20 Jahre Mauerfall Deutschland einig Flickenteppich

Vergesst die Normierung der Lebensverhältnisse! 20 Jahre nach dem glücklichen Zusammenbruch der DDR lässt sich nicht mehr entscheiden, ob das Leben im Westen oder Osten Deutschlands besser oder schlechter ist als das Leben im Osten oder Westen. Von WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas.

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Flickenteppich Deutschland: Armutsquote (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Ansicht) Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Zahlen lügen nicht. Aber sie sagen immer nur die halbe Wahrheit. Glaubt man ihnen, ist Deutschland nach wie vor geteilt, faktisch zerfallen in Ost und West, in alte und in neue Bundesländer, was die Kinderbetreuung anbetrifft, das Demokratieverständnis, das Heirats- und das Wahlverhalten, den Arbeitsmarkt, die Wirtschaftsleistung, die Produktivität, die Löhne und die Industriestruktur. Es ist ein Land, das sich mit Verweis auf die Statistik und deutlich erhobenem Zeigefinger noch immer einen Ostbeauftragten hält und Solidarzuschläge erhebt, ein Land der Bundesergänzungszuweisungen und des institutionalisierten Finanzausgleichs; ein Land, in dem noch immer die datenunterfütterten Vorurteile blühen, hüben wie drüben, von den gemütsarmen Marktwirtschafts-Athleten im Westen und den tropfabhängigen Sozialstaats-Pyknikern in der Ostalgiezone – 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Das Geldvermögen der Deutschen klafft weit auseinander

Jeder weiß, dass der Osten nach wie vor schrumpft und kränkelt, dass er anders wählt, mehr Erwerbslose zählt – und dass die Einkommen dort geringer sind. Die Wirtschaft in Ostdeutschland ist noch immer zu kleinteilig und zu schwach, um sich selbst zu tragen. Nur jeder fünfte Ostdeutsche ist in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern beschäftigt, in Westdeutschland fast jeder Zweite. Weniger als zehn Prozent der „Made in Germany“-Produkte sind ostdeutscher Herkunft. Die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste in Industrie und Handel liegen im Westen (3309 Euro) mehr als 40 Prozent über denen im Osten (2295).

Das Bruttoinlandsprodukt, das jeder Hesse (36.382) und Bayer (35.530) erwirtschaftet, übertrifft um 60 Prozent das, was jeder Sachse (22.620) oder Brandenburger (21 721) ranschafft. Entsprechend klafft das Geldvermögen der Deutschen weit auseinander: Eine Familie in Magdeburg hat im Schnitt nur drei Fünftel dessen auf dem Konto, was eine Familie in Mönchengladbach ihr Eigen nennt.

Selbstverständlich sieht sich mit Blick auf solche Zahlen auch die neue Bundesregierung in der politisch korrekten Pflicht, die Mittelzusagen aus dem Solidarpakt II einzuhalten, um die Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 weitgehend anzugleichen. Anders gesagt: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) sind sich einig darin, die pompösen Luftschlösser der ökonomischen Gleichheit, die Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) in den bundesdeutschen Einheitshimmel gezaubert haben, zu erweitern und auszubauen – und die zunehmend bedrängende Wirklichkeit gründlich verschiedener Lebensstandards in ganz Deutschland dabei konsequent zu ignorieren.

Offensichtlich will die Politik nicht einsehen, dass die Normierung des Existenzniveaus einerseits eine Illusion ist, die vor allem sie selbst aus nationalhygienischen und sozialpsychologischen Gründen aufrechterhält – und dass sich die Annäherung der Lebensverhältnisse andererseits längst vollzieht, wenn auch kreuz und quer zur Demarkationslinie, die einst die DDR von der BRD trennte.

