Unternehmertum Auf der Suche nach der Mittelschicht in Afrika

Seit drei Jahrzehnten bereist die Journalistin Bettina Gaus regelmäßig Afrika. In ihrem neuen Buch ist sie auf der Suche nach den Mittelschichten des "unterschätzten Kontinents".

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Wer zählt zur Mittelschicht in Afrika?

Afrikanische Erfolgsgeschichte Mwiko, Chefin des Gesundheitsdienstes in Kitwe Quelle: Götz Schleser für WirtschaftsWoche

Internationale Investoren haben einen besonderen Blick auf die Welt. Im Juni 2010 meldete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Fondsmanager und andere Anleger entdeckten zunehmend" ein anderes Afrika, einen Kontinent, der wirtschaftlich aufstrebt und der eine breiter werdende Mittelschicht herausbildet". Das Zitat zeigt, es gibt Anlass für die Suche: Wer gehört dazu?

Chileshe Mwiko, Verwaltungsangestellte in Kitwe, Sambia

Die 32-Jährige ist ein Scheidungskind, und die Trennung der Eltern verlief nicht freundschaftlich. Zunächst bekam der Vater das Sorgerecht für alle sechs Kinder, aber die Mutter – ohne Geld und Einfluss – kämpfte. Eines Tages holte sie die zehn-jährige Tochter Chileshe einfach von ihrer Schule in der Hauptstadt Lusaka ab und nahm sie mit zu sich nach Hause.

Eine Zeit lang schien alles auf gutem Wege zu sein. Chileshe war zu einer ordentlichen Schülerin geworden. Sie konnte sich erfolgreich bei einer Fachhochschule für Gesundheits- und Umweltwissenschaften bewerben. Der Bruder bekam einen Studienplatz für Jura. Kurzfristig sah es so aus, als ob es der nächsten Generation gelingen würde, sich von der sozialen und psychischen Last zu befreien, die ihre Eltern zu schultern hatten. Aber es sah nur kurzfristig so aus. Die Mutter wurde krank und konnte sich nicht mehr um die jüngste Tochter kümmern, die damals noch bei ihr lebte. Chileshe nahm die Schwester bei sich auf. Der Bruder nahm einen Job bei einer Bank an. Einige Jahre später verlor er seinen Arbeitsplatz.

Eine afrikanische Erfolgsgeschichte

Die Talsohle war noch nicht erreicht. "Irgendjemand starb auf der Farm meines Vaters", sagt Chileshe vage, ein Mann sei bei einem Streit zwischen Farmarbeitern ums Leben gekommen, und ihr Vater habe als Sündenbock herhalten müssen. Zum Tode verurteilt wurde er, erzählt die Tochter, und erst vier Jahre später sei er freigesprochen worden. Zu spät, um sein Leben retten zu können. Während der Haft habe er sein gesamtes Vermögen verloren. Vor zehn Jahren starb er, im Alter von 56 Jahren, an Aids. Nur wenige Monate nachdem Chileshes Mutter, vier Jahre jünger, einen Schlaganfall nicht überlebt hatte.

Beide Eltern fast zeitgleich gestorben: Das war für die Tochter eine Katastrophe. "Bis heute weiß ich nicht, wie ich diese Situation überstanden habe – aber ich habe sie überstanden. Ich habe es geschafft." Neben ihrer Arbeit in der Stadtverwaltung hat sie Abendkurse belegt und vor zwei Jahren doch noch einen Universitätsabschluss erworben. Im Bereich Personalmanagement. "Ich hätte mir so gewünscht, dass meine Mutter das noch erlebt hätte", sagt Chileshe. Inzwischen ist sie als Chefin des kommunalen Gesundheitsdienstes in Kitwe für eine Abteilung mit zehn Angestellten verantwortlich und verdient ein gutes Gehalt. Genug für den Erwerb eines Grundstücks am Stadtrand, auf das sie gerade ein Haus stellt. Zum Vermieten, also als soziale Sicherheit. Und das Angebot, mit einem Stipendium in den Niederlanden zu promovieren, hätte die Mutter ganz gewiss auch gefreut. Chileshe hat das Angebot angenommen.

