Nie war der kalte Krieg in Europa so heiß wie in diesen Tagen, da er seit fast 25 Jahren beendet ist: Die Nato verlegt Truppen an die Grenzen zu Russland, die Russen testen binnen weniger Wochen zwei atomare Interkontinentalraketen. Täglich kommt es im Osten der Ukraine zu Toten und Verletzten, schlecht ausgerüstete ukrainische Militäreinheiten versuchen die von pro-russischen Aktivisten besetzen Verwaltungsgebäuden zurückzuerobern. Von (meistens) unsichtbarer Hand steuert der Kreml die Separatisten, ohne mit Militärverbänden einzugreifen. Allein, wie lange wird das noch so bleiben? Schickt Moskau seine Truppen über die Grenze, um den „Schutz“ der russischen Minderheit im Nachbarland zu bedrohen?
Gefühlt ist heute die letzte Chance, um Schlimmeres zu verhindern: In Genf treffen Russlands Außenminister Sergej Lawrow mit dem ukrainischen Interims-Außenminister Andrij Deschchytsia zusammen; die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und US-Außenminister John Kerry sollen vermitteln. Dass die beiden überhaupt zusammenkommen, ist ein kleiner diplomatischer Erfolg, denn der Kreml hält die Übergangsregierung in Kiew für eine Horde Nazis und erkennt sie nicht an.
Was bei dem Gipfel herauskommen soll, bleibt gleichwohl offen: Die Ukraine verlangt die Achtung ihrer territorialen Integrität, womit auch die Rückgabe der von Russland annektierten Krim gemeint ist. Das ist unrealistisch. Russland hingegen mag man unterstellen, dass eine instabile Ukraine im Vakuum zwischen Ost und West bereits die beste aller Lösungen ist. Präsident Wladimir Putin hat den kalten Krieg nie hinter sich gelassen und denkt in Einflussspähren: Wenn sich die Ukraine der EU zuwendet, verliert Moskau seinen Einfluss auf diesen strategisch wichtigen Nachbarn und Wirtschaftspartner. Die demokratisch-marktwirtschaftliche Perspektive, die hieraus folgen würde, wird ihn kaum schockieren – die Kraft der Demokratie hat Putin nie verstanden. Schlaflos hält ihn indes die Sorge, dass die Ukraine eines Tages ein Mitglied der Nato wird, allen Beteuerungen zum Trotz. Und Russland nach drei Nato-Osterweiterungen erneut als Schwächling dastehen könnte.
Putins Hetze gegen den Feind
Jetzt lässt Russland die Muskeln spielen. Putin spielt den starken August und verpasst dem Westen eine Retourkutsche für Demütigungen wie die Nato-Erweiterung. Entscheidend dabei ist die stabilisierende Wirkung im Innern Russlands: Mit der Krim-Annexion hat Moskaus großer Zampano eine Welle des Hurra-Patriotismus ausgelöst, die ihn fester im Sattel sitzen lässt als je zuvor. Vergessen sind die Demonstrationen einer kritischen Mittelschicht, die sich vor zwei Jahren zu Tausenden gegen Korruption und Ignoranz der Staatsführung wandten. Vergessen ist auch, dass Russland mit einem Nullwachstum in konjunkturell guten Zeiten vor einer schweren Wirtschaftskrise steht – und auf Grund seines technologischen Rückstands wenig zu bieten hat, was die Wirtschaft des Landes in Zeiten niedriger Öl- und Gaspreise wachsen ließe.
Gegen künftige Schocks wappnet Putin sein Land mental, indem er die Gesellschaft nun gegen einen imaginären Feind aufbringt: Den expansiven Westen, der nur nach der Ukraine greift , um Russland damit unter Druck zu setzen. Das russische Staatsfernsehen trägt maßgeblich dazu bei, dass die Menschen diese Verschwörungstheorien glauben und ihren Präsidenten unterstützen. Was es nicht leicht macht, einen Deckel auf den Ukraine-Konflikt zu bekommen: Zumindest muss ein Ausweg aus der Krise gefunden werden, der Putin das Gesicht wahren lässt und den der Kreml aus Sieg verkaufen kann.
Realistisch scheinen im Moment zwei Kompromisse: Eine Föderalisierung der Ukraine, wie sie Russland vorschlägt, sowie die Verschiebung der Wahlen, damit sich die im Osten verankerte „Partei der Regionen“ neu aufstellen und mit realistischen Chancen teilnehmen kann. Letzteres wäre der bessere Weg, denn einer föderalen Ukraine bleibt angesichts der tief gehenden gesellschaftlichen Spaltung stets die Gefahr des Auseinanderbrechens erhalten. Wogegen Präsident und Parlament nur mit landesweiter Legitimität an der Einheit des Landes arbeiten können. Was dringend nötig ist.
Flankiert werden müsste ein Kompromiss mit Zusicherungen aller Beteiligten: Russland muss sich vertraglich darauf festnageln lassen, die territoriale Integrität der Ukraine künftig zu achten, worüber nur eine aufgestockte OSZE-Beobachtermission wachen könnte. Die Übergangsregierung in Kiew muss den Schutz der Rechte der russischen Minderheiten weitergehend festschreiben – und endlich die Rechten entlassen, die immer noch in der Regierung sitzen. Wenn Europa die Assoziierung der Ukraine weiterverfolgt, sollte Russland als Freihandelspartner im Osten mit einbezogen werden. So könnte sich die Ukraine als Lohnfertiger für Ost und West empfehlen, was angesichts der niedrigen Löhne ökonomisch Sinn macht. Bei alldem sollte klar geregelt werden: Die Nato-Erweiterung, die sowieso niemand will, muss auch für die Zukunft ein Tabu bleiben.