Ukrainische Wirtschaft Im „Würgegriff des Krieges“

Ein Jahr nach der „Revolution der Würde“ steht die Ukraine vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Menschen stöhnen unter immer größeren Belastungen. Experten in Kiew warnen bereits vor neuen Protesten.

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Ukraines Wirtschaft leidet unter den Spannungen mit Russland. Quelle: dpa

Kiew Dramatischer Währungsverfall, ausufernde Korruption und drohende Staatspleite: Ein Jahr nach dem prowestlichen Machtwechsel in Kiew steht die Ukraine wirtschaftlich am Abgrund. Dabei waren die Hoffnungen riesengroß nach dem Sturz des ungeliebten Präsidenten Viktor Janukowitsch - die Bilder der blutigen Massenproteste auf dem Maidan (Unabhängigkeitsplatz) gingen damals um die Welt.

Doch seitdem ließen der Krieg gegen prorussische Separatisten im Osten und die ausbleibenden Reformen der neuen Regierung das Land abstürzen, meinen Experten. Sie fürchten, dass auch die 40 Milliarden US-Dollar (rund 36 Milliarden Euro), die Kreditgeber wie der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land in Aussicht stellen, die Lage nicht schnell ändern werden.

Der Betrag gilt als Tropfen auf den heißen Stein - so gewaltig sind die Probleme im zweitgrößten Land Europas. Schon fordert US-Starinvestor George Soros im „Spiegel“, die Ukraine benötige 50 weitere Milliarden Dollar. „Die Lage ist äußerst prekär, und sie wird jeden Tag schlimmer“, meint Soros.

Am Maidan bröckelt in diesen Tagen Putz von den Fassaden. Das während der Straßenkämpfe herausgerissene Pflaster ist notdürftig repariert. Ein Jahr nach der „Revolution der Würde“ stehen in zahlreichen Schaufenstern Schilder mit der Aufschrift „Zu vermieten“ - viele Geschäfte mussten wegen der Krise schließen.

Hunderttausende demonstrierten hier für ein besseres Leben und eine EU-Annäherung. Heute wirke der Platz trostlos, meint der Publizist Gleb Protjakow. „So viele Bettler wie heute gab es hier früher nicht“, sagt er. Ein paar Straßen weiter klagt die Verkäuferin Larissa über fehlende Kundschaft an ihrem Kiosk.

„Wir wollten zwar in die Europäische Union, aber EU-Niveau haben heute nur die Preise in den Geschäften“, meint sie und seufzt. Bei 28,5 Prozent liegt die Inflationsrate - Tendenz steigend. Die Menschen ächzen besonders unter den Preissteigerungen, die der IWF der prowestlichen Regierung für weitere Kredite zur Bedingung gemacht hat. So wurden in Kiew die Tarife für U-Bahn, Busse und Straßenbahnen verdoppelt. Die Brotpreise stiegen deutlich. Auch die Kosten für Energie wurden massiv erhöht.

Entscheidend für die IWF-Kredite sind Änderungen im Staatsbudget, die in der ersten März-Hälfte beschlossen werden sollen. Doch die Eckdaten gelten als längst überholt. Im Haushaltsentwurf von Dezember ging Regierungschef Arseni Jazenjuk noch von einem Kurs von 17 Griwna für 1 US-Dollar aus.

Doch seit Anfang Februar befindet sich die Landeswährung im freien Fall. Der amtliche Kurs kletterte seitdem auf mehr als 30 Griwna pro US-Dollar. Nachdem die Währungsreserven innerhalb eines Jahres von etwa 17 Milliarden auf rund 6 Milliarden US-Dollar schrumpften, stoppte die Nationalbank ihre Stützungskäufe.


Der „Würgegriff des Kriegs“

Bankchefin Valentina Gontarewa zeigt trotzdem demonstrativen Optimismus. „Wenn wir den Panikfaktor beseitigen, werden die Zahlen wieder dahin zurückkehren, wo sie hingehören“, sagt sie. Gontarewa prophezeit eine „Wiedererstarkung der Griwna“, sollte sich der „Würgegriff des Krieges“ im Osten erst lösen. Wenige in Kiew denken aber, dass die heftig umstrittene Bankchefin dann noch im Amt ist.

Angekreidet wird Gontarewa vor allem eine Anhebung des Leitzins von 14 auf 19,5 Prozent. Kredite sind nur noch mit mehr als 20 Prozent, teilweise 30 Prozent Zinsen erhältlich. Dies drohe, die kriselnde Konjunktur vollends abzuwürgen, fürchten Experten.

Im letzten Quartal 2014 schrumpfte die Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 15,2 Prozent. Auch die Gasrechnungen aus Russland zahlte die Ukraine erst stets auf den letzten Drücker. Immer wieder droht Moskau dem wichtigen Transitland mit einem Lieferstopp, der auch die EU trifft.

Der starke Wertverlust der Griwna ließ das Durchschnittseinkommen in der Ukraine mittlerweile auf umgerechnet 130 Euro abstürzen. Und Rentner fragen sich, wie sie mit 50 Euro im Monat über die Runden kommen sollen. Jazenjuk verbreitet aber Optimismus: „2016 beginnt die ukrainische Wirtschaft, zu wachsen“, meint der Regierungschef.

Zwölf Monate ist Jazenjuk nun im Amt - es sollte eigentlich ein Jahr der Reformen und eines wirtschaftlichen Neubeginns werden. Denn bereits unter dem gestürzten Präsidenten Janukowitsch glitt die Ex-Sowjetrepublik in eine massive Krise ab. Das Tagesgeschäft konnte der Staatschef oft nur mit Milliarden aus Moskau finanzieren.

Vorangebracht hat die neue Regierung nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern aber wenig - im Gegenteil. In vielen Betrieben stehen Massenentlassungen an. So will Energieminister Wladimir Demtschischin 12 von 35 staatlichen Kohlegruben schließen. Bisher verhält sich die Bevölkerung geduldig, obwohl Medien immer häufiger über Hamsterkäufe berichten.

So ruhig müsse es nicht bleiben, warnt der Politologe Andrej Solotarjow. „Sollten die Leute sehen, dass die Regierung ihnen kleine Löffel anbietet, während sie selbst mit großen Löffeln isst, werden sie auf die Straße gehen.“

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