Am Sonntag geht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Werbetour für ihre Flüchtlingspolitik – mal wieder. Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, faire Lastenverteilung in der EU, Sicherung der Außengrenzen. Soweit, so bekannt. Diesmal sitzt sie aber nicht nur mit den Europäern an einem Tisch. Merkel wird auch mit den Staats- und Regierungschef von China, Japan, Mexiko, Argentinien, Südafrika und anderen über die Flüchtlingskrise diskutieren.
Was haben afrikanische, asiatische, mittel- und südamerikanische Länder mit der europäischen Flüchtlingspolitik zu tun? Wenig. Am Sonntag kommen aber 19 Staats- und Regierungschefs wichtiger Industrie- und Schwellenländer sowie die Vertreter der Europäischen Union zusammen, die sogenannten G20. Zwei Tage sitzen die Mächtigen der Welt im türkischen Antalya beieinander.
Eigentlich soll es darum gehen, wie sich das globale Wirtschaftssystem vollständig von der Finanzkrise 2008 erholen und langfristig robust umgebaut werden kann – hin zu stabilem und nachhaltigem Wachstum. Zur Erinnerung: Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise avancierte G20 zum wichtigsten internationalen Entscheidungsgremium. Die Gruppe steht für rund zwei Drittel der Weltbevölkerung, gut 80 Prozent der globalen Wirtschaftskraft und drei Viertel des weltweiten Handels.
Claudia Schmucker von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik befürchtet allerdings, dass der diesjährige Gipfel von tagesaktuellen Themen überlagert wird – vor allem von der europäischen Flüchtlingskrise und dem Krieg in Syrien.
Die eigentlichen Themen rücken so in den Hintergrund. „Das Treffen wird kleine Ergebnisse bringen, beispielsweise wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher für international tätige Konzerne zu schließen“, sagt Schmucker. „Aber auf die Frage, wie man die G20 zu einem Stabilitätsanker für die Weltwirtschaft machen könnte, hat die Gruppe bislang keine Antworten gefunden.“
Welche wirtschafts- und finanzpolitischen Themen G20 lösen müsste, hat Zia Qureshi vom US-amerikanischen Think Tank „Brookings“ analysiert – darunter:
1. Staatsverschuldung zurückführen
Aus Sicht des Ökonomen müssten vor allem die Industriestaaten strukturelle Reformen einleiten, um die hohen Verschuldungsraten ihrer Länder zurückzufahren, die im Zuge der internationalen Finanzkrise in die Höhe geschnellt waren. Qureshi empfiehlt in seinem Report bei den Steuern und den sozialen Sicherungssystemen anzusetzen. „Die Reform der Sozialsysteme ist insbesondere in alternden Gesellschaften wichtig“, schreibt Quereshi.
Warum G20 eine Identitätskrise durchlebt
2. Von Schwellen- zu Industrieländern
Die Weltwirtschaft hat in den vergangenen Jahren von den beeindruckenden Wachstumszahlen vieler Schwellenländern enorm profitiert. Sie waren und sind Zugpferde für das globale Wirtschaftswachstum. Wenn China, Indien, Südafrika und Co. aber keine Strukturreformen einleiten, ist dieses Wachstum mittel- und langfristig in Gefahr, warnt Brookings-Experte Quereshi. Es sei wichtig, dass die Länder im großen Stil von Landwirtschaft auf Industrie umstellen, stärker in die (Aus-)Bildung ihrer Bevölkerungen investieren und ihre Länder wirtschaftlich und politisch öffnen.
3. Investitionen in Infrastruktur
Um weltweit Wachstum zu generieren, sind laut Brookings-Analyse Infrastruktur-Investitionen nötig. In den zurückliegenden zehn Jahren haben solchen Investitionen in Entwicklungsländern das Wachstum demnach um 1,6 Prozent angekurbelt. Simulationen der Weltbank zeigen, dass Investitionen das Wirtschaftswachstum in Entwicklungs- und Schwellenländer um bis zu 25 Prozent über einen Zeitraum von zehn Jahren steigern könnten. In den Industrienationen würde eine solche Politik zumindest dazu führen, Rezessionen hinter sich zu lassen. Das globale Wachstum könnte um sieben Prozent nach oben gehen.
4. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Langfristiges Wachstum führt zu einer Verringerung von Arbeitslosigkeit und eine produktivere und größere Arbeiterschaft führen zu langfristigem Wachstum. Damit in Industrieländern mehr Jobs entstehen können, empfiehlt Ökonom Quereshi, die Hürden zu senken, um in den Arbeitsmarkt gelangen zu können – ähnlich wie es Deutschland mit der Agenda 2010 vorgemacht hat. In Schwellenländern gehe es hingegen darum, ein Mittelmaß zwischen aufkommenden Sozialstandards, wirtschaftlichen Effizienzgedanken und speziellen Förderprogrammen für junge Arbeitnehmer zu finden.
5. Handelshemmnisse abbauen
„Die G20-Mitgliedsstaaten sollten sich an ihr Versprechen zu Beginn der Finanzkrise halten, von protektionistischen Maßnahmen abzusehen und solche abzubauen“, schreibt Quereshi im Brookings-Report. Eine wichtige Maßnahme: Weltweit oftmals umweltschädliche Subventionen für fossile Energieträger, Landwirtschaft oder Fischerei streichen beziehungsweise begrenzen. Daraus ergebe sich eine Win-Win-Situation, weil einheimische Unternehmen nicht bevorzugt und zugleich Gelder für Investitionen frei würden.
Aus Sicht von DGAP-Expertin Schmucker sollten sich die G20-Staaten künftig wieder auf solche Wirtschafts- und Finanzthemen konzentrieren. „G20 steckt in einer Identitätskrise. Einerseits soll es kein Krisenforum sein, andererseits werden dort immer aktuelle globale Probleme besprochen.“
Sind die G20 also überholt? Sollte sich die Gruppe auflösen? „Das wäre ein Fehler“, meint Schmucker. „Wenn es die G20 nicht gäbe, müsste die Runde erfunden werden. Es gibt sonst kein Forum, bei dem die Industrie- und Schwellenländer gleichberechtigt zusammenkommen.“
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