In einem Rückschlag für China haben die Menschen in Taiwan William Lai von der Demokratischen Fortschrittspartei zum neuen Präsidenten gewählt. Bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl in dem ostasiatischen Inselstaat errang der 64-Jährige am Samstag rund 40 Prozent der Stimmen. Taiwan entschied sich damit für den Status quo, vor allem in Bezug auf das Verhältnis zum mächtigen Nachbarn China. Lais Partei steht für eine Unabhängigkeit Taiwans, Peking betrachtet sie deshalb als Separatisten. Im Parlament verlor die Fortschrittspartei (DPP) jedoch ihre absolute Mehrheit, was die künftige Regierungsarbeit erschweren dürfte.
„Wir sagen der internationalen Gemeinschaft, dass wir zwischen Demokratie und Autoritarismus auf der Seite der Demokratie stehen“, erklärte Lai am Abend in Taipeh.
Das angespannte Verhältnis zu China war ein bestimmendes Wahlkampfthema in dem Land mit mehr als 23 Millionen Einwohnern. Die Kommunistische Partei in Peking zählt Taiwan zum Territorium Chinas, obwohl sie die Insel im Indopazifik bislang nie regierte und Taiwan seit Jahrzehnten eine unabhängige, demokratisch gewählte Regierung hat. Lai rief China noch am Abend dazu auf, den Frieden in der Meerenge zwischen beiden Staaten zu wahren. „Ein globaler Frieden hängt vom Frieden in der Taiwanstraße ab“, sagte er. Zugleich zeigte er sich für Zusammenarbeit mit China bereit.
Worum geht es bei dem Streit um Taiwan?
Der kommunistische Machtanspruch geht auf die Gründungsgeschichte der Volksrepublik China zurück. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten zog die nationalchinesische Kuomintang-Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan, während Mao Tsetung 1949 in Peking die Volksrepublik ausrief. Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sieht eine „Vereinigung“ mit Taiwan als „historische Mission“.
Stand: September 2023
Die Insel zwischen Japan und den Philippinen hat große strategische Bedeutung. US-General Douglas MacArthur bezeichnete Taiwan einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA. Eine Eroberung durch China wäre ein wichtiger Baustein in dessen Großmacht-Ambitionen, weil es das Tor zum Pazifik öffnen würde.
China zwingt jedes Land, das diplomatische Beziehungen mit Peking haben will, keine offiziellen Kontakte mit Taiwan zu unterhalten. Es ist vom „Ein-China-Grundsatz“ die Rede. Danach ist Peking die einzige legitime Vertretung Chinas. Auf chinesischen Druck wurde Taiwan aus den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ausgeschlossen. Nur wenige kleinere Länder unterhalten noch diplomatische Beziehungen. Deutschland oder die USA betreiben nur eine inoffizielle Vertretung in Taipeh.
Die Taiwaner verstehen sich mehrheitlich längst als unabhängig und wollen zumindest den Status quo wahren. Auch wollen sie als Demokratie international anerkannt werden und sich keinem diktatorischen System wie in Festlandchina unterwerfen. Die frühere Kuomintang-Regierung hatte einst selber einen Vertretungsanspruch für ganz China, was sich bis heute im offiziellen Namen „Republik China“ widerspiegelt. Dieser Anspruch wurde 1994 aufgegeben. Damals wandelte sich Taiwan von einer Diktatur zu einer lebendigen Demokratie. Jede Veränderung des Status quo müsste aus Sicht der Regierung heute demokratisch von den 23 Millionen Taiwanern entschieden werden.
Experten gehen davon aus, dass ein Krieg um Taiwan massive und größere Auswirkungen hätte als der Angriff Russlands auf die Ukraine - auch auf Deutschland. Taiwan ist Nummer 22 der großen Volkswirtschaften, industriell weit entwickelt und stark mit der Weltwirtschaft verflochten. Ein Großteil der ohnehin knappen Halbleiter stammen von dortigen Unternehmen. Wegen der großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt wären deutsche Unternehmen massiv betroffen, wenn ähnlich wie gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen China verhängt werden sollten.
Stand: September 2023
Auch Lais Kontrahenten hatten sich für Austausch mit Peking stark gemacht. Für Hou Yu-ih von der chinafreundlichen und konservativen Kuomintang (KMT) und Ko Wen-je von der populistischen Taiwanischen Volkspartei (TPP) stimmten jedoch nur 33,49 Prozent beziehungsweise 26,46 Prozent der Wähler. Insgesamt waren 19,5 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Die Beteiligung lag mit rund 72 Prozent geringfügig niedriger als 2020.