Mittelschicht? Keine Frage, Chileshe gehört dazu. Sie hat ein Einkommen, das ihrer Ausbildung entspricht, und die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Und sie hat all das aus eigener Kraft geschafft. Eine afrikanische Erfolgsgeschichte.

Olola Oneko, Arzt in Moshi, Tansania

Buchautorin Bettina Gaus Quelle: Götz Schleser für WirtschaftsWoche

Grau ist er geworden, aber das ist ja nicht erstaunlich bei einem Mann von 60 Jahren. Ich sehe auch nicht mehr so aus wie 1984, als wir uns in Köln kennengelernt haben. Oberarzt in der gynäkologischen Abteilung eines Krankenhauses in Leverkusen wurde Olola Oneko kurz darauf. Seine deutsche Ehefrau Tina, ebenfalls Medizinerin, spezialisierte sich als Kinderärztin. Nun steht Olola also am Busbahnhof, um mich abzuholen. Allerdings allein. Tina konnte nicht kommen. Seit über einem Jahr wohnt sie nicht mehr in Moshi, sondern in Kisumu, der größten kenianischen Stadt am Ufer des Victoriasees. Die liegt unweit der Gegend, aus der ihr Mann stammt. Olola gehört zum Volk der Luo, einer der größten von mehr als 40 Ethnien in Kenia. Bei den Luo ist es üblich, im mittleren Lebensalter ein Haus in der Heimat zu bauen, in dem man das Alter verbringen wird.

Deshalb fährt Olola jetzt alleine mit mir durch Moshi, eine Kleinstadt, die jedem Klischee widerspricht, das über Afrika in Umlauf ist. Moshi gilt als sauberste Stadt in Ostafrika. Die Straßen haben keine Schlaglöcher, auf den Grünflächen innerhalb der Kreisverkehre liegt kein Abfall, die Hecken vor öffentlichen Gebäuden sind millimetergenau auf die gleiche Höhe geschnitten. Wenn man überhaupt irgendwo in Afrika eine Mittelschicht vermutet, dann wohl hier. In mancherlei Hinsicht erinnert das Bild an Kleinstädte in den USA. Dazu passt, dass der US-Konzern Coca-Cola vor einigen Jahren die Straßenschilder gesponsert hat, natürlich mit eigenem Logo.

Nach weniger als zehn Minuten erreichen wir das geräumige, komfortable Haus inmitten eines großen Grundstücks mit tropischen Bäumen, das Tina und Olola vor einigen Jahren für sich und ihre Töchter gekauft haben. Es wirkt seltsam unbewohnt. Der hölzerne Sofatisch vor der Polstermöbelgarnitur ist glänzend gewienert – und leer. Als ich ins Freie treten will, braucht Olola minutenlang, um die Schlüssel zu finden. "Das Haus ist für mich viel zu groß," sagt er. "Vier Schlafzimmer, zwei Bäder – was soll ich damit?" Die Töchter sind aus dem Haus und studieren, die Frau ist auch aus dem Haus und bereitet den Ruhestand vor. "Ich suche eine halbwegs komfortable Zwei-Zimmer-Wohnung. Aber so viele gibt es davon nicht in Moshi."

In den Kliniken fehlt es an allem Notwendigen

Was kennzeichnet die Angehörigen der Mittelschicht? "Die Mindestanforderung ist ein Schulabschluss", sagt Olola beim Abendessen, "und ein Einkommen, das es dir ermöglicht, deine Kinder zur Schule zu schicken, sie einzukleiden und im Notfall eine Krankenhausrechnung bezahlen zu können. Ich rede von einem richtigen Krankenhaus – nicht von einem Ort, wo sie dir allenfalls ein fiebersenkendes Mittel geben können." Er lacht auf. Nicht amüsiert, sondern bitter. Er hat genug Kliniken gesehen, in denen es an allem Notwendigen fehlt, um eine ernstere Erkrankung bekämpfen zu können.

Der Zugang zu Informationen und Netzwerken sei bedeutend wichtiger, sagen andere. Gerade auf einem Kontinent wie Afrika, wo Gehälter im Staatsdienst – dem Rückgrat der Mittelschicht – meist nur knapp zum Leben reichten. Bildung ermögliche den Zugang zu Netzwerken und verhelfe zu sozialem Ansehen, unabhängig von den Einkommensverhältnissen.