Go East: Ziele westdeutscher Zuwanderung in Ostdeutschland (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Ansicht) Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Was die Politik nicht wahrhaben will: 20 Jahre nach dem Fall der Mauer taugt der Westen nicht mehr zur Verheißungsvokabel und der Osten nicht mehr zur Krisenmetapher, im Gegenteil: Der Konvergenzprozess schreitet umso zügiger voran, seit Kitas auch in Bayern nachmittags öffnen, Frauen sich auch in Baden-Württemberg arbeitslos melden, Zeitarbeit auch in Hessen auf dem Vormarsch ist.

Die Wachstumsdynamik in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen war in den vergangenen sechs, acht Jahren größer als in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern; die gleißend neuen Altstädte von Dresden, Erfurt und Quedlinburg ziehen jedes Jahr Millionen Touristen in ihren Bann. Sogar das Ausbluten Ostdeutschlands, der Exodus seiner jungen, arbeitswilligen Bevölkerung, ist so gut wie gestoppt. Die jüngsten Wanderungsbilanzen zeigen, dass der Osten zwischen 2000 und 2007 zwar immer noch 1,5 Millionen Menschen an den Westen verloren hat – dass es aber gleichzeitig eine Million Menschen aus dem Westen nach Ostdeutschland zog.

Flickenteppich aus Wachstumsinseln und Schrumpfregionen

Deutschland 2009 zerfällt nicht mehr in zwei Teile, in Ost und in West, sondern auch in Nord und in Süd, vor allem aber in zunehmend attraktive Zentren und zunehmend perspektivarme Peripherien, in einen bunten Flickenteppich aus Wachstumsinseln, Wohlstandsrevieren, Übergangsgebieten, Schrumpfregionen und Armutsprovinzen – im Westen wie im Osten. Egal, ob es heute um berufliche Perspektiven, Arbeitseinkommen oder Lebensqualität geht – 20 Jahre nach dem Fall der Mauer kommt es für die Deutschen nicht mehr darauf an, ob sie im Westen oder Osten leben, sondern dass sie in Köln oder Dresden wohnen statt in der Rhön oder in der Uckermark, dass sie in Schmuckstädtchen wie Weimar oder Detmold heimisch werden statt im Eifel-Nirvana oder Börde-Nichts.

Die Politik muss es erst noch begreifen; für das einige Deutschland gilt: Zwei Jahrzehnte nach dem Kollaps einer politisch, wirtschaftlich und ökologisch restlos bankrotten DDR lässt sich nicht mehr entscheiden, ob das Leben im Westen oder Osten besser oder schlechter ist als das Leben im Osten oder Westen – sofern man da oder dort Beschäftigung und Einkommen hat.

ACTect Freiberg, Erzgebirge: Geschäftsführer Florian Wendt (rechts), 48, und Mitarbeiter Mike Müller, 37 Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Mike Müller zum Beispiel, CNC-Programmierer bei der Firma ACTech im sächsischen Freiberg. Müller gehört zu den Spitzenverdienern in der Produktion des hoch spezialisierten Automobilzulieferers; mit viel Fleiß und Schweiß hat er es vom gelernten Zerspanungsmechaniker, Maler und Fußbodenleger zum Gruppenleiter gebracht, seinen Arbeitsplatz an der Maschine vor Kurzem gegen einen Arbeitsplatz an Bildschirm und Schreibtisch eingetauscht. Müller hat sein Monatsgehalt in den sechs Jahren bei ACTech von 1800 Euro brutto auf 2600 Euro steigern können, für 40 Stunden in der Woche, manchmal mehr, versteht sich, kein Urlaubsgeld, kein Weihnachtsgeld, aber egal, Müller kennt es nicht anders, Müller findet es in Ordnung: „Wir werden hier nicht nach Tarif bezahlt, sondern nach Leistung.“

Müller weiß, dass er in Baden-Württemberg leicht Tausend Euro mehr verdienen könnte, aber umziehen möchte er deshalb noch lange nicht; seine Familie, seine Freunde, die Stunden beim Squash, beim Billard, in der Sauna – Müller möchte darauf nicht verzichten, sein „hübsch geregeltes Leben“ nicht missen, seine Heimat, den Dom, das Theater, die herausgeputzte Innenstadt, das Wandern und Zelten im Erzgebirge, auch wenn die Mieten hier mittlerweile genauso hoch sind wie in einer vergleichbar großen Stadt im Westen: „Ich bin der ortsgebundene Typ.“

