Maidan-Proteste am 20. Februar 2014 „Wie Wildschweine haben sie uns abgeknallt“

In Kiew eskalierte vor einem Jahr die Gewalt: In wenigen Stunden töteten Scharfschützen 70 Menschen. Die Hintergründe sind noch ungeklärt. Viele, die die Proteste vorantrieben, regieren heute. Der Druck auf sie wächst.

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Quelle: dpa

Kiew Menschen liegen verletzt auf der Straße. Viele schrien um Hilfe, einige sind offenbar schon tot, andere werden von Kameraden die Straße hinuntergezogen, weg vom Platz, wo die Gewalt stattfindet, weg vom Maidan in Kiew, dem zentralen Platz in der Kiewer Innenstadt. Auch in der Umgebung des Platzes werden Verletzte in Zelten versorgen. Es sind Schüsse zu hören.

In der Nähe des Eingangs ins bekannte Shoppingcenter „Globus“ liegt ein Toter. Sein Gesicht ist mit einer ukrainischen Fahnen zugedeckt. Um ihn herum standen drei Männer und rauchten. Einer von ihnen weint bitterlich. Das Hotel Ukraina gleicht einem Feldlazarett: In der Lobby des Hotels sind provisorisch Liegen aufgestellt worden. Überall liegen Verletzte, werden von Ärzten und Helfern versorgt. Die ganze Zeit über werden Verletzte reingetragen. Einige von ihnen mit aschfahlen Gesicht und weißen Lippen. Es wimmelt vor TV-Kameras und Journalisten.

Nach wenigen Minuten verließ ich den Ort und ging über den Platz, am Gebäude der Hauptpost vorbei zurück in meine Wohnung. Auf dem Weg, der keine zehn Minuten dauert, zählte ich alleine zu der Zeit zwölf Tote. Sie lagen in Decken gewickelt oder auf Bahren vor den Maidan-Zelten. Ich traute mich erst am ganz am Ende Fotos zu machen, weil ich fand, damit verletzt man die Würde der Toten und der Trauernden. Mehrere ukrainische TV-Sender haben Kameras auf dem Platz installiert und übertragen. Das war vor genau einem Jahr.

Seit dem vergangenen Wochenende werden auf dem Maidan eine Bühne und Tribünenplätze aufgebaut. Die Kamerateams sind zurück. Wer es nicht besser wüsste, könnte meinen, hier wird demnächst ein Konzert oder ein Sportevent stattfinden.

Der Platz ist für die Regierung der Ukraine historisch. Ein großes Wort, aber im Zusammenhang mit den Ereignissen, die sich zwischen dem 18. bis 20. Februar 2014 auf der Institutska Straße/Ecke Kretschatik, zwischen Gewerkschaftshaus, Hotel Ukraina und dem Globus-Shoppingcenter abgespielt haben, hatten sie nicht nur für die Ukraine weitreichende Folgen.

Am 18. Februar hatte der Kommandant des Maidan-Sicherheitsschutzes „Samooborona“, Andreij Parubiy, zu einem „Marsch des Zorns“ in das angrenzende Regierungsviertel Rada aufgerufen. Das Parlament tagte, man wollte den Druck auf die Politiker erhöhen, endlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch auf den Weg zu bringen.

Es war der Auftakt einer zwei Tage währenden Eskalation: An jenem 18. Februar, einem Dienstag kam es den ganzen Tag über zu Prügeleien zwischen Polizei und Demonstranten, am Abend verlagerten sich die Schlägereien aus dem Regierungsviertel, hinunter zum Maidan. In der Nacht versuchte die Polizei den Platz zu stürmen – allerdings ohne Erfolg. Überall auf dem Platz und in einem der direkt an den Maidan angrenzenden Gebäuden brannte es. Die Polizei schoss Blendgranaten, die Demonstranten verteidigten sich mit Molotow-Cocktails und Pflastersteinen.

