Ob es uns passt oder nicht – die Krim wird an diesem Sonntag russisch. Es wird sich zeigen, ob sie künftig ein föderales Subjekt Russlands sein wird oder sich Kreml-Chef Wladimir Putin die Halbinsel als Faustpfand gegen die EU-Integration der Ukraine hält: Ein aus russischer Sicht formal unabhängiger Zankapfel im interterritorialen Schwebezustand.
Sofern der Westen keine Marschflugkörper gen Russland aufsteigen lässt, wird Europa zähneknirschend akzeptieren müssen: Putin greift nach fremden Territorien. Daher sollten sich deutsche und europäische Politiker nicht zu lange mit ihrer allgemeinen Empörung und ein paar symbolischen Sanktionen wie den Einreiseverboten aufhalten – sondern über die künftige Politik gegenüber Russland nachdenken: Wie kann es dem Westen gelingen, dass sich Russland unter Putin an die Regeln des Völkerrechts und die territoriale Integrität fremder Staaten hält.
Bisweilen wird Putin als Dämon betrachtet, der den Blick für die Realität verloren hat. Der 60-Jährige sei ein Fall für die Klapsmühle, gefangen in der Paranoia eines längst vergangenen Ost-West-Konflikts. In Wahrheit ist „WWP“ vermutlich strategisch dreimal raffinierter als jeder Außenpolitiker in Europa: Er weiß genau, wie weit er den Westen reizen kann – die Krim-Annexion beweist dies.
Russland hat handfeste Interessen. An vorderster Stelle steht die Verhinderung der militärischen Umkreisung, mit der die Nato über ihre drei Osterweiterungen begonnen hat. Selbst wenn jeder Politiker im Westen hoch und heilig schwört, dass eine Nato-Erweiterung nicht gegen Russland gerichtet ist – der im Kalten Krieg sozialisierte Putin nimmt das so wahr. Niemand wird ihm diese Wahrnehmung ausreden können. Das muss man akzeptieren.
Für die Nato ist die Ukraine militärstrategisch nicht relevant. Niemand braucht die beiden fahrtüchtigen Kriegsschiffe, die unter blau-gelber Flagge Dienst tun. Für Russland indes ist es entscheidend, dass die Nato an den Grenzen zur ehemaligen Sowjetunion halt macht. Beides lässt sich prima in Einklang bringen: Auf der einen Seite sichert der Westen den Russen vertraglich zu, auf eine Nato-Erweiterung um die Ukraine zu verzichten. Umgekehrt verspricht der Kreml per Unterschrift, künftig die Grenzen zu achten. Die Krim wird man so nicht in der Ukraine halten können – aber das wäre der Preis für deren EU-Kurs.
Wertorientierte Außenpolitik
Natürlich funktioniert solch ein Deal nur, wenn ein Verstoß sanktioniert würde. Dazu könnte die unmittelbare Nato-Erweiterung im Falle weiterer Angriffe auf die territoriale Integrität zählen. Sicher keine Wirtschaftssanktionen, denn die treffen die Wirtschaft im Westen ebenfalls. Russland indes würde auf ein militärisches Anpirschen des Westens – was ein Raketenschild in Polen und Tschechien einschließt – mit dem Aufwiegeln russischer Minderheiten in Nachbarstaaten beginnen.
Schon auf der Krim führt Moskau als Rechtfertigung für Interventionen ins Feld, was Außen- und Sicherheitspolitiker im Westen als „Responsibility to protect“ bezeichnen, kurz R2P. Das bezeichnet die Verpflichtung einer werteorientierten Außenpolitik, jenseits der eigenen Grenzen für den Schutz der Menschenrecht einzugestehen – was etwa im Kosovokrieg geschehen ist, dem Attacken der serbischen Armee auf die kosovarische Minderheit vorausgingen. Der Autokrat Wladimir Putin nimmt sich hierbei die Freiheit hinaus, die Gefahren für die Landsleute selbst zu konstruieren. In Kiew patrouillieren keine Faschisten, wie das russische Fernsehen die Bürger glauben lässt, vor allem hat es keine Angriffe auf russische Staatsbürger in der Ukraine gegeben.
Gleichwohl fehlen klare Regeln für „R2P“: Was bezeichnet diese Verantwortung? Unter welchen Bedingungen darf die internationale Staatengemeinschaft im Ausland eingreifen? Und was ist überhaupt ein Völkermord? Es wäre ein dickes Brett zu bohren – aber letztlich muss die internationale Staatengemeinschaft all dies klar definieren. Sonst kommt es immer wieder zur selektiven Auslegung der Regeln. Verhindern kann man dies nur, wenn man mit Putin im Gespräch bleibt und versucht, seine Reaktionen zu antizipieren. Es hilft dagegen nicht weiter, den Kremlchef zu verteufeln. Er wird uns noch lange erhalten bleiben – ob wir es wollen oder nicht.