Rangmy Ridua, Verwaltungsangestellter und Chemielehrer in Pemba, Mosambik

Aus Afrika stammt diese Quelle: dpa/dpaweb

Rangmy Ridua ist im öffentlichen Dienst im Transportwesen beschäftigt. Freiberuflich arbeitet er als "clearing agent", ist also Privatkunden behilflich, Importgüter durch den Zoll zu bringen. Er erledigt ‧Formalitäten und Behördengänge. Ich möchte ihm nicht unrecht tun, ganz bestimmt ist er ein honoriger Mann. Aber sollte er das nicht sein: Gäbe es für jemanden, der bereit wäre, sich an Korruption zu beteiligen, eine bessere Gelegenheit als diese beiden Tätigkeiten auszuüben? Die Frage offen auszusprechen wäre eine Frechheit. Schließlich ist das, was Ridua tut, völlig legal. Der 32-Jährige unterrichtet außerdem an einer Schule als Chemielehrer. Seine Befähigung dafür ist begrenzt. Er lernt immer vor der nächsten Stunde die Lektion aus dem Lehrbuch, die drankommen soll. Und sagt selbst: „Die Regierung baut überall Schulen, aber die Qualifikation der Lehrer hält damit nicht Schritt.“ In fast allen Ländern, in denen lange Krieg herrschte – wie in Mosambik –, sind die Mängel des Bildungswesens eines der Probleme, deren Bewältigung viele Jahre dauert. Eine ganze Generation konnte nur unregelmäßig oder gar nicht zur Schule gehen – wo sollten da die Lehrer herkommen? In einer mosambikanischen Grundschulklasse sitzen derzeit durchschnittlich 70 Kinder.

Ridua braucht jeden Cent

Ridua braucht jeden Cent, den er verdienen kann. Auf der Abendschule absolviert er derzeit eine Ausbildung zum Bilanzbuchhalter. Dafür muss er umgerechnet mehr als 100 Euro monatlich bezahlen. Für seine Tätigkeit im öffentlichen Dienst bekommt er kaum mehr als das, nur knapp 150 Euro. Teuer ist auch das Familienleben: Fünf Söhne im Alter zwischen zwei und acht Jahren wollen ernährt und gekleidet werden. Der Vater würde gerne in die etwas weiter südlich gelegene Stadt Nampula ziehen, in das wirtschaftliche Zentrum von Nordmosambik: "Alles Geld fließt nach Maputo, in die Hauptstadt. Ein bisschen was kommt auch noch in Nampula an – aber dann ist Schluss. Weiter rauf in den Norden kommt so gut wie nichts."

Ist Rangmy Ridua ein Angehöriger der Mittelschicht? Er selbst bejaht die Frage einschränkungslos: "Die Mittelschicht, das sind Leute, die nicht reich sind, die aber auch nicht auf Hilfe angewiesen sind." So wie er eben. Er kann sich sogar ein Auto leisten, einen alten Landcruiser, und er hat einen Fernseher im Wohnzimmer stehen. Und bei manchen Themen redet er so, dass ich mich nach Deutschland versetzt fühle. "Die Leute, die jetzt herkommen – das sind nicht alles Kriegsflüchtlinge." Sondern? "Wirtschaftsflüchtlinge."

Wer in einem vergleichbar großen Ort in Deutschland wohnt, würde Rangmy Ridua fraglos als arm bezeichnen. Fünf Kinder, ungesicherte Einkommensverhältnisse, keine Rücklagen – und das soll ein Angehöriger der Mittelschicht sein? Ridua würde eine andere Rechnung aufmachen. Er kann seine Familie aus eigener Kraft ernähren und: Er kann sein Leben planen, er hat gute Gründe, auf eine bessere Zukunft zu hoffen, er verfügt über ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit. Niemand zwingt ihn, einen großen Teil seines Einkommens für den Besuch einer Abendschule auszugeben. Und niemand hindert ihn.

