen oder afrikanischen Probleme, Südeuropa steht vor dem gleichen Dilemma. Perspektivisch schaffen wir Jobs vor allem dann, wenn wir ein stabiles System haben. Und wenn alle Bürger die Chance auf gute Bildung haben.

Mohammed el-Baradei im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online-Redakteur Tim Rahmann Quelle: Lisa Rossel für WirtschaftsWoche Online

Bildung braucht aber Zeit.

Man muss ja irgendwo anfangen. Der Westen, auch Deutschland, muss hier helfen. Bildung ist der Schlüssel zu allem. Nicht nur, um einen guten Job zu finden, sondern auch, um die Grundwerte einer Gesellschaft – die Unantastbarkeit des Lebens, die Gleichheit aller – zu verstehen. Je mehr wir in Bildung investieren, desto schneller erreichen wir unser Ziel.

Was kann die ägyptische Regierung in den nächsten Jahren tun, um das Vertrauen von Investoren, Geschäftspartnern und den Menschen wiederzugewinnen? Die Deutschen sind sich beispielsweise nicht sicher, ob sie nach Ägypten reisen können.

Wir müssen die Menschen mitnehmen und eine Gesellschaft errichten, in der alle an einem Strang ziehen. Man muss den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, unter dem alle zusammenleben können, sodass keiner diskriminiert wird. Wenn wir das erreichen, kommen auch die Sicherheit und das Vertrauen aus dem Ausland zurück.

"Die Angst vor IS ist groß – aber auch die Bereitschaft, zu kämpfen"

Wie sehr hat das Vertrauen in Ägypten durch den Sturz von Präsident Mohammed Mursi gelitten, der die ersten freien Wahlen Mitte 2012 gewonnen hatte und vom Militär aus dem Amt geputscht wurde?

Das Land stand kurz vor einem Bürgerkrieg, die Situation war sehr kritisch. Deswegen gab es den Militärputsch. Jetzt müssen sich die Menschen gegenseitig zuhören.

Passiert das denn?

Noch nicht. Die Menschen haben von allen Seiten Leid erlitten, jetzt muss ihnen Recht widerfahren. Momentan finden die Menschen aber noch nicht an einen gemeinsamen Tisch.

Noch einmal zurück zur Sicherheit in Ihrem Land. Können Touristen sorglos nach Ägypten reisen?

Ich glaube, die größten Probleme sind überwunden. Es gibt noch seltene Fälle von Gewalt, vor allem im Landesinneren, aber die Touristenhochburgen sind sehr sicher.

Wie groß ist in Ägypten die Angst vor den Terroristen vom Islamischen Staat (IS)?

Ich denke, jeder Staat und jeder Bürger in Nordafrika ist über den Vormarsch von IS besorgt. Die IS-Kämpfer wollen zurück in die Steinzeit: Sie morden, sie foltern, sie unterdrücken, sie dulden keine Widerrede. Das kann keiner unterstützen, der klar im Kopf ist. Die Angst ist da – aber auch die Bereitschaft, den Terroristen Einhalt zu gebieten.

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Die Regierungen in Europa und Nordamerika reiben sich verwundert die Augen über den schnellen Vormarsch des IS. Hat die westliche Welt die Bewegung verschlafen?

Ich würde nicht sagen verschlafen, aber vielleicht unterschätzt. Ich muss gestehen, dass auch ich IS vor fünf Jahren kaum gekannt habe. Deren Aufstieg kam schnell, auch für mich. Aber: Der Islamische Staat ist nicht aus dem Nichts entstanden. Vergessen Sie nicht: Wir haben seit drei Jahren einen Bürgerkrieg in Syrien, bei dem bereits über 200.000 Menschen gestorben sind. Und nichts passiert, der Westen schaut weg. Dann haben wir den Irak, der geteilt ist. Ethnische Gruppen haben ihre Einflusssphären abgesteckt; Gewalt ist an der Tagesordnung. Dass in solch einem Umfeld Extremisten leichtes Spiel haben, ist im Endeffekt wenig überraschend.

Der Nahe Osten ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, ein Pulverfass. Wieso konnte IS gerade jetzt stark werden?

Es gibt im Nahen Osten viele Extreme. Es gibt stabile Staaten und weniger stabile Staaten. Es gibt Menschen, die in Wohlstand leben, aber auch bittere Armut und Hoffnungslosigkeit. Die Lebensbedingungen sind sehr unterschiedlich. Die Probleme in Syrien und dem Irak haben diese Dinge verschärft. Hinzu kommt, dass die Welt näher zusammengerückt ist. Dank Fernsehen und Internet sind Informationen überall zugänglich. Bilder aus dem Westen laufen über die Bildschirme. Und die Menschen haben den Wunsch, ähnlich zu leben. Sie begehren gegen die Machthaber auf – und bei Missfall radikalisieren sie sich. Dass IS ihre Not vergrößert, blenden viele leider aus. Sie glauben deren Versprechungen, dass IS für Gerechtigkeit sorgt und dass die Terroristen im Namen Gottes kämpfen.

"Bomben können Leben ausrotten, aber nicht die Armut besiegen"

Der Westen versucht nun, dem Treiben ein Ende zu bereiten. Deutschland wird Waffen an die Kurden liefern. Ein richtiger Schritt?

Natürlich müssen wir den Kurden helfen. Natürlich müssen wir den Jesiden helfen. Deswegen begrüße ich generell die Bereitschaft, die bedrohten Volksstämme zu unterstützen. Auch militärisch. Aber wir sollten bedenken, dass Gewalt alleine, nicht die Lösung der Probleme ist.

