Regisseur Michael Moore "Der freie Markt existiert nicht mehr"

Regisseur Michael Moore über seine Wut auf unser Wirtschaftssystem und seinen neuen Film „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“.

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Filmemacher Michael Moore Quelle: REUTERS

WirtschaftsWoche: Herr Moore, warum hassen Sie den Kapitalismus so sehr?

Moore: Weil er das komplette Gegenteil von Demokratie darstellt. Demokratie ist ein System, das allen nutzen soll. Vom Kapitalismus dagegen profitiert eine winzige Minderheit zulasten des Großteils der Bevölkerung, der keinerlei Kontrolle über die Strukturen der Wirtschaft hat.

Diese Strukturen stehen allen offen...

Das ist der Traum, mit dem man die Leute ködert: „Eines Tages kannst du auch reich sein.“ Aber wenn dieser Weg allen offensteht, wie kommt es dann, dass ein Prozent der Gesellschaft mehr Vermögen besitzt als die restlichen 99? Wissen Sie, wie man uns bald nennen wird?

Nein. Wie denn?

Lohnsklaven! Man wird sagen: „Die Menschen damals glaubten, sie würden in Freiheit leben, weil sie Lohnzahlungen erhielten.“ In den Südstaaten gab es auch Sklaven, die Kost und Logis umsonst bekamen, die fühlten sich durchaus wohl. Wir fühlen uns gut, weil wir einen Gehaltsscheck bekommen. Und deshalb lassen wir diese Minderheit der Gesellschaft schalten und walten, wie sie wollen.

Aber unter den Rahmenbedingungen, die die gewählten Volksvertreter vorgeben.

Ich kann diese Rahmenbedingungen nicht ernst nehmen. Im 19. Jahrhundert hieß es auch: „Wir müssen die Sklaverei nicht abschaffen, wir müssen sie nur humaner machen.“ Oder: „Kinderarbeit ist in Ordnung, solange es sichere Arbeitsbedingungen gibt und die Kinder zur Schule gehen.“ Nein – Sklaverei und Kinderarbeit sind nicht in Ordnung.

Wie sieht Ihr Gegenmodell aus: Sozialismus statt Kapitalismus?

Dieses Gegensatzpaar funktioniert doch längst nicht mehr. Wir müssen jenseits solcher Schubladen denken. Ich bin nicht gegen freies Unternehmertum. Es ist völlig richtig, wenn sich jemand etwas mit harter Arbeit aufbauen und etwa eine Eisdiele aufmachen will. Die Kunden entscheiden, ob sie sie mögen. Vielleicht ist er besser als die Konkurrenz, vielleicht nicht. Vielleicht gibt es genügend Kunden für verschiedenste Eisdielen.

Und was ist das Problem?

Die Spieler des Kapitalismus beuten andere aus, um den Markt allein zu kontrollieren. Das gilt in allen Wirtschaftssektoren. Schauen Sie doch, was Goldman Sachs getan hat.

Was denn?

Sie sind der König der Wall Street, haben im Zuge der Finanzkrise ihre gesamte Konkurrenz vernichtet.

Das sind die Mechanismen des Marktes...

Das sagen sie bei Goldman natürlich auch – dass sie an die Macht des Marktes glauben. Von wegen. Die wünschen sich sowjetische Verhältnisse: eine Investmentfirma, eine Zeitung, einen Automobilhersteller. Sie wollen nicht nach den Regeln des Marktes spielen. Sobald es ihnen schlecht geht, verlangen sie, dass Vater Staat ein Sicherheitsnetz aufspannt.

Dann wäre mehr Kapitalismus die Lösung.

In gewissem Sinne ja – es gibt nicht genügend Kapitalismus. Genauer gesagt, die Vorstellung eines freien Markts existiert nicht mehr. Aber ich glaube nicht, dass wir das Rad noch zurückdrehen können. Deshalb brauchen wir ein neues System, das auf demokratischen Prinzipien beruht, in dem Sie und ich ein Wörtchen über die Verteilung des Wohlstands mitzureden haben.

In Ihrem Film präsentieren Sie Kooperativen als eine dieser Lösungen. Gehört das zu Ihrem alternativen System?