Bernie Siwale, Geschäftsmann in Kitwe, Sambia

Frühpension und Warenhandel, Siwale (links), Geschäftsmann aus Sambia

Er hat länger als ein Vierteljahrhundert in der Personalabteilung einer Mine gearbeitet. Vor fünf Jahren wurde er im Alter von 54 frühpensioniert – wenn man das denn bei einer monatlichen Rente von umgerechnet 7,50 Euro so bezeichnen möchte. Nach der Privatisierung der Minen hat er fast alle Ansprüche auf seine Altersversorgung verloren. Immerhin: Zum Ausgleich überließ ihm die noch staatliche Minengesellschaft das Einfamilienhaus, in dem er vorher zur Miete gewohnt hatte, für einen symbolischen Preis. Einen Teil seines Wohnzimmers hat Bernie Siwale nun in ein Warenlager verwandelt. Er zieht einen Vorhang zur Seite – und gibt den Blick frei auf Zementsäcke und Stoffballen. Letztere sind für Schuluniformen gedacht und kommen aus Dubai über Daressalam– ein langer und teurer Weg.

"Man kauft in Dubai ein Auto für 4000 Dollar, der Transport nach Tansania kostet ungefähr 700 Dollar. Und dann verlangt der Zoll für die Einfuhrgenehmigung noch mal 3500 Dollar, obwohl eigentlich nur 25 Prozent des Wertes berechnet werden dürfen." Siwale schüttelt den Kopf. „Die Zollbeamten sind ganz einfach zu korrupt.“ Wer ist denn schlimmer, die Tansanier oder die Sambier? "Da gibt es keinen Unterschied. Die sind beide schlimm."

Abhängig von einer funktionierenden Infrastruktur

Ein Binnenland wie Sambia ist naturgemäß in noch viel stärkerem Maße von einer funktionierenden Infrastruktur in angrenzenden Staaten abhängig als ein Land mit Zugang zum Meer. Ein marodes Straßen- und Schienennetz, eine korrupte Verwaltung oder gar kriegerische Auseinandersetzungen beim Nachbarn können selbst ein wohlhabendes Binnenland an den Rand des Ruins treiben. Weswegen von den chinesischen Investitionen in die afrikanische Infrastruktur sogar solche Teile des Kontinents profitieren, in denen sie nicht unmittelbar getätigt werden.

Yusuf Dayabur, Mikrobiologe in Kano, Nigeria

Durchschnittliches Wirtschaftswachstum Afrikas 2011 bis 2015 Quelle: IWF

Er hat eine Frau und zwei Kinder, die beide nicht einmal vier Jahre alt sind. Doch, er gehöre zur Mittelschicht, sagt er: "Also zu den Leuten, die haben, was sie brauchen – die aber gleichzeitig finanziell immer mehr in Anspruch genommen werden." Die Lage für seinesgleichen habe sich in den letzten Jahren verschlechtert: "Unsere Gesellschaft basiert darauf, dass sich auch entfernte Familienmitglieder gegenseitig unterstützen. Wenn jemand ,reich‘ ist oder dafür gehalten wird, dann verlassen sich alle auf ihn." In den Achtzigern habe der Staat noch gewisse Sozialleistungen geboten, im Gesundheitswesen oder in öffentlichen Schulen. Aber vieles sei gekürzt worden, und das bedeute eine schwere Last für die Mittelschicht. "Es hat sehr weit reichende Auswirkungen. In einigen Landesteilen funktioniert das Konzept der Großfamilie nicht mehr. Es ist zusammengebrochen."

Der Mikrobiologe arbeitet seit 2003 bei einer lokalen Hilfsorganisation, die eine Partnerschaft mit einer britischen Organisation eingegangen ist und im Bereich Aidsprävention und Familienplanung tätig ist. Er hat ein eigenes Haus, das umgerechnet ungefähr 15 000 Euro wert ist. Wer entscheidet eigentlich, wann man für eigene Bedürfnisse Geld ausgeben darf und wann man für Mitglieder der Großfamilie sorgen muss? "Das bestimmt jeder selbst, in Übereinstimmung mit unserer Kultur. In meiner Kultur wird erwartet, dass ich ein Haus baue. Aber ich habe mir das auch selbst gewünscht." Würde Yusuf Dayabur mit seiner Frau nach Paris fliegen, nur zum Vergnügen? "Mein Gewissen würde das nicht erlauben. Ich hatte eine gute Ausbildung. Ich muss mich fragen, ob alle anderen in meiner Familie dasselbe Glück haben. Und ob meine Eltern haben, was sie brauchen."

