Schuldenkrise Die griechischen Verlierer

Zittern bis zum Schluss: Finden die Euro-Finanzminister bei ihrem Treffen an diesem Donnerstag eine Lösung im Schuldenstreit um Griechenland? Egal wie das Tauziehen ausgeht – die Verlierer stehen jetzt schon fest.

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Senioren marschieren bei einer Demonstration in Athen. Die Rentner demonstrieren gegen die Rentenkürzungen und das Sparpaket der griechischen Regierung. Quelle: dpa

Athen „Wir sind doch immer die Dummen“, klagt Pavlos Kostopoulos. Der 72-Jährige sitzt auf einer Bank im Nationalgarten von Athen. Die „mikri vouli“, das „kleine Parlament“ nennt man diesen schattigen Platz am Rand des Parks. Hier werden jene Themen debattiert, die im richtigen Parlament, das nur ein paar hundert Meter entfernt ist, oft zu kurz kommen. Ein Dutzend Rentner bevölkert das Rund. Manche spielen Tavli.

„Die Politiker machen mit uns, was sie wollen, wenn wir uns nicht wehren“, sagt einer der Männer und schwingt drohend seinen Spazierstock. Er erntet beifälliges Gemurmel. Die alten Herren sind gut informiert, die Namen der Hauptakteure des Dramas sind ihnen geläufig: Schäuble, Dijsselbloem, Le Maire. Tsakalotos, der griechische Finanzminister, sowieso. „Die Lagarde soll ja auch kommen“, sagt einer der Rentner.

Dass sich die Chefin des Internationalen Währungsfonds zum Treffen der Euro-Finanzminister in Luxemburg angesagt hat, gilt als gutes Vorzeichen für eine Einigung. Auch der nicht zur Euphorie neigende Bundesfinanzminister zeigt Zuversicht: „Am Donnerstag kriegen wir es hin, Sie werden sehen“, sagte Schäuble diese Woche bei einer Konferenz in Berlin. Die Athener Regierung verbreitete indessen düstere Prognosen: Man sei noch „sehr weit von einer Lösung entfernt“, hieß es in Regierungskreisen.

Premier Alexis Tsipras ließ seinen Sprecher erklären, er habe das Vertrauen in die Euro-Gruppe verloren, solange an den Sitzungen des Gremiums Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble teilnehme. Tsipras will den Schuldenstreit offenbar auf die Tagesordnung des EU-Gipfels am 22. Juni bringen.

Um den Weg zu einer Einigung zu ebnen, hatte Tsipras am vergangenen Freitag im Eilverfahren binnen weniger Stunden ein weiteres Sparpaket durchs Parlament gepeitscht. Danach bleiben die bereits bis 2021 gedeckelten Renten nun auch 2022 eingefroren. Geschätzte Einsparung: 250 Millionen Euro. Bereits drei Wochen zuvor hatte das Parlament umfangreiche Rentenkürzungen beschlossen: Ab Januar 2019 werden die Bezüge der Pensionäre um bis zu 18 Prozent beschnitten.

„Wovon soll ich dann noch leben?“, fragt Pavlos Kostopoulos. Vor Beginn der Sparprogramme im Jahr 2010 bekam der Gymnasiallehrer a.D. knapp 1.400 Euro Pension im Monat. Heute sind es 960 Euro. Die Zusatzrente, für die er freiwillig fast 30 Jahre lang Beiträge eingezahlt hatte, wurde ihm sogar von 320 auf 125 Euro gekürzt. „Sie haben mir mein Geld gestohlen“, sagt der Rentner wütend und schlägt mit der geballten Faust so heftig auf den Blechtisch, dass die Tavlisteine tanzen.

Seinem Mitspieler, einem 73-jährigen früheren Bankangestellten, ist es noch schlechter ergangen. Seine Rente hat sich in den sieben Krisenjahren von 2.200 auf 1.100 Euro halbiert. „Nach den nächsten Kürzungen Anfang 2019 kriege ich weniger als 1.000 Euro“, hat der Mann ausgerechnet.

Dabei sind die Herren in der „mikri vouli“ noch relativ privilegiert. Von den knapp 2,9 Millionen griechischen Rentnern beziehen drei Viertel weniger als 1.000 Euro im Monat. 1,2 Millionen müssen mit Netto-Bezügen von weniger als 500 Euro monatlich auskommen.