Im Belegschaftsausschuss sitzt Müller oft seinem Chef gegenüber, Florian Wendt, der die Firma Mitte der Neunzigerjahre aus dem Nichts gegründet hat und heute mehr als 300 Menschen beschäftigt. Wendt hat zugesehen, wie die DDR planwirtschaftlich zugrunde gerichtet wurde, sein Vater war selbstständig, führte in Grünhainichen einen Betrieb für erzgebirgische Volkskunst, bis der Staat sich entschloss, auch Nussknacker zu verstaatlichen, Räuchermännchen in Gewahrsam zu nehmen – und Wendts Vater enteignete.

„1972 war das“, sagt Wendt, „ich werde es nie vergessen.“ Heute, nach dem Tod seines Vaters, ist Wendt Teilhaber der reprivatisierten Firma. Sein Geld verdient er jedoch nicht mit Schwibbogen, sondern mit der schnellen Herstellung von Prototypen, vor allem für die Autoindustrie, die ACTech bei Bedarf in drei, vier Tagen gießt.

Die Lage ist ernst

Wendt ist ein beeindruckender Mann, ein Ingenieur mit einer Geschäftsidee, ein Unternehmer mit einem Traum, so tatkräftig wie bescheiden. Wendt fährt einen weißen Golf, mietet Übernacht-Besucher in einer kleinen Pension ein, überlässt Mitarbeitern sein Büro, wenn es nötig ist. Den Umsatz seiner Firma hat er von 46.000 Euro (1995) auf 33,5 Millionen (2008) gesteigert, ein neues Gebäude ist beinahe bezugsfertig, aber natürlich zieht die Wirtschaftskrise nicht spurlos an ACTech vorüber, der Umsatz fällt, zum ersten Mal, die Lage ist ernst, für die Mitarbeiter dramatisch.

Im Belegschaftsausschuss diskutieren sie derzeit über die Frage, wie sich Kündigungen vermeiden lassen. 20 Prozent Lohnverzicht für alle stehen zur Debatte. Oder 35 Prozent auf das, was über dem liegt, was jedem sicher sein soll: 1500 Euro brutto. „Es ist bitter, aber ich denke, wir werden eine Lösung finden“, sagt Florian Wendt. „Es ist bitter, aber ich denke, wir werden eine Lösung finden“, sagt Mike Müller.

Henke-Sass, Wolf Tuddtlingen, Schwarzwald Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Der Mike Müller aus Freiberg im Erzgebirge heißt im Schwarzwald Reiner Koch. Koch ist verheiratet und Vater dreier Kinder, Mitglied im Vorstand der freiwilligen Feuerwehr und engagiert im Narrenverein, er besucht gern Eishockey-Spiele in Villingen-Schwenningen, liebt Grillfeste und Guggenmusik. In der Produktion des Medizintechnik-Herstellers Henke-Sass, Wolf (HSW) mit seinen 300 Mitarbeitern am Standort Tuttlingen gehört Koch zu den Spitzenverdienern; der gelernte Feinmechaniker hat sich zum NC-Programmierer und Gruppenleiter hochgearbeitet, seinen Arbeitsplatz an der Maschine vor Kurzem gegen einen Arbeitsplatz an Bildschirm und Schreibtisch eingetauscht.

Koch ist – wie Müller – „einer der herausragenden Facharbeiter, um die uns die ganze Welt beneidet“, sagen die beiden HSW-Geschäftsführer Armin Lekitsch und Peter Decker. Im großen Unterschied zu Müller kommt Koch allerdings auf 4550 Euro brutto im Monat, mal 13 komma x, versteht sich, also inklusive Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Koch wohnt im angezahlten Einfamilienhaus, nicht wie Müller zur Miete, fährt einen Renault, keinen Mazda – und im Urlaub reicht es schon mal für Italien, nicht immer nur fürs Camping in der Heimat. „Ich glaube, ich habe ein Level erreicht, von dem aus es künftig nicht mehr groß bergauf gehen kann“, sagt Koch.