„Es ist ein Wunder, dass in der Nacht nicht viel mehr Tote und Verletzte zu beklagen waren, wenngleich es Opfer gab“, sagt Marina. Die Ärztin hatte damals als Freiwillige beim Medizinischen Dienst des Maidans geholfen. Es gab zwar Menschen mit Brandverletzungen, aber das war nur das Vorspiel zu dem, was am 20. Februar folgte.

Am 19. Februar spitzte sich die Situation weiter zu. Es kamen immer mehr Menschen auf den Maidan. West-Ukrainer erreichten busseweise Kiew. Die Situation eskalierte dann am Folgetag, am 20. Februar, als einige Demonstranten am Morgen versuchten, erneut ins Regierungsviertel zu stürmen.

Am Vormittag dieses trüben Spätwintertags, wurden innerhalb weniger Stunden über 70 Menschen erschossen. Die meisten starben durch Kugeln von Scharfschützen am unteren Teil der Institutska-Straße. Dort, wo am Sonntag in einer großen Gedenkfeier die Opfer geehrt werden.


„Wir waren schon immer gegen das, was aus Moskau kam“

Olga fällt es schwer, an die Tage Ende Februar 2014 zu denken. Auch das, was danach kam, hat die 24-Jährige bis heute nicht verarbeitet. Ihr Bruder Mischa wurde bei den Maidan-Aufständen schwer verletzt. Als in der Nacht zum 19. Februar das Gewerkschaftshaus Feuer fing, half er beim Löschen und verlor dabei die Hälfte seiner rechten Hand. Mischa musste wegen der Verletzung sein Leben komplett umkrempeln. Er hatte als Stuckateur gearbeitet, jetzt versucht er in einem Taxi-Callcenter Geld zu verdienen. Zu den Ereignissen vom vergangenen Februar will er sich nichts mehr sagen.

Olgas Mann Alexander, war ebenfalls als Freiwilliger auf dem Maidan. Den gesamten Winter hat er bei der „Samooborona“ den Platz gesichert. Im vergangenen Frühjahr meldete er sich zur „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Armee. „Er konnte es gar nicht abwarten, ins Feld zu gehen und gegen die Russen zu kämpfen“, beschreibt die junge Frau die damalige Stimmung. Die Familie lebt in einem kleinen Dorf in der westukrainischen Region Riwne. „Wir waren schon immer gegen das, was aus Moskau kam“, sagt Olga, die sich sonst als unpolitisch beschreibt.

Seit dem 24. Juni 2014 ist Olga Witwe. Ihr Mann kam in der Region Donezk ums Leben, seine Gruppe war gerade mit einem Militär-Lkw auf dem Weg zum nächsten Einsatz. „Es ist die schlimmste Erfahrung meines Lebens, dass ich keinen Abschied von Alexander nehmen konnte. Vor seinem plötzlichen Tod hatten wir zwar noch telefoniert, aber keiner von uns dachte, dass es das letzte Mal sein würde“, sagt Olga und kann ihre Trauer nicht verbergen.

Auch Kostja, der in Wirklichkeit anders heißt, erinnert sich an den 19. und 20. Februar, als sei es gestern gewesen. Der großen russischsprachigen Tageszeitung „Komsomolskaya Prawda“ schüttet er sein Herz aus. Die Reporter trafen den Polizisten der ehemaligen Elite Einheit „Berkut“, die für den Schutz der Regierung Janukowitsch zuständig waren.

Kostja beschreibt die Geschehnisse aus seiner Sicht: Die Polizei sei von Demonstranten angepöbelt, geschlagen und später auch beschossen worden. „Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Wir sollten dafür sorgen, dass keiner der Demonstranten ins Regierungsviertel stürmt“, sagt der Elitesoldat, der seinen Beruf nach wie vor ausübt. Auf welcher Seite und wo, lässt er offen. „Wie die Wildschweine haben sie uns am 20. Februar abgeknallt. Mit großkalibrigen Jagdgewehren, einen Kameraden hat es übel erwischt. Trotz Schutzweste wurde sein kompletter Oberkörper zerfetzt, er hat nicht überlebt“, berichtet der Mann der Zeitung.