Expertin: Mehr Spannungen möglich
„Lais Sieg wird die Spannungen in der Taiwanstraße erhöhen, und es gibt die Erwartung, dass Peking damit reagiert, den Druck auf Taiwan zu erhöhen“, sagte die Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik am China-Institut Merics in Berlin, Helena Legarda, der Deutschen Presse-Agentur. Möglich seien etwa Militärübungen oder handelspolitische Zwangsmaßnahmen. Einen Krieg in der Meerenge hielt die Expertin allerdings für unwahrscheinlich. Peking werde das aktuelle Maß an Druck beibehalten, um eine Eskalation zu verhindern. Das erklärte auch der China-Experte und EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer im Gespräch mit der WirtschaftsWoche: „Wenn Peking auf militärisches Abenteurertum setzte, würde es dafür einen außerordentlich hohen Preis zahlen. Darüber dürfte sich Peking kaum täuschen. Deshalb versucht man dort, mit Drohungen seine Ziele zu erreichen.“
Die Spannungen in der Taiwanstraße, einer äußert wichtigen internationalen Handelsroute, nahmen über Jahre zu. Mittlerweile lässt die Volksbefreiungsarmee fast täglich als Machtdemonstration Kampfflieger in Taiwans Luftverteidigungszone fliegen. Schon 2016 brach China den Kontakt zur taiwanischen Regierung ab, nachdem die DPP unter Tsai Ing-wen die Präsidentschaftswahl gewann. Außerdem droht Peking immer wieder mit militärischen Mitteln, sollte eine „Wiedervereinigung“ scheitern. China begründet historisch, dass Taiwan zum Gebiet der Volksrepublik zähle.
Sollte Taiwan offiziell die Unabhängigkeit erklären, wäre das für Peking ein Grund, die Situation in der Taiwanstraße eskalieren zu lassen. Lai will die Verteidigung Taiwans deshalb aufrüsten und China so abschrecken, einen Konflikt zu beginnen. Er hält es nach eigenen Worten aber nicht für nötig, die Unabhängigkeit Taiwans offiziell zu erklären.
Schwierige Parlamentsarbeit
Laut dem Politik-Experten Wu Rwei-ren von der taiwanischen Academia Sinica dürfte die DPP nun Taiwans politische und wirtschaftliche Allianz mit den USA aufrechterhalten. Die Vereinigten Staaten sind ein Verbündeter der Insel. US-Präsident Joe Biden hatte Taipeh Unterstützung im Fall einer Verteidigung zugesichert. Schon länger liefern US-Firmen Waffen an Taiwan, was Peking kritisiert. Wirtschaftlich hat Taiwan wegen der dort ansässigen Halbleiterindustrie Bedeutung. So hat dort der weltgrößte Auftragschiphersteller TSMC seinen Sitz. „Taiwan ist ökonomisch derzeit unersetzbar“, so Reinhard Bütikofer über die Bedeutung des Landes für die Weltwirtschaft.
Im Parlament könnte es die DPP nach dem Verlust der absoluten Mehrheit nun schwerer haben. Von den 113 Sitzen entfielen 52 auf die KMT und 51 auf die DPP. Das Kabinett, das Lai als Präsident ernennt, muss daher zum Beispiel mit der TPP zusammenarbeiten, die acht Sitze erhielt.
Die von Lai ernannte Regierung dürfte innenpolitisch auf mehr Widerstand stoßen, was die weitere Verflechtung mit dem US-Lager verlangsamen könnte, sagte Wu. Lai kündigte bereits an, auch Vertreter anderer Parteien mit einzubinden, und zunächst an politischen Vorhaben arbeiten zu wollen, bei denen ein Konsens herrsche.
Aktivist: Klare Unterscheidung zwischen China und KP
Lai sollte in den Augen von Wang Dan, einem Aktivisten und 1989 Studentenanführer bei den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, außerdem eine klare Unterscheidung zwischen China und der Kommunistischen Partei machen. „Er sollte offen Chinas Demokratisierung unterstützen und Chinas Demokratisierung als wichtige Grundlage für die zukünftige Entwicklung auf beiden Seiten der Taiwanstraße erachten“, sagte Wang der dpa. Der heute in Taiwan lebende Dissident forderte zudem, dass sich die Inselrepublik international aktiv bei globalen Themen einbringt, um als Mitglied anerkannt zu werden.
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