Ja. Außerdem sollte der Staat – also die Bevölkerung – bestimmte Teile der Industrie kontrollieren. Dass die USA jetzt Teile von General Motors besitzen, eröffnet große Möglichkeiten: Wir könnten endlich einen Hochgeschwindigkeitszug konstruieren lassen, den dieses Land so dringend benötigt. Das Gleiche gilt für das Gesundheitswesen. Das Problem ist, dass Privatunternehmen nur an Gewinne denken. Die Gesetzgebung der USA besagt, dass ein börsennotiertes Unternehmen alles in seiner Macht stehende tun muss, um die Profite für die Aktionäre zu maximieren.

Ein verständlicher Wunsch von Eignern.

Aber wer sagt, dass Profite etwas Gutes sind? Unsere Krankenversicherungen denken zunächst an die Aktionäre, nicht an ihre Patienten. Die Folgen sind bekannt. Wir privatisieren ja auch nicht unsere Polizei oder Feuerwehr. Von den Flughäfen erwartet niemand, dass sie Gewinne abwerfen – von unserem Eisenbahnsystem eigenartigerweise schon.

Und auch von Ihren Filmen. Oder werden diese aus karitativen Gründen gesponsert?

Nein. Aber darin liegt ja auch eine große Ironie. Die Produktionskosten meiner Dokumentationen betragen ein paar Millionen Dollar, die Profite 100 Millionen. Die Medienkonzerne wissen, dass sie mit mir Geld verdienen können, indem ich sie attackiere. Ein Konstruktionsfehler des Kapitalismus – verrückt.

Aber Sie denken doch auch selbst profitorientiert?

Nur insofern, als mir das erlaubt, neue Filme zu machen. Aber als Privatperson – nein. Ich habe nie in Aktien investiert. Nicht nur, weil ich aus politischen Gründen nicht daran glaube, sondern weil ich sie nicht verstehe. Das Ganze wirkt auf mich wie ein riesiges Kasino. Und ich hatte nie Lust, mein Geld in einer Spielbank zu riskieren. Ich lege es lieber auf ein Sparkonto, das vielleicht ein Prozent Zinsen im Jahr abwirft. Die einzigen Wertpapiere, die ich kaufe, sind – ebenfalls niedrig verzinste – Staatsanleihen.

Meine Eltern brachten mir bei, mein eigenes Haus zu kaufen – das habe ich getan. Ich unterstütze Mitglieder meiner großen Familie und meine Nachbarschaft. Vor Kurzem spendete ich 60.000 Dollar, damit ein Stück Land im naturbelassenen Zustand erhalten bleibt. Und ich ließ ein altes Kino restaurieren und neu eröffnen, das 20 Jahre lang geschlossen war.

Warum ist eine derartige Einstellung in Ihrem Land so wenig verbreitet?

Weil wir immer noch der alten Cowboy-Ideologie anhängen: „Ich, ich, ich! Zieh dich mit eigener Kraft aus dem Schlamassel!“ Der Sinn für Solidarität ist in anderen Ländern viel stärker ausgeprägt. Ich bin dabei nicht kurzsichtig. Ich weiß sehr wohl, welche Probleme es etwa in der deutschen Autoindustrie gibt. Aber ich sehe das aus einem amerikanischen Blickwinkel, und ich würde mir wünschen, dass wir einige Ihrer Eigenschaften übernehmen würden.

Verschärft wird das Ganze noch durch den schreienden Bildungsmangel in meinem Land. Die republikanischen Regierungen haben den Bildungsetat zusammengestrichen, um eine Nation von Idioten zu schaffen, die sich leicht manipulieren lassen. Es gibt 40 Millionen funktionale Analphabeten in unserem Land. Und da wundern sich die Medienunternehmen, wenn sie eine Zeitung nach der anderen einstellen müssen. Die amerikanischen Verhältnisse sind ein Menetekel für den Rest der Welt. Ahmen Sie nur nicht Amerika nach. Sonst werden Sie immer mehr Gewalt und mehr Idioten bekommen.

Immerhin hat diese Nation einen Barack Obama ins Amt gewählt.

