Militärdienstverweigerer in der Ukraine Alles – nur nicht in die Armee

Hiobsbotschaft Einberufungsbescheid: Allein in Kiew entziehen sich 95 Prozent der Wehrfähigen dem Militärdienst. Firmen machen falschen Angaben, um ihre Mitarbeiter zu schützen. Manche Männer gehen sogar noch weiter.

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Ein ukrainischer Soldat salutiert vor Staatspräsident Petro Poroschenko (l.) während einer Zeremonie in Lwiw. Mit etwas Geld kann man sich vom Militärdienst freikaufen. Quelle: dpa

Kiew Dmitri kann aufatmen. Der junge Mann stammt aus der ostukrainischen Industriestadt Dnipropetrowsk und hat sich über Kiew nach Turin in Italien abgesetzt – „gerettet“, wie er sagt. „Ich hoffe, ich kann im Laufe des Jahres an einer Uni in Italien studieren“, sagt er im Gespräch über Skype. Was er derzeit macht, bleibt unklar. Eine Verwandte habe ihn nach Italien eingeladen.

Dmitri ist 22 Jahre alt und hatte sich mehrere Monate in Kiew versteckt, weil er im Herbst 2014 einen Einberufungsbefehl erhalten hatte. „Ich will nicht in die Armee“, sagte er damals. Ursprünglich wollte er sich in Kiew an einer der vielen Universitäten einschreiben, um der Armee zu entgehen, „doch dann erhielt ich die Möglichkeit, ins richtige Europa zu gehen“, sagt er. 60.000 Soldaten will die Ukraine in den nächsten fünf Monaten ausbilden. Doch allein in Kiew entziehen sich 95 Prozent der Wehrfähigen dem Militärdienst.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich diejenigen, die es können, vom Militärdienst freikaufen. Erst vor wenigen Wochen wurde im westukrainischen Czernowitz ein Arzt medienwirksam verhaftet, der für die Ausstellung ärztlicher Atteste zur Dienstuntauglichkeit bei den Streitkräften bis zu 3500 Euro pro Unterschrift kassierte.

Doch solche Beispiele schrecken die meisten Männer nicht ab. Vor allem in der West-Ukraine, in den Regionen Transkarpatien, Iwano-Frankiwsk und Lwiw sind in den vergangenen Monaten mehr als 60 Prozent der arbeitsfähigen Männer ausgereist. Markijan ist bereits kurz nach Neujahr in den Bus gestiegen und zu seiner Arbeitsstelle in die EU gefahren. Der Mann heißt eigentlich anders, seine Familie lebt in der Region Lwiw. Markijan arbeitet seit Jahren als Saisonarbeiter in der EU, erst bei einem Spargelbauern und später im Sommer als Erntehelfer.

Das Geld, das er dort in fünf oder sechs Monaten verdient, schickt er zu seiner Familie. Bis zu 70 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind in der Westukraine im benachbarten Polen oder in Rumänien tätig. Viele gehen in Italien, Deutschland oder Österreich einer Arbeit nach.

Markijans Frau hat einem ukrainischen TV-Sender ein Interview gegeben, ihr Gesicht und ihre Stimme wurden unkenntlich gemacht. „Wenn er kein Geld aus Europa schickt, können wir nicht überleben“, sagt die Frau. Sie, die drei Kinder sowie seine und ihre Eltern bringe Markijan mit den Einkünften aus der Saisonarbeit über die Runden. Nicht auszudenken, wenn er an die Front müsste, versehrt wiederkommen oder gar sterben würde. In der Westukraine leben viele Menschen mit einem Schengen-Visum, das die Einreise in die EU ermöglicht. In zahlreichen Grenzorten besteht zudem der Kleine Grenzverkehr, der Anwohnern in Grenzregionen gegenseitig Sonderrechte einräumt.

Nicht nur in Lwiw sind die Saisonarbeiter busweise ausgereist, das Phänomen taucht auch in anderen Landesteilen auf. Auch in der Ostukraine entziehen sich viele Männer der Mobilisierung. In der nordöstlichen Region Sumy wurden beispielsweise organisierte Bustouren beobachtet.

Die Busse fahren die Dörfer ab und bringen die Männer über die Grenze nach Russland. Dort sind viele Ukrainer traditionell auf dem Bau beschäftigt. Zwischen Russland und der Ukraine gibt es keine Visa-Auflagen. Die Regierung in Moskau hat die Arbeitserlaubnis für ukrainische Arbeiter in den vergangenen Monaten sogar noch ausgeweitet. 180 Tage am Stück dürfen Ukrainer nun beim Nachbarn arbeiten, ohne zwischenzeitlich nach Hause zu müssen.


Nur sechs Prozent der Wehrpflichtigen sind Freiwillige

Obwohl der Aufwand erheblich ist und im Fernsehen jeden Abend Werbespots zu sehen sind, die zur Mobilisierung aufrufen, verlief die insgesamt vierte Einberufungswelle schleppend. Deshalb soll nun die fünfte folgen. Nur sechs Prozent der Wehrpflichtigen sind Freiwillige.