Hätte Yusuf Dayabur nur für seine Frau, die beiden Kinder und sich selbst zu sorgen, könnte man ihn wohl einen Mann nennen, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Wer einen Teil seines Gehalts von einer internationalen Organisation bezieht, verdient mehr Geld als Angestellte im öffentlichen Dienst. Die Folge: Viele besonders qualifizierte Kräfte wandern in diesen Sektor ab und stehen kommunalen Stellen, in denen sie dringend gebraucht würden, nicht zur Verfügung.

Als europäische Journalistin in Afrika gehörten internationale Organisationen stets zu meinem Alltag. Eine Reporterin in Krisengebieten kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass alles, was noch irgendwie funktioniert, von Ausländern organisiert wird. In umkämpften Regionen gehört die überwältigende Mehrzahl aller Fahrzeuge internationalen Organisationen. Auch die Verteilung von Lebensmitteln, medizinische Hilfe, Unterkünfte werden vom Ausland organisiert. Selbst in einer Stadt wie Nairobi sind internationale Organisationen sogar in Friedenszeiten allgegenwärtig. Einen Vertrag mit ausländischen Auftraggebern haben dort viele, die über eine hohe berufliche Qualifikation verfügen.

Im mosambikanischen Pemba, im sambischen Kitwe und auch im nigerianischen Kano ist das anders. Wie groß der Anteil an finanzieller Hilfe des Auslands für einen Staatshaushalt – und somit für die Gehälter der Angestellten des öffentlichen Dienstes – auch immer sein mag: In der Wahrnehmung der Bevölkerung spielt das keine große Rolle. Sie haben dasselbe Gefühl, das Leute in anderen Staaten überall auf der Welt haben: dass nämlich sie und ihre jeweilige Regierung selbst für ihre Lebensbedingungen verantwortlich sind.

Richard Oduro, Entwicklungsplaner in Accra, Ghana

Richard Oduros Eltern waren Polizisten. Beide gehörten in ihren Familien zur ersten Generation, die vom Land in die Stadt drängte: "Nur dort waren die Schulen gut", sagt der 39-Jährige. Seine Eltern wünschten sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder, und der Wunsch ging in Erfüllung: Richard Oduro schaffte es auf die Universität, seit fünf Jahren ist er als Entwicklungsplaner in der Stadtverwaltung von Accra beschäftigt. Er hat Frau und zwei kleine Kinder. Etwa 300 Euro verdient er monatlich, aber mit Beraterverträgen für internationale Firmen kommt er auf das Fünffache.

"Ja, wir gehören zur Mittelschicht", sagt er. Seine Definition dieses Teils der Bevölkerung: "Leute, die jede Situation selbst bewältigen können, von massiven Gesundheitsproblemen und den damit verbundenen Kosten vielleicht abgesehen. Sie können das auch deshalb, weil sie Freunde haben und sich immer jemand findet, der im Notfall bei einer Kreditaufnahme behilflich ist." Aber die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sei keine lebenslange soziale Standortbestimmung: "Manche schaffen es in die Oberschicht, zum Beispiel durch Korruption, andere stürzen ab." Vor allem für Kinder der Landbevölkerung werde es immer schwieriger, in die Mittelschicht aufzusteigen. Ohne eine gute Schulbildung gebe es kaum Chancen, voranzukommen. Mittelschicht über das Kriterium der Durchlässigkeit nach oben und unten zu definieren: Das scheint mir eine der brauchbarsten Analysen zu sein, die ich während dieser Reise gehört habe.

Eigenes Koordinatensystem

Wer zur afrikanischen Mittelschicht gehört und wer nicht, ist eben keine Frage mehr, die allein von Europa aus beantwortet werden kann. Die Gesellschaften in den Staaten südlich der Sahara haben inzwischen ihr eigenes Koordinatensystem entwickelt. Wir können hinschauen und zuhören. Mit endgültigen Definitionen sollten wir uns zurückhalten. So fürchterlich wichtig finden viele Afrikanerinnen und Afrikaner es ohnehin nicht mehr, was Europa von ihnen hält. Wenn ich auf dieser Reise eine neue Erkenntnis gewonnen habe, dann diese: Wir sind nicht mehr das Maß aller Dinge. Das kann man betrüblich finden. Ich finde es vielversprechend.

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