Kochs Frau Sandra, früher selbst einmal bei HSW beschäftigt, hat sich in den vergangenen sechs Jahren um die Erziehung der drei Jungs gekümmert. Die Zwillinge sind sechs, der Jüngste drei; Vollzeit an der Heimatfront. Es ging nicht anders. Selbst Kindergartenkinder, die älter als drei Jahre sind, werden in Tuttlingen nur ausnahmsweise über Mittag betreut. Jetzt hoffen die Kochs, dass es was wird mit Sandras Zweitausbildung zum Mentalcoach; 10.000 Euro kostet der Schritt in die Selbstständigkeit. Es ist ein Wagnis, für das den Müllers in Freiberg die finanziellen Voraussetzungen fehlten. Aber es ist auch ein Wagnis, das die Müllers in Freiberg nie eingehen mussten.

Mikes Frau Janet, 37, ist Chemielaborantin, für Pauline, 7, und Annika, 3, war sie jeweils anderthalb Jahre lang rund um die Uhr ansprechbar, gleich danach ist sie zurück in den Job. Kein Problem in Freiberg. 165 Euro kostet die Ganztagsbetreuung in der Kita, 100 Euro der Kindergarten, ein echtes Schnäppchen – und für die Müllers die reine Notwendigkeit.

„Ohne zweites Gehalt geht’s hier nicht“, sagt Mike, schon gar nicht für die vielen Kollegen und Freunde, die dem Zeitarbeits-Heer in der Freiberger Solarbranche angehören. Die gehen mit 1500 Euro nach Hause, wenn überhaupt, müssen jeden Cent dreimal umdrehen, können sich weder Squash, Billard, Sauna, auch keinen Autokredit von 330 Euro im Monat und schon gar kein Leben in 95 sanierten Altbau-Quadratmetern leisten. Wenn Müller sich vergleicht, dann mit ihnen – und nicht mit Reiner Koch. „Ist besser für die Gesundheit“, sagt er.

Alwin Brinkmann, 63, Oberbürgermeister in Emden, Ostfriesland Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Wenn Alwin Brinkmann vergleicht, dann ehrlich, das heißt: nicht nur die vergangenen 20, sondern 60 Jahre. Er kennt das Gerede von den Billionen, die im Osten verplempert wurden – und will nichts davon hören. Aufholen bedeutet auch nachholen, sagt Brinkmann, und: „Es ist ja nicht so, dass sich in den vergangenen 20 Jahren bei uns nichts getan hätte.“ Brinkmann ist seit 1986 Oberbürgermeister im ostfriesischen Emden, kein Kollege in Niedersachsen regiert länger als er. Sobald Brinkmann einen Schritt vors Rathaus tut, schallt ihm ein vielstimmiges „Moin, Alwin“ entgegen. Die Emdener wissen, was sie an ihm haben. Mitte der Achtzigerjahre war hier jeder Vierte arbeitslos, die Werften steckten in der Krise, in Japan bauten sie bessere, jedenfalls billigere Schiffe.

Niemand interessierte sich damals für Emden. Heute kommen schon mal Iris Berben und Maximilian Schell zum Filmfest und 125.000 Besucher zur Munch-Ausstellung in die Henri-Nannen-Kunsthalle. „Ich glaube, wir Emdener haben mit der Kultur an Offenheit und an Selbstvertrauen gewonnen“, sagt Brinkmann.

Obwohl die Thyssen-Werft in diesen Wochen mal wieder vor dem Aus steht, sieht sich Emden für die Zukunft gewappnet: Im Hafen werden alljährlich eine Million VW- und Audi-Fahrzeuge umgeschlagen, es gibt ein neues Gewerbegebiet mit Zulieferern, die den lebenswichtigen VW-Standort sichern, einen neuen Autobahnanschluss Richtung Ruhrgebiet – und einen neuen Hoffnungsträger: Bard Engineering, ein Hersteller und Betreiber von Offshore-Windparks, der sich erst vor fünf Jahren in Emden angesiedelt, mehr als 150 Millionen Euro am Standort investiert und 700 Arbeitsplätze geschaffen hat.