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Was wäre die Lösung?

Bomben können Leben ausrotten, aber nicht die Armut besiegen. Im ersten Schritt müssen wir IS militärisch zurückdrängen. Perspektivisch aber ist es wichtig, die Ursache zu bekämpfen, warum diese Terroristen bei so vielen Menschen Gehör finden. Wir müssen die Lebensbedingungen der Familien im Irak, in Syrien, in Palästina und vielen weiteren Staaten verbessern. Wir brauchen Frieden, Bildung und Wohlstand. Deswegen warne ich auch vor militärischen Alleingängen.

Es reicht nicht aus, wenn sich nur Deutschland Gedanken macht, wie IS zu bekämpfen ist. Die internationale Gemeinschaft muss sich zusammenschließen und über die nötigen Schritte beraten – bei möglichen Militärinterventionen sowie beim Wiederaufbau der fragilen Staaten und Regionen. In meinen Augen ist der UN-Sicherheitsrat dafür der geeignete Ort. Er sollte über das Thema diskutieren und eine Resolution verabschieden.

Mohammed el-Baradei im Gespräch mit WirtschaftsWoche Online Quelle: Lisa Rossel für WirtschaftsWoche Online

Der Sicherheitsrat hat in der Vergangenheit oft quälend lange gebraucht, um zu einer Entscheidung zu kommen.

Das stimmt. Aber das lasse ich als Argument für Alleingänge nicht gelten. Wir dürfen nicht die Fehler des Irak-Kriegs wiederholen und außerhalb des Völkerrechts agieren. Wir brauchen eine Legitimation für einen militärischen Einsatz, und den kann nur der UN-Sicherheitsrat liefern. Das sollte mit Blick auf ISIS auch nicht all zu schwer sein und zu lange dauern. Ich glaube, alle Nationen sind sich einig, dass IS gestoppt werden muss. Der Kampf gegen islamische Terroristen in Mali könnte als Vorbild gelten.

Dort hat Frankreich die Führung übernommen, Deutschland war wenig begeistert über die Offensive.

Frankreich hat die Führung übernommen, ja. Aber es wurde von Deutschland und weiteren Nationen unterstützt. Wer letztendlich die Dinge in die Hand nimmt, ob Paris, Berlin oder Washington ist egal. Wichtig ist, dass es unter dem Dach der UN passiert.

Krisenländer von Russland bis Nordafrika

Sollte Deutschland ganz allgemein und abseits der aktuellen Debatte über den Kampf gegen IS angesichts seiner Stärke mehr Führung in der Welt übernehmen?

Deutschland ist eine Wirtschaftsmacht und deswegen wäre es auch logisch, wenn das Land politisch in internationalen Fragen den Ton angibt. Aber sich politisch zu engagieren heißt nicht, seine Überzeugungen mit Waffengewalt durchzusetzen. Deutschland versteht sich nach meinem Verständnis als "soft power" und das begrüße ich. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass Konflikte – wo es geht – diplomatisch gelöst werden können.

"Deutschland sollte das Bildungssystem exportieren statt Waffen"

Deutschland könnte helfen, wie es das ja auch bereits tut, Zivilgesellschaften aufzubauen; die Bundesrepublik könnte ihr Bildungssystem exportieren oder mithelfen, nach deutschem Vorbild eine Justiz in den Entwicklungsländern aufzubauen. Diese Dinge sollte Deutschland primär exportieren, nicht Waffen.

Was Deutschland im Irak leistet und nicht leistet

Bis wir es als internationale Gemeinschaft in Afrika nicht schaffen, lebenswerte Bedingungen vor Ort zu bieten, wird der Exodus der Menschen nicht abreißen. Sommer für Sommer versuchen Zehntausende Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Europa einzuwandern. Sollte die Europäische Union ihre harte Haltung gegen Flüchtlinge überdenken?

Ähnlich wie beim Kampf gegen IS ist auch hier die Frage, warum die Menschen flüchten. Vergessen Sie nicht: Niemand verlässt gerne seine Heimat. Diese Menschen tun es auch nicht gerne, sondern aus Not. Sie riskieren ihr Leben, um nach Europa zu kommen. Das heißt: Wir müssen – wie Sie sagen – lebenswerte Bedingungen in den Heimatstaaten der Flüchtlinge schaffen. Wir müssen Afrika zu einem lebenswerten Kontinent machen. 2,8 Milliarden Menschen auf der Welt haben weniger als zwei US-Dollar täglich zum Leben.

Aber wie umgehen mit den Bootsflüchtlingen?

Wir müssen diesen Flüchtlingen mit Menschlichkeit begegnen. Ich liebe Ihr deutsches Grundgesetz, weil gleich der erste Artikel einwandfrei unterstreicht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Ist es menschenwürdig einen Bootsflüchtling, der unter Einsatz seines Lebens die italienische oder griechische Küste erreicht, zurückzuschicken? Nein, das ist es nicht.

Machen Sie uns Mut: Können wir optimistisch sein, dass wir in fünf oder zehn Jahren vermehrt positive Nachrichten aus Afrika hören und nicht so oft über Gewalt und Chaos schreiben müssen?

Ich bin optimistisch, ja! Wir müssen die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. Es gibt durchaus positive Beispiele in Afrika. In Sierra Leone fanden – zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges – freie und faire nationale Wahlen statt. In Guinea hat sich die Religionsfreiheit etabliert und Malawi hat sich unter Präsident Joyce Banda positiv gewandelt. Er hat Repressionen gelockert und die Universitäts- und Versammlungsfreiheit gestärkt. Wer Afrika unterstützt, der bewegt etwas.

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