Ukraine-Krise Die Angst erobert Mariupol

Die Waffen sollten längst schweigen. Doch um Mariupol in der Süd-Ostukraine wird täglich gekämpft. Die Menschen haben nicht nur Angst vor Angriffen der pro-russischen Separatisten.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Rund um Mariupol wird weiter gekämpft: Ukrainische Soldaten vor der Stadt in der Süd-Ostukraine. Quelle: dpa

Kiew Während US-Geheimdienste vor einem möglichen Angriff pro-russischer Separatisten auf die Hafenstadt Mariupol warnen, versuchen die in der Stadt verbliebenen Menschen das Leben so normal wie möglich zu gestalten. Doch in der Süd-Ostukraine stehen die Zeichen weiter auf Destabilisierung.

Ein Blick auf die Internetseiten von 0629.com.ua reicht, um herauszufinden, dass die Sicherheitslage in Mariupol fragil ist. Alleine in den vergangenen 48 Stunden sind zwei Menschen von, wie es heißt, „maskierten, in Camouflage gekleideten Männern entführt worden“. Die Familien des 29-jährigen Alexander Burkut und des 49 Jahre alten Vitali Tabatschuk sind in großer Sorge. Entweder sind ihre Männer von pro-russischen Separatisten entführt worden, die ihre Reihen mit Kämpfern auffüllen wollen oder sie wurden Opfer krimineller Banden, die Lösegeld erpressen wollen. Manchmal geschieht auch beides.

Die ehemals 500.000 Einwohner zählende Hafenstadt hat nicht nur ein externes Sicherheitsproblem, in der Stadt scheinen sich auch mehr und mehr kriminelle Banden breit zu machen, die um Einfluss kämpfen. Zwar zeigen ukrainische Medien in den meisten Berichten über Mariupol, wie sehr sich die zwischen 250.000 bis 300.000 verbliebenen Bewohner gegen eine mögliche Besatzung ihrer Stadt stemmen. Doch bei Experten ist längst klar, dass Mariupol in ein von verschiedenen Gruppen kontrolliertes Gebiet abrutschen könnte, über das der ukrainische Staat immer weniger Kontrolle hat.

Als wollte man auch optisch diesem Eindruck entgegentreten, hatte die Stadtverwaltung am Samstag zum Frühlings-Subotnik aufgerufen. Und tatsächlich kamen etwa 50 Bürger, die die Grünanlagen in der Innenstadt vom Herbstlaub und Müll reinigten. Einige hatten sich die blau-gelbe Landesfahne der Ukraine um die Schultern gewickelt. Lydia war mit ihrem Mann zum Subotnik gekommen, sie sagte dem ukrainischen TV-Sender Ukraina: „Wir sind fast im Rentenalter und wollen unsere Heimat nicht verlassen. Nach all den schweren Monaten, hoffe ich, dass es in Mariupol nun wieder ruhiger wird.“

Andere sehen die Lage skeptischer. Bürgermeister Juri Chotlubej gab vor ein paar Tagen bekannt, dass die anhaltenden Zahlungsrückstände von Unternehmern die Stadt in den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen könnten. Im Haushalt klaffe eine Lücke von mehr 60 Millionen Griwna aus dem Jahr 2013 (umgerechnet zwei Millionen Euro). Für 2014 werde eine Summe in doppelter Höhe befürchtet. Vor allem die schlechte Zahlungsmoral von Firmen und das schleppende Steueraufkommen machen der Stadtregierung von Mariupol zu schaffen. „Dabei sollten alle, die hier mit uns leben, ihre Pflichten erfüllen und Steuern und Rechnungen begleichen“, so der Aufruf des Bürgermeisters.


„Die werden bis zum Frühjahr warten, bevor sie angreifen“

Eigentlich wollte Juri Chotlubej in diesen Wochen seinen alten Dienstsitz wiedereröffnen. Die Gebäude der Stadtverwaltung waren im Frühjahr vergangenen Jahres von pro-russischen Milizen besetzt worden. Im Mai gelang es der ukrainischen Armee die Rebellen zu vertreiben, dabei brannte die Stadtverwaltung teilweise aus, die Soldaten der Miliz hatten die Räume zudem vor dem Verlassen beschädigt.

Bis heute erinnern zersplitterte Fensterscheiben und zerbrochene Türen an den Angriff. Trotz der Versprechen der großen Arbeitgeber, des Stahlwerks Azowstahl und des Hafens, konnte man sich auf die Renovierung der Gebäude nicht einigen.

„Die Unternehmen warten derzeit ab, wie sich die Lage hier bei uns entwickelt, die Situation ist leider viel zu angespannt, als dass jemand investieren würde,“ sagt Oleg Bochgenko von der NGO Mariupolprojekt. Selbst Oligarchen wie der Donezker Multimilliardär Rinat Achmetow und Sergej Taruta, der als Abgeordneter in der Werchowna Rada in Kiew sitzt und den Wahlkreis Mariupol als Direktkandidat bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober gewonnen hat, halten sich zurück.

Obwohl die seit dem 15. Februar vereinbarte Waffenruhe in der Ost-Ukraine zu deutlich weniger Kampfhandlungen geführt hat, meldet die ukrainische Armee für Mariupol und Umgebung fast täglich Auseinandersetzungen. Am Samstagabend wurden mehrere Kontrollpunkte der ukrainischen Streitkräfte von Militanten beschossen. Auch um die Stadt Schirokino ist es unruhig. Sie liegt genau in der Mitte zwischen Nowoazowsk und Mariupol, die nur 40 Kilometer trennen. Nowoazowsk wird seit Sommer von den pro-russischen Rebellen kontrolliert, es liegt direkt an der russischen Grenze.

Dort, das haben Luftaufnahmen der USA bereits mehrfach bestätigt, stehen noch immer Tausende russischer Soldaten und ihr Material. Ursprünglich waren die Truppen für eine Manöverübung im vergangenen Sommer dorthin verlegt worden. Präsident Wladimir Putin hatte im Herbst mehrfach angekündigt, er werde die Truppen aus der Region abziehen, doch das ist bislang nicht passiert.

Die USA sind der Meinung, dass die Russen, trotz des Waffenstillstandsabkommens vom 12. Februar in Minsk, einen Angriff auf die Stadt Mariupol planen. US-Geheimdienstdirektor James Clapper rechnet mit einer Offensive der pro-russischen Separatisten auf die ostukrainische Hafenstadt Mariupol im Frühjahr.

Clapper sagte Ende vergangener Woche bei einer Kongressanhörung in Washington: „Ich glaube, sie werden bis zum Frühjahr warten, bevor sie angreifen.“ Die US-Geheimdienste gehen laut Clapper davon aus, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sich die Kontrolle über Teile der Ostukraine samt eines Landzuganges zur Krim sichern wolle.

Die Versorgung der Halbinsel mit Elektrizität und Frischwasser läuft bislang komplett über das ukrainische Hinterland. Würde die Regierung in Kiew sich dazu entscheiden, die Versorgung zu kappen, müsste Russland die Krim aus der Luft oder vom Seeweg her aufwändig versorgen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%