Bard hat große Pläne, Geschäftsführer Frank Hagemeister spricht von 10 bis 14 Kraftwerken mit jeweils 80 Energieanlagen, die das Unternehmen schlüsselfertig bauen, verschiffen, verkaufen und warten will; läuft alles glatt, sind für Emden in den nächsten Jahren weitere 500 Arbeitsplätze drin. „Wir haben uns eine kleine, schöne Welt aufgebaut“, sagt Brinkmann, und: „Ich freue mich, dass die Städte im Osten dazu nach der Wende auch die Chance hatten.“

Arthur König, 58, Oberbürgermeister in Greifswald, Vorpommern Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Greifswald hat sie zweifellos genutzt. Arthur König kann sich noch gut daran erinnern, wie der Marktplatz vor zwei Jahrzehnten aussah, teils abgerissen, unbewohnbar, Stauden wuchsen aus den Giebeln schwarzer, fensterloser Häuser, die rußige Luft der Rohbraunkohle stand glockenschwer über der Stadt. „Es war trostlos“, sagt der Oberbürgermeister. Greifswald zählte damals knapp 70.000 Einwohner, die meisten von ihnen lebten vom VEB Nachrichtenelektronik, vom Bau und Betrieb der beiden Atomkraftwerke im benachbarten Lubmin, nicht wenige arbeiteten im Hafen, hinzu kamen 3500 Studenten.

Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass Greifswald sich seither neu erfunden hat. Die Kernkraftwerke sind abgeschaltet, für die Elektronik fand die Treuhand keinen Käufer, im museumsreifen Hafen werden noch ein paar Hundert Tonnen Baustoffe, Altreifen und Düngemittel umgeschlagen, das ist alles. Wie ein Mahnmal überragt das Skelett des Speicherhauses am Hansering das Flüsschen Ryck, Greifswalds Zugang zu Bodden und Meer. Hansestadt Greifswald? Nun – das ist Vergangenheit.

Universitätsstadt Greifswald – das ist die Gegenwart. Biologie, Humanmedizin, Geografie oder Betriebswirtschaft – in den einschlägigen Rankings erzielt die Hochschule laufend Spitzenplätze. Ein Tor, wer heute Abi macht und Greifswald nicht auf der Rechnung hat. 12.000 Studenten bevölkern den herrlichen Campus rund um das barocke Hauptgebäude am Rubenowplatz, tummeln sich in der Backstein-Altstadt mit ihren typischen Giebelbauten und dem ochsenblutfarbenen Rathaus, sehen sich im Pommerschen Landesmuseum die Friedrichs, Weisgerbers, Slevogts und Pechsteins an, radeln über den Wall und am Ryck vorbei zum Meer oder gleich ein paar Kilometer weiter nördlich, nach Rügen.

Sieben, acht Millionen Euro investiert die Stadt jedes Jahr in kosmetische Maßnahmen – zwei Drittel dessen, was sie an Gewerbesteuern einnimmt. König weiß, dass die wirtschaftliche Lage in Greifswald verheerend ist, dass die Stadt zu 70 Prozent von Schlüsselzuweisungen lebt, dass die Arbeitslosenquote trotz 1000 bezuschusster Jobs noch immer bei 13 Prozent liegt.

