Die Türkei und die US-geführte Koalition haben am Mittwoch eine Großoffensive gegen Stellungen der Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) in Nordsyrien eingeleitet. Die türkische Armee begann nach Informationen aus Militärkreisen in der Nacht mit dem Beschuss von Zielen in der Stadt Dscharablus nahe der Grenze, die sich unter Kontrolle des IS befindet. Türkische und US-Kampfflugzeuge bombardierten Stellungen der Miliz. Auch türkische Spezialkräfte seien über die Grenze vorgerückt, um eine Passage zu eröffnen. Es ist das erste Mal seit November, dass die türkische Luftwaffe Ziele in Syrien angreift. Die Offensive begann nur wenige Stunden vor dem erwarteten Besuch von US-Vizepräsident Joe Biden in Ankara.
Über der Stadt Dscharablus waren Rauchschwaden zu sehen. Türkische Panzer feuerten von der Grenze aus Geschosse auf die Stadt ab. Aus Armeekreisen verlautete, eine Bodenoffensive habe noch nicht begonnen, Spezialkräfte seien aber im Land. Zuletzt waren türkische Sondereinheiten im Februar 2015 für einen kurzen Einsatz nach Syrien vorgerückt, um ein historisch bedeutsames Grabmal zu verlegen. Syrische Rebellen warten nach Angaben eines Sprechers auf ein Signal, um in Dscharablus einzudringen. Ein zweiter Kämpfer sagte, auf türkischem Gebiet stünden 1500 weitere Rebellen bereit.
Die türkischen Panzer seien zum Schutz der Grenze stationiert worden, verlautete aus Armeekreisen. Insgesamt seien mehr als 60 Ziele aus der Luft und vom Boden aus angegriffen worden. Ziel der Operation sei es, die Grenze zu sichern. Innenminister Efkan Ala sagte der Agentur Anadolu, er rechne mit einem schnellen Erfolg. Menschen aus der türkischen Grenzstadt Karkamis und umliegenden Dörfern seien vorsorglich in Sicherheit gebracht worden.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Am Montag hatte die Türkei nach einem Selbstmordanschlag auf eine Hochzeit mit 54 Toten angekündigt, die IS-Miliz aus der Grenzregion "komplett zu vertreiben". Anti-Terror-Einheiten der Polizei starteten in Istanbul Razzien gegen mutmaßliche IS-Anhänger, wie die Agentur Dogan berichtete. Mehrere Verdächtige werden demnach mit Haftbefehlen gesucht. IS-Kämpfer feuerten unterdessen erneut ein Geschoss von Dscharablus auf türkisches Gebiet ab. Die Mörsergranate schlug nach Augenzeugenberichten auf einem Feld in der Nähe von Karkamis ein. Am Vortag hatten mehrere Mörsergranaten die Stadt getroffen.
Am Dienstag eroberten kurdische Rebellen die Stadt Hasaka im Osten Syriens. Sie kontrollieren inzwischen weite Teile Nordsyriens. Die Regierung in Ankara beobachtet die militärischen Erfolge der Kurden in Syrien mit Argwohn, weil sie ein Erstarken der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK im eigenen Land fürchtet. Sie will verhindern, dass nun auch Dscharablus in die Hand der Kurden gerät und unterstützt daher in der Region die Rebellenorganisation Freie Syrische Armee.
Bei einer Attacke auf ein Militärfahrzeug in der Nähe der Touristenhochburg Antalya wurden nach einem Bericht der Agentur Dogan drei Soldaten verletzt. Wer dahinter steht, war zunächst unklar. Zuletzt haben aber immer wieder kurdische Aufständische das Militär angegriffen.