Leben in Venezuela Der blutige Alltag von Caracas

Weil er einem alten Mann 4,50 Euro stiehlt, wird Roberto Bernal bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Menge jubelt. Es ist ein Sinnbild der wirtschaftlichen und humanitären Krise in Venezuela – und der wehrlosen Justiz.

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Gewalttätige Auseinandersetzungen – untereinander oder mit der Polizei – sind in Venezuela an der Tagesordnung. Ihren Frust lassen die Bürger regelmäßig auf der Straße raus. Quelle: Reuters

Caracas Die wütenden Männer wissen eigentlich gar nicht, was Roberto Bernal verbrochen haben soll. Dass der 42-Jährige wegläuft, macht ihn aber verdächtig – und das reicht. In den nächsten Minuten lassen sie all die Wut, all den Ärger über ihre gestohlenen Handys, geklauten Portemonnaies und spurlos verschwundenen Motorräder an Bernal aus. Dutzende Männer, die eben noch neben einem Supermarkt in der venezolanischen Hauptstadt Caracas herumgelungert haben, schlagen und treten auf ihr Opfer ein, bis es blutüberströmt und halb bewusstlos am Straßenrand liegt.

Ein gebückter, weißhaariger Mann schleppt sich hinter dem Mob her. Er spricht von Raub. In Bernals Taschen wird ein Bündel Scheine gefunden – es ist sein Todesurteil. Er wird mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe angezündet. Dass das Geld umgerechnet nicht einmal fünf Euro wert ist, interessiert in diesem Moment niemanden.

„Wir wollten dem Mann eine Lektion erteilen“, sagt der 29-jährige Eduardo Mijares. „Wir sind es leid, jedes Mal ausgeraubt zu werden, wenn wir auf die Straße gehen. Und die Polizei tut nichts.“ Selbstjustiz gegen angebliche Diebe ist in Venezuela zur Normalität geworden. Aus dem Land, das einst zu den reichsten und sichersten in Lateinamerika zählte, ist längst ein Chaosstaat geworden.

In Lokalmedien lesen die Venezolaner mittlerweile wöchentlich davon, dass Verdächtige von Gruppen zusammengeschlagen werden. Ermittlungen laufen in 74 Fällen von Selbstjustiz, in denen es zwischen Januar und April diesen Jahres Tote gab. Im gesamten vergangenen Jahr waren es lediglich zwei – und die Mehrheit der rund 30 Millionen Venezolaner hat an solchen Vergeltungstaten laut Umfragen nichts auszusetzen.

Die Racheakte zeigen, wie tief Venezuela im Sumpf der Kriminalität versunken ist. Die Probleme des Landes sind aber auch politischer und wirtschaftlicher Natur: Präsident Nicolás Maduro liefert sich mit der mehrheitsführenden Opposition in der Nationalversammlung einen Kampf um die Macht. Die Wirtschaft liegt völlig am Boden, die Inflation ist dreistellig, der für das Land so wichtige Ölpreis abgestürzt. Der Strom fällt täglich aus, Essen ist knapp, Warteschlangen vor Supermärkten werden immer länger.

Und dann auch noch die Kriminalität. Venezuela hat heute eine der höchsten Mordraten der Welt. Es ist nahezu unmöglich, eine Person zu finden, die noch nicht ausgeraubt wurde. In dieser Situation schafft es Bernals Tod nicht einmal in die Schlagzeilen.

„Das Leben ist hier zu einer Misere geworden“, sagt der Direktor der Gewaltbeobachtungsstelle Venezuela Violence Observatory, Roberto Briceno-Leon. „Du bist immer gestresst, immer verängstigt.“ Gegen Stromausfälle oder Inflation könne man nichts tun. „Aber für zumindest einen Moment hat der Mob das Gefühl, einen Unterschied zu machen.“

Bernal hat sein gesamtes Leben in einem Labyrinth fröhlich gestrichener Hütten auf den Hügeln über Caracas verbracht. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt in solchen Slums. Diese Venezolaner tragen die Hauptlast der Wirtschaftskrise. Fließendes Wasser gibt es hier schon seit Monaten nicht mehr. Auf der Suche nach Nahrung versuchen manche Menschen, vorbeifahrende Lastwagen zu überfallen.