„Es ist unser Schicksal, vom Geld anderer abhängig zu sein“, sagt König, „wir sind nun mal eine Stadt des öffentlichen Dienstes, die eine äußerst dünn besiedelte Region versorgt.“ Es wäre gleichwohl töricht, aus Greifswald eine Industriestadt machen zu wollen. Aber eine Universitätsstadt wie Tübingen, Marburg oder Heidelberg, so König, sei Greifswald heute schon. „Auf diese Weise können wir dem Land wenigstens das zurückgeben, was es am meisten braucht: kluge Köpfe.“

Chunhua Zhang, 28, Georg Mührer, 26, Musikstudenten in der Residenzstadt Detmodl, 73.000 Einwohner Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Georg Führer ist so ein kluger Kopf. Er studiert Gesang an der Musikhochschule in Detmold, "zum Lobpreis und zur Ehre Gottes", wie er sagt, weil er es nicht mit Verdi und Puccini, eher mit Bach und Händel hält. Georg Führer hat einen berühmten Vater, Christian, Pfarrer in der Leipziger Nikolaikirche, eine der zentralen Figuren im Revolutions- und Wendeherbst. Georg war damals sechs. Seine Schwester studierte in Jena, einer seiner Brüder wurde von der DDR gerade als Bausoldat verheizt, der andere war mit dem Thomaner-Chor unterwegs. Georg stand jeden Tag auf dem Balkon des Pfarrhauses, gleich gegenüber der Kirche, und verfolgte das Demonstrationsgeschehen.

Er erinnert sich an das Kerzen- und das Menschenmeer, an die beseelte Stimmung, die förmlich in der Luft lag – und gegen die die Staatsmacht machtlos war. Er erinnert sich, wie die Menschen seinem Vater eine Gasse öffneten, um ihn auf dem Weg von der Sakristei ins Pfarrhaus vor dem Zugriff der Stasi zu schützen – und daran, wie verwundert er war, dass es der Stasi tatsächlich nicht gelang, seinen Vater festzunehmen. Und er erinnert sich daran, wie er schließlich selbst auf die Straße ging und ein Plakat hochhielt, ein Bub, der spürte, dass Bedeutendes geschah – und dabei sein wollte.

Natürlich hätte Georg Führer auch in Weimar oder Berlin Gesang studieren können. Aber erstens suchte er Distanz zum Elternhaus und zweitens – möglichst keine Ablenkung. "Detmold ist ideal für Menschen, die sich auf ihr Studium konzentrieren wollen", sagt Führer, eine historische Residenzstadt, beinah so schön wie Weimar, mit Fürstenschloss, Palaisgarten, Fachwerk und einem Landestheater, das zuletzt sogar Wagners "Ring" gestemmt hat.

Von den Problemen Detmolds weiß Führer nichts. Vor sieben Jahren hat es die Möbelindustrie erwischt, rund 3000 Menschen verloren ihren Job; die Stadt knabbert noch heute daran; die Arbeitslosenquote liegt bei elf Prozent. Bürgermeister Rainer Heller ist ein wenig ratlos. Was Georg Führer an Detmold schätzt, ist Heller ein Ärgernis: Die Stadt liegt unendlich weit weg vom Schuss, ist per Regionalbahn mit Münster, Bielefeld und Paderborn direkt verbunden, nicht aber mit Dortmund, Essen, Hannover.

Ehepaar Mieth: Günther Mieth, 80, und seine Frau Margarete: Ost-West-Odyssee mit Endstation Detmold Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Margarete und Günter Mieth sind bereits vor 16 Jahren nach Detmold gezogen. Die beiden Rentner haben sich 1951 in Erlangen kennengelernt, drei Jahre später zog es sie nach Ostdeutschland; „wir hatten das Gefühl, dort gebraucht zu werden“. Vier Jahrzehnte arbeitete der Pfarrer mit seiner Frau gegen Kommunismus und Atheismus an, in Plauen, Zittau, Flöha, Dresden, zuletzt als Superintendent in Zwickau. Nie sind die Mieths in der DDR zur „Wahl“ gegangen, stets haben sie versucht, ihren drei Töchtern ein aufrechtes Vorbild zu sein, sie gelehrt, ein gerades Leben zu leben, ohne Jugendweihe, Halstuch, SED-Rhetorik.