Sie hat ihn zwar gewählt, aber sie unterstützt ihn nicht mehr. Die Amerikaner müssen sich wieder für diesen Präsidenten engagieren. Er ist immer noch unsere beste Chance, um aus dieser Krise herauszukommen. Stellen Sie sich vor, der Dummkopf von früher wäre immer noch an der Macht. Der hat dieses Schlamassel ja mit angerichtet. Seine Regierung deregulierte die Finanzmärkte und ließ die Banken treiben, was sie wollen.

Woher kommt die Vorliebe der Amerikaner für republikanische Regierungen?

Die Geschichte hat gezeigt, dass die Politiker der Rechten die Menschen leichter überzeugen konnten. Denn diese Leute appellieren an ganz bestimmte Instinkte: „Ich bin dein Führer, ich kümmere mich um dich. Wenn es dir schlecht geht, ist das nicht deine Schuld, sondern die der anderen.“ Das funktioniert – übrigens nicht nur in Amerika. Als Ronald Reagan kam, liebten die Leute diese Botschaft: „Ihr seid okay. Amerika ist großartig, zur Hölle mit dem Rest der Welt.“

Dann müssten Sie mit Ihren Filmen auf verlorenem Posten kämpfen. Mit „Fahrenheit 9/11“ gelang es Ihnen ja auch nicht, die Wiederwahl von George W. Bush zu verhindern.

Kurzfristig hatte der Film keine Wirkung, das gebe ich zu. Aber langfristig durchaus. Ich war der erste, der es wagte, eine Salve auf die Bush-Regierung abzufeuern, was mir viele Schmähungen eingetragen hat. Aber ich habe andere Leute ermuntert, über Bush zu schreiben und Filme zu machen.

Und zwei, drei Jahre später unterstützte ihn die Mehrheit der Amerikaner nicht mehr. Bei meinem Film über das US-Gesundheitswesen, „Sicko“ vor zwei Jahren war es ähnlich. Jetzt führen wir eine nationale Debatte über eine allgemeine Krankenversicherung, die es damals nicht gab. Und mal sehen, was mit diesem Film passiert. Kapitalismus ist bei uns eine heilige Kuh – bislang hat niemand es gewagt, sie zu schlachten.

Man sagt Ihnen allerdings auch nach, dass Sie die Fakten für Ihre Zwecke ein wenig zurechtbiegen.

Dreimal dürfen Sie raten, wer dieses Gerücht in die Welt setzt. Ich bin eine Gefahr für Politiker und Konzerne, weil ich linke Politik massentauglich mache. Deshalb gibt man viel Geld dafür aus, mich zu diskreditieren. Wendell Potter, ein ehemaliger Top-Manager des großen Krankenversicherers Cigna, bestätigte in einer großen US-Talkshow, dass es eine solche Schmutzkampagne gegen mich und meinen Film gab. Aber gerade weil man mich so genau unter die Lupe nimmt, behaupte ich nichts in meinen Filmen, was nicht mindestens von drei Quellen bestätigt wurde.

Zum Beispiel?

Etwa, dass es in den USA große Fluglinien gibt, die ihren Piloten ein Jahresgehalt von 16 000 Dollar zahlen. Oder dass Firmen Lebensversicherungen auf ihre Angestellten abschließen. Oder dass ein Richter eine Provision erhielt, damit er Jugendliche zur Haft in einem privat betriebenen Gefängnis verurteilte.

Wieso suchen Sie nicht die direkte Auseinandersetzung mit der Gegenseite?

Ich suche sie ja. Aber die Gegenseite geht mir aus dem Weg. Wenn eine amerikanische Talkshow mich einlädt, wollen sie auch jemand, der eine konträre Position vertritt. Aber da findet sich keiner.

Welche Reaktion wünschen Sie sich eigentlich von Ihrem Publikum? Sollte es auf die Barrikaden gehen?

Es steht ja kurz davor. Ich brauche ihm das gar nicht mehr zu sagen. Ich zeige den Leuten, dass sie nicht allein sind. Und dass sie sich nicht von den Konzernen einschüchtern lassen dürfen. Denn die schaffen ein Klima der Angst, in dem es Arbeitnehmer nicht wagen, nach mehr Urlaub oder einer Lohnerhöhung zu fragen. Aber die Menschen haben das Recht, dieses System auf legale, friedliche Weise zu ändern. Noch fürchten sie sich davor. Aber hoffentlich können ihnen meine Filme etwas von dieser Angst nehmen.

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