Gastbeitrag zum Brexit Der Geist aus der Flasche

Selbst wenn die Briten gegen einen Brexit stimmen – es ist etwas losgetreten, das sich so schnell nicht wieder beruhigen lässt: Weitere EU-Länder werden Forderungen stellen, Referenden werden folgen. Ein Gastkommentar.

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Käme zu den ohnehin schon existenziellen Problemen der EU auch noch der Brexit hinzu, wäre dies vielleicht ein Rückschlag zu viel. Quelle: dpa

Die Gespräche des britischen Premiers David Cameron mit der Europäischen Union steuern offenbar auf eine Einigung zu. Damit könnte Cameron für das geplante Referendum für einen Verbleib seines Landes in der EU werben. Dennoch bleibt seine Taktik gefährlich: Referenden sind unwägbar, oft beeinflussen Themen und Emotionen unmittelbar vor dem Wahltermin das Votum, Aspekte, die mit der zur Abstimmung stehenden Frage nichts zu tun haben.

Beispiel Wirtschaft: Noch läuft die britische Konjunktur sehr robust. Für 2016 rechnen Ökonomen mit einem Plus von etwas mehr als zwei Prozent. Aber man stelle sich vor, aus den weltwirtschaftlichen Risiken entwickelt sich eine veritable Krise, die auch Großbritannien spürbar belastet. Wie würden die Briten bei steigender Arbeitslosigkeit und Firmenpleiten abstimmen? Würden sie nach all den Tiraden gegen die EU wirklich in ihr die Rettung sehen oder doch denen folgen, die Brüssel verantwortlich machen?

Beispiel Flüchtlinge: Die EU steckt in ihrer bisher wohl größten Krise. Wenn in der Flüchtlingskrise bis zum Sommer keine Lösung gefunden wird, werden sich viele Menschen umso mehr von Europa abwenden, auch in Großbritannien.

Käme zu den ohnehin schon existenziellen Problemen der EU auch noch der Brexit hinzu, wäre dies vielleicht ein Rückschlag zu viel. Wirtschaftlich wäre dies nicht nur für Großbritannien schwer zu verkraften, dessen Außenhandel zu mehr als der Hälfte mit EU-Ländern abgewickelt wird. Die EU wiederum verlöre 16 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Gleichzeitig würde sie auch politisch stark geschwächt.

Die Brüsseler Verhandlungspartner sind damit ein Stück weit erpressbar. Das erklärt vielleicht, warum Ratspräsident Donald Tusk der britischen Regierung so schnell so weit entgegengekommen ist. Ein Scheitern der Gespräche käme aber auch für David Cameron einer Niederlage gleich. Mit dem Kompromiss werden beide Seiten leben können.

Cameron wird nach der Einigung seine Kampagne für den Verbleib in der „besseren EU“ ausweiten. Die meisten Tories und die Labour-Partei werden ihm folgen. Aber lassen sich auch die Menschen von einem Deal überzeugen, den die ganze EU gutheißen wird? Die EU, gegen die britische Politiker jahrelang getrommelt haben?

Und selbst wenn die Briten für die EU votieren: Der Geist ist aus der Flasche. Bald schon wird vielleicht Finnland über den Verbleib in der Währungsunion abstimmen lassen. Weitere Länder werden andere Forderungen erheben, es wird weitere Referenden geben.


„Brüssel-Bashing“ für Wählerstimmen

Es wäre naiv zu glauben, dass all dies ohne schwere Rückschläge für die EU vonstattengehen wird. In vielen Ländern hat sich gezeigt, wie schwer es ist, mit einem Plädoyer für Europa Wahlen zu gewinnen. Und oftmals auch, wie leicht sich gegen Brüssel Stimmung machen lässt.

Für die EU ist das gleichwohl auch eine Chance. Es wird dabei über nicht weniger als die Zukunft Europas diskutiert. Bei vielen Menschen hat sich während der Krisen der vergangenen Jahre das Gefühl verstärkt, bei europäischen Fragen kaum Mitspracherechte zu haben. Und dies, obwohl bei fast jeder nationalen Wahl zumindest ein europäisches Thema im Fokus des Wahlkampfes stand. Aber das ändert nichts an der Wahrnehmung. Die Politik muss darauf reagieren. Die Europawahlen, mit einer zudem meist enttäuschend niedrigen Wahlbeteiligung, reichen zur Bildung von starker gefühlter politischer Teilhabe nicht aus.

Es ist unbedingt nötig, die EU schlagkräftiger und flexibler zu machen, um mit politischen oder wirtschaftlichen Krisen besser umgehen zu können. Die Fragen einer weiteren wirtschaftlichen und fiskalischen Integration, einer gemeinsamen Energiepolitik, auch die Flüchtlingskrise oder die außenpolitischen Herausforderungen im Nahen und Mittleren Osten zeigen: Früher oder später wird es nötig sein, mehr nationale Souveränität abzugeben.

Dies wird in vielen Ländern ohne Referendum gar nicht gehen, in anderen ohne Volksabstimmung keine Akzeptanz finden. Nicht alle werden für ein Mehr an Integration stimmen, vermutlich allen voran die Briten. Europa wird sicher nicht im Gleichschritt voranschreiten. Das muss aber kein Nachteil sein, denn ein Vorangehen einiger ist besser als Stillstand.  

Die politischen Lager jedenfalls müssen künftig Farbe bekennen. Die Frustration vieler Menschen über „die in Brüssel“ liegt auch daran, dass die EU oft als Sündenbock der nationalen Politik herhalten musste. In Brüssel gemeinsam getroffene Entscheidungen zu Hause nicht umzusetzen, sich aber über die Trägheit der EU zu beklagen, ist eine beliebte Taktik.

Wenn man mit „Brüssel-Bashing“ nichts verlieren kann und sogar seine Wahlchancen erhöht, fällt Kritik leicht. Wer in einem Referendum die Weichen für die Zukunft seines Landes stellt, wird sich genau überlegen, welche Botschaften er seinem Wahlvolk sendet. Dann könnte das Bild eines David Cameron Schule machen, der vielleicht bald Schulter an Schulter mit Jean-Claude Juncker und Donald Tusk nach einer Einigung die Vorzüge der EU preist und den Briten empfiehlt, für den Verbleib zu stimmen. Es wäre jedenfalls zu hoffen.

Der Autor: Michael Menhart ist Chefvolkswirt von Munich Re

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