Die Mieths waren das, was die Stasi einen „operativen Vorgang“ nannte, Deckname Geier, „vielleicht meiner ausgeprägten Nase wegen“, sagt Günter Mieth. Hätten die Mieths nicht gewusst, dass sie in höherem Auftrag in Sachsen sind – „wer weiß, vielleicht hätten wir es nicht durchgestanden“. Ständig wurde Günter Mieth in „dienstlichen Obliegenheiten“ zum Kreisratsvorsitzenden zitiert; die Älteste durfte kein Abitur machen, nicht studieren, musste sich mit einer Ausbildung zur Krankenschwester begnügen; „sie hat uns nie einen Vorwurf gemacht“. Nach der Wende haben die Mieths in Zwickau Runde Tische organisiert, die Stadtmission aufbauen geholfen, ein Altersheim, ein christliches Gymnasium. Zwei Tage nach seinem 65. Geburtstag aber sind sie nach Detmold gezogen, der Nähe zu Brüdern, Schwestern und Schwager wegen, vor allem aber, weil Detmold Detmold ist, sagen die Mieths: „Nach zwei Urlaubswochen auf Probe war klar: Das ist es.“

Das Ehepaar Klein: Michael Klein, 68, und seine Frau Eva Maria, 68: Ost-West-Odyssee mit Endstation Weimar Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Eva Maria und Michael Klein sind den umgekehrten Weg gegangen. Vor fünfeinhalb Jahren zogen die beiden zurück in ihre Heimat, nach Weimar, in eine Stadt, „aus der man nicht verreisen muss, um etwas zu erleben“, sagt Michael Klein. Das kulturelle Angebot in Goethes bester aller Welten sei "schlicht phänomenal", bezogen auf die Einwohnerzahl sogar größer als in Berlin oder München, da seien das Nationaltheater und die Staatskapelle, beinahe täglich Gastspiele internationaler Stars und natürlich das alljährliche Kunstfest. Die Kleins bewohnen eine traumhaft geschnittene Altbauwohnung mit herrlichen Stilmöbeln, 160 Quadratmeter für 800 Euro kalt, fünf Gehminuten nur von Altstadt und Goethepark entfernt. Eva Maria malt, Michael spielt Klavier und Saxofon, beide pflegen sie ihr Latein oder widmen sich Bach-Kantaten – es ist  vielleicht ihr schönstes, ihr viertes Leben.

Das erste Leben der Kleins war Bildung, Arbeit und Erfolg. 1965 haben sie geheiratet, sie Ärztin, er katholischer Theologe; sie gründeten eine Familie mit drei Kindern, konzentrierten sich danach beide auf den Arztberuf, sie als Allgemeinmedizinerin, er als Facharzt für Inneres. Am 10. Dezember 1979 setzten die Kleins ihrem Erfolg selbst ein Ende, sie stellten einen Ausreiseantrag – und darin die „Erziehung unserer Kinder zu Intoleranz und Unduldsamkeit“ infrage. Fünf Jahre stellten sich die Kleins danach den Schikanen der Kollegen und Behörden; es war ihr zweites, ihr kürzestes, ihr hässlichstes Leben.

Am 22. Februar 1984 endlich durften sie ausreisen, es verschlug sie nach Bitburg in der Eifel, wo sie beruflich so erfolgreich waren wie ehedem, wo sie aber nie heimisch wurden. Bitburg war zu klein, zu eng, zu desinteressiert, „wir wohnten in Bitburg, weil wir in Bitburg Arbeit hatten“. Niemand soll den Kleins was von den Vorzügen Westdeutschlands erzählen, der nicht die „beschämende Armut“ in Eifeldörfern kennt. Und niemand soll ihnen was vorjammern im Osten, der nicht das Weimar vor und nach der Wende kennt. Am 18. Mai 2004, Punkt elf Uhr, waren sie zurück in ihrer Heimatstadt. Sie schlossen Frieden mit ihren drei bewegten Leben. Sie spürten Ruhe und Dankbarkeit. Und sie wussten: Jetzt ist es gut.

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