Der Interessenverband „Netzwerk Vereinigte Rentner“ hat seit Beginn des Sparkurses im Frühjahr 2010 bereits 22 Rentenkürzungen und Beitragserhöhungen dokumentiert. Mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen sind es 23. Neben den beschnittenen Bezügen zehren auch höhere Verbrauchs- und Einkommensteuern an der Kaufkraft der Rentner. „Uns bleibt immer weniger zum Leben“, klagt einer der Männer im Park, „selbst ein Cafébesuch ist zum Luxus geworden.“


Viele Arbeitslose leben von den Renten ihrer Eltern und Großeltern

Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln hat sich die Zahl der Griechen, die in Armut leben oder akut armutsbedroht sind, zwischen 2008 und 2015 um 41,5 Prozent erhöht – nicht zuletzt infolge der Rentenkürzungen. Verschärft wird die Einkommenssituation vieler Rentner durch die hohe Arbeitslosigkeit. Arbeitslosengeld wird in Griechenland maximal ein Jahr lang gezählt, dann ist Schluss. Eine Grundsicherung wie Hartz IV gibt es nicht. So erhält nur jeder zehnte der rund eine Million Arbeitslosen staatliche Unterstützung. Viele Arbeitslose leben deshalb von den Renten ihrer Eltern und Großeltern.

In der Vergangenheit war der griechische Staat gegenüber den Rentnern großzügig. In den Jahren 1991 bis 2009 wuchsen die Aufwendungen für Renten in Griechenland im jährlichen Durchschnitt um 8,3 Prozent, gegenüber 3,8 Prozent in Italien und 3,6 Prozent in Deutschland. Beschäftigte im Staatsdienst konnten schon nach 30 Berufsjahren mit Mitte 50 in Pension gehen und erhielten rund 80 Prozent oder mehr ihrer letzten Bezüge als Ruhegeld. Die generösen Rentenregelungen waren eine der Ursachen der griechischen Schuldenkrise. 2009 erreichten die Ausgaben für das Rentensystem rund 24 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts.

Die Quote ist zwar infolge der Rentenkürzungen inzwischen auf knapp 15 Prozent gefallen, liegt damit aber immer noch beim Doppelten des Durchschnitts der OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Im vergangenen Jahr musste der griechische Finanzminister fast 23 Prozent der Haushaltsausgaben aufwenden, um die Defizite der staatlichen Rentenkassen zu decken.

Trotz der tiefen Einschnitte bei den Bezügen und der Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre wird das griechische Rentensystem auf absehbare Zukunft hoch defizitär bleiben. Das hat vor allem zwei Gründe. Der eine ist die extrem hohe Arbeitslosenquote von derzeit knapp 23 Prozent. Unter den 15- bis 24-Jährigen sind sogar fast 47 Prozent ohne Job. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds wird die Arbeitslosenquote frühestens in 21 Jahren wieder das Vorkrisenniveau von rund acht Prozent erreichen. Außerdem haben seit Beginn der Krise etwa 450.000 Griechen ihre Heimat verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Wie die Arbeitslosen, fallen auch die Auswanderer als Beitragszahler aus.

Der zweite Grund der Misere ist die extrem ungünstige Bevölkerungsentwicklung. 2015 lag die Geburtenrate in Griechenland zehn Prozent niedriger als 2001. Nach einer Studie der Alpha Bank kommen aktuell in Griechenland auf zehn Menschen im erwerbsfähigen Alter drei Bürger im Alter von über 65. Im Jahr 2060 werden es bereits sechs sein. Der Altenquotient, der das Verhältnis älterer, nicht mehr erwerbstätiger Menschen zur Anzahl der erwerbsfähigen Einwohner wiedergibt, liegt bereits jetzt in Griechenland mit 30 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt von 24 Prozent.

Die Schuldenkrise bremst das Bevölkerungswachstum zusätzlich, weil sich immer weniger Familien Kinder leisten können oder wollen. Die Fertilitätsrate – sie bezeichnet die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Frau während ihres gebärfähigen Alters zur Welt bringt – fiel von 1,5 im Jahr 2009 auf 1,3 im Jahr 2015. Der Anteil der über 65-Jährigen wird von aktuell 21 Prozent der Bevölkerung bis 2050 auf knapp 34 Prozent steigen – verglichen mit 26 Prozent im EU-Durchschnitt.

Dieses Zukunftsszenario werden die Rentner in der „mikri vouli“ zwar nicht mehr erleben. Aber für sie ist die Gegenwart schon schwer genug. Pavlos Kostopoulos hat sich von seiner Steuerberaterin ausrechnen lassen, dass seine Bezüge ab 2019 von 1.085 auf 890 Euro fallen werden. „Das sind sie also, die ‚goldenen Jahre‘“, sagt der 72-Jährige verbittert. „So hatte ich mir mein Alter nicht vorgestellt.“

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