Nach einem Jahr kommen immer mehr Augenzeugenberichte, Fotos und Videos des Vormittags vom 20. Februar 2014 ans Licht. Ein junger Fotojournalist aus der Ukraine berichtete vor kurzem, er habe in einem Gebäude am Maidan Fotos von Männern mit Jagdgewehren gemacht. Die Personen hätten ausgesehen wie Maidan-Demonstranten und haben in der Musik-Akademie, direkt am Hotel Ukraina, an Fenstern und auf dem Dach Position bezogen. Die Aufnahmen seien zwischen sieben und acht Uhr morgens entstanden.

Die Berichte des damaligen Parlamentariers Andrej Schewtschenko, der der britischen BBC ein Interview gab, decken sich mit den Aussagen des Fotografen. Schewtschenko sagte, er habe am frühen Morgen einen Anruf von der Polizei erhalten, dass bewaffnete Männer sich in der Musik-Akademie aufhielten. Daraufhin habe Schewtschenko den Anführer der Selbstverteidigung des Maidans, Andrej Parubiy angerufen und ihm davon erzählt. Parubiy soll geantwortet haben, er überprüfe die Sache.


Schlusspunkt einer Trauerphase

Seit den Schüssen ist ein Jahr vergangen, drei Generalstaatsanwälte haben mittlerweile erklärt, sie werden die Hintergründe lückenlos aufklären, doch darauf warten nicht nur die Angehörigen der Opfer bis heute. Die ukrainische Führung gerät immer stärker unter Druck. Fast alle Anführer, die damals die Maidan-Proteste aktiv vorantrieben, sind heute in Regierungsverantwortung: Der „Samooborona“-Chef von damals, Parubiy, ist heute stellvertretender Parlamentssprecher.

Die damaligen Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk und Vitali Klitschko sind Regierungschef beziehungsweise Bürgermeister von Kiew. Einer der Hauptsponsoren der Proteste, der Oligarch Petro Poroschenko, ist Präsident. Keiner hatte bisher die Kraft – oder den Willen –, die wahren Hintergründe der Maidan-Schüsse zu benennen.

In der ukrainischen Gesellschaft wächst bei einigen der Frust darüber. Einige wollen aber auch, dass mit diesem Kapitel endlich abgeschlossen wird. Zum ersten Jahrestag wollten die Veranstalter des Festaktes – das Präsidialamt und die Stadt Kiew – Ursprünglich eine reine Gedenkveranstaltung. Der erste Jahrestag der Schüsse vom Maidan sollte ein Schlusspunkt einer seit einem Jahr andauernden Trauerphase sein.

Doch seit dem 20. Februar 2014 hat sich die Lage in der Ukraine stetig verschlechtert. Vor einem Jahr sagten noch viele Kommentatoren, die vielen Toten auf dem Maidan seien der Tiefpunkt. Von jetzt an gehe es wieder aufwärts. Doch die Spirale der Gewalt nahm vor einem Jahr erst ihren Anfang.

Die Autorin hat den 20. Februar 2014 in Kiew verbracht. Damals berichtete sie bereits fast drei Monate in Kiew für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen und Magazine berichtet. Gegen 8.30 Uhr am Morgen hatte sie PC und den Live-Stream vom Maidan eingeschaltet und verfolgte die Szenen. Am frühen Nachmittag verließ sie ihr Apartment und ging die fünf Minuten zum Hotel Ukraina. Später auf dem Weg zurück, der keine zehn Minuten dauert, zählte sie alleine zwölf Tote. Sie lagen in Decken gewickelt oder auf Bahren vor den Maidan-Zelten.

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