Das war im vergangenen Sommer noch ganz anders. Zu Anfang der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine hatten sich bis zu 30 Prozent Freiwillige gemeldet, unter ihnen auch viele Studenten. Nun müssen die Mitarbeiter der Militärkommissariate sogar selbst von Tür zu Tür ziehen, um diejenigen mit einem Einberufungsbescheid von zuhause abzuholen.

In Kiew sprechen die Medien bereits von einer „Jagd auf Militärdienstleistende“. Vor allem private Unternehmer würden den Behörden falsche Informationen über ihre Arbeitnehmer abgeben, um sie so vor dem Dienst an der Waffe zu schützen. Bis zu 95 Prozent der Wehrdienstpflichtigen sollen sich nach Angaben der Tageszeitung „Segodna“ in Kiew vor der Armee drücken.

Die Regierung will nun härtere Saiten aufziehen und droht den Firmen mit „Bilanzprüfungen“ und der „Steuerinspektion“. Der Leiter des Militärbüros der Stadt Kiew, Oleg Garjaga, warnte im Gespräch mit der Tageszeitung „Segodna“: „Die Firmen müssen mit dem Militär Hand in Hand arbeiten. Sonst können wir überprüfen lassen, ob sie sich auch sonst an die Gesetze halten.“

Eine offene Drohung, die viele betrifft. Auch in der sonst eher patriotischen Westukraine gehen Firmen diesen Weg. In dieser Region haben vor allem mittelständische Firmen ihre Produktionsstätten, auch Betriebe aus der EU wie der Kabelbaumhersteller Leonie.

Der Gouverneur von Iwano-Frankiwsk, Oleg Gontscharuk, stellte sich nun vor die Unternehmer. Es gehe nicht an, dass eine Firma, die 120 Leute beschäftigt, Einberufungsbefehle für 60 erhalte, sagte der Gouverneur auf einer Sitzung mit dem Militärkommando West der ukrainischen Streitkräfte. „Ich verbiete Ihnen, die Einberufungspapiere bei den Firmen stapelweise abzuladen“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Uniform.

In den sozialen Netzwerken gibt es unzählige Berichte von jungen Männern, die über ihre Erfahrungen bei der Armee schreiben. Den meisten macht die schlechte Ausstattung, die als mangelhaft empfundene Verpflegung sowie der Umgangston der Vorgesetzten zu schaffen.


Unzumutbare Zustände in den Schlafunterkünften

Einer der bekanntesten Blogger ist Wjatscheslaw Pojesdnik. Auf Facebook berichtet er seinen Lesern von Ungeziefer in den Schlafunterkünften, fehlendem Besteck („Wir nehmen das harte Brot als Ersatz für Löffel und Gabel“) und stellt die Frage: „Wo gibt es in unserer Armee frisches Obst wie Kiwi oder Apfelsinen?“ Dazu postet er ein Foto, das die Pressestelle von Präsident Petro Poroschenko vor ein paar Tagen verschickte. Es zeigt den Präsidenten beim Essen mit Soldaten in einer Soldatenkantine in Lwiw.

Das Verteidigungsministerium hat trotz aller Kritik nun zu einer fünften Mobilisierungswelle aufgerufen, denn es fehlen noch zwischen 15.000 und 20.000 Mann, um die angepeilte Reserve in Höhe von 60.000 Soldaten zu erreichen. Auf der anderen Seite werden immer mehr Bevölkerungsgruppen von der Mobilisierungspflicht befreit. Diese Woche unterschrieb der Präsident ein Gesetz, das Studenten, Doktoranden und Fachleute, die bei internationalen Firmen arbeiten, erlaubt, der Ausbildung an der Waffe fernzubleiben.

Experten wie der renommierte Militärforscher Juri Butusow, kritisieren die politische Führung für den Umbau der ukrainischen Streitkräfte. In einem Beitrag in der Wochenzeitschrift „Zerkalo Nedeli“ schrieb Butusow vor einigen Wochen, die Menschen hätten kein Vertrauen in Politik und Militär, deshalb laufe die Mobilisierung so schlecht.

„Das Volk sieht nicht ein, wieso man sich für eine Handvoll Politiker, die gleichzeitig Oligarchen sind, an der Front erschießen lassen soll“, erläutert Butusow in dem vielbeachteten Artikel. Auch mit der Militärführung geht er hart ins Gericht. In der Armee gedeihe Korruption, es herrsche vielerorts Inkompetenz, und die Ausstattung sei größtenteils vor museumsreif. Nur mit ernstgemeinten Anstrengungen und mit erheblicher Unterstützung durch westliche Armeespezialisten könne der ukrainischen Armee ein Neuanfang gelingen. Butusow fordert: „Der Umbau muss an Haupt und Gliedern erfolgen, sonst bleibt das bestehende System erhalten.“

Dmitri interessieren solche Ratschläge nicht mehr. „In der Ukraine haben die Politiker seit mehr als 20 Jahren den Umbau versprochen, doch das Land ist immer weiter abgerutscht“, sagt der 22-Jährige und klingt verbittert. Er will nun in Italien ein neues Leben beginnen, denn er sei nur einmal jung: „Wenn ich jetzt nicht anfange, ist der Zug für mich abgefahren.“

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