Bernal war seit längerem arbeitslos. Seinen Geschwistern hatte er anvertraut, dass er und seine Frau nicht mehr wüssten, wie sie die drei Kinder ernähren sollen. Ein Umzug nach Panama stand im Raum. Dabei ging es ihm im Vergleich zu seinen sechs Geschwistern noch mit am besten. Sie sagen, er sei derjenige gewesen, der es geschafft habe: Erst habe er eine Kochschule besucht, dann als professioneller Koch gearbeitet. Zuhause schaute er fern und verschwand, sobald es den kleinsten Streit gab. Seine Angehörigen versorgte er per SMS mit religiösen Botschaften – so auch am letzten Abend vor der Schreckenstat.


Die Gewalt eskaliert

An jenem Morgen bricht Bernal vor Sonnenaufgang auf. Per Bus fährt er in die Stadt, bringt seine Tochter in die Schule und steigt in die U-Bahn. Seiner Frau hat er gesagt, er sei auf dem Weg zu einem neuen Job in einem Restaurant. Stattdessen steigt er in der Nähe einer Bank aus.

Ein alter Mann kommt aus dem Bankgebäude und steckt ein Bündel Scheine in seinen Hut, den er unter seiner Jacke versteckt. Die Scheine sind gut 4,50 Euro wert – eine Menge Geld für Bernal. Er könnte damit eine Woche lang seine Familie ernähren. Oder einen Plastik-Esstisch oder eine vernünftige Schuluniform für seine Tochter kaufen, die die anderen Kinder „Stinker“ nennen.

Der Dieb habe sich das Geld geschnappt und sei zu einem Taxistand gelaufen, wo Dutzende Motorräder gestanden hätten, sagt der ausgeraubte Mann später den Ermittlern. Er sei hinterhergelaufen und habe „Dieb!“ gerufen.

Dann eskaliert die Gewalt. Einige Augenzeugen verlassen den Ort, weil sie nicht mit ansehen wollen, was kommt. Andere schauen zu und jubeln. Als der Gestank von verbranntem Fleisch die Luft ergreift, wird es still. Manche machen Videos von Bernal, der versucht aufzustehen, während Flammen seinen Kopf erfassen.

Ein junger Pastor, der Teilzeit als Taxifahrer arbeitet, rettet ihm zunächst das Leben. Als Alejandro Delgado die Flammen mit seiner Jacke erstickt, wird er aus Wut mit Flaschen beworfen. „Diese Kerle, mit denen ich jeden Tag zusammenarbeite, sind zu Dämonen geworden“, sagt er. Verurteilt wird die Tat von anderen nicht – später, im Krankenhaus, sagt der oft ausgeraubte Krankenpfleger Juan Pérez: „Wenn die Leute ihn gepackt und gelyncht haben, dann, weil er ein Verbrecher war.“

Während sich Videos von der Verbrennung in sozialen Netzwerken verbreiten, kommt Bernals Frau ins Krankenhaus. Zunächst geht sie an seinem verkohlten Körper vorbei. Dann kehrt sie um und fragt fassungslos: „Bist du Roberto?“ Seine Augenlider sind versengt, seine Luftröhre ist so beschädigt, dass er nur noch flüstern kann. Er sagt ihr, dass der alte Mann ihn versehentlich mit dem echten Dieb verwechselt habe. Die Menge habe ihm keine Chance gegeben, das Missverständnis aufzuklären. Zwei Tage später ist Roberto Bernal tot.

Die Polizei schreitet in solchen Fällen kaum ein. Weil die Beamten selbst zunehmend attackiert werden, haben sie eine dicke Backsteinmauer um ihre Wache errichtet. Die Taxifahrer an dem Stand machen sich über sie lustig.

Dem Violence Observatory zufolge nimmt die Polizei im Schnitt pro 100 Morde 118 Menschen fest. Mittlerweile gibt es demnach nur noch acht Festnahmen. Wer ausgeraubt wird, verzichtet meist auf die ohnehin wenig erfolgversprechende Anzeige.

Bernals Familie fordert Gerechtigkeit für den tödlichen Angriff am 4. April. Zu ihrer Überraschung: Anfang Mai werden Anschuldigungen gegen einen 23 Jahre alten Studienabbrecher erhoben, das Benzin über Bernal gegossen zu haben. Die weiteren Männer werden nicht belangt.

Die Familie des Toten lebt seitdem in Angst. Sie glaubt nicht daran, dass Bernal der wahre Dieb war, stimmt aber mit seinen Mördern überein, dass es keine Gerechtigkeit in Venezuela gibt. „Jeder muss sich fürchten“, sagt der Neffe Alfredo Cisneros. „Die Leute müssen wissen, dass es hier kein Gesetz mehr gibt. Niemand ist sicher.“

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