Akademisierungswahn Die Expansion der Universität muss ein Ende haben

Julian Nida-Rümelins Plädoyer gegen den "Akademisierungswahn" sollte Anlass sein für eine offene Debatte. Der Philosoph und SPD-Politiker rührt damit an einen unheilvollen Konsens der deutschen Bildungspolitik.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Studenten sitzen in einem großen Hörsaal der Technischen Universität (TUM) in München (Bayern). Quelle: dpa

In den zentralen politischen Grundsatzfragen sind sich die etablierten Parteien weitgehend einig. Das gilt auch für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik: Der Anstieg der Studentenzahlen wird im gesamten politischen Spektrum uneingeschränkt gutgeheißen. Jeder neue Rekord wird als Erfolg der hiesigen Bildungspolitik gefeiert. Ein Grund dafür dürfte sein, dass es Bildungspolitiker nach handfesten Kriterien für den Erfolg ihrer Politik gelüstet. Der Anstieg von Studentenzahlen eignet sich dafür scheinbar ganz hervorragend.

Dahinter steht die Behauptung, dass der steigende Anteil von Abiturienten und Studenten ein steigendes Bildungsniveau belege und der Arbeitsmarkt gar nicht genug Akademiker haben kann. Und damit einher geht das naive sozialreformerische Wunschdenken vom Aufstieg für alle. Als ob, wenn alle studieren auch alle in Führungspositionen kommen. Elite für jedermann.

Julian Nida-Rümelin hat in einem Interview diese Lebenslüge der Bildungspolitik offen angesprochen. Er warnt vor den fatalen Folgen dieses „Akademisierungswahns“ für das Wissenschaftssystem und für die deutsche Volkswirtschaft.

Julian Nida-Rümelin, Philosophie-Professor, Ex-Staatsminister für Kultur und Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Quelle: REUTERS

Nida-Rümelin ist Professor für Philosophie an der LMU in München. Er ist nicht der erste Proessor, der die auf totale Expansion der Universitäten angelegte Wissenschaftspolitik unter der Fahne des Bologna-Prozesses als Katastrophe für das Wissenschaftssystem erkannt hat. Viele klagen über die Studierunfähigkeit der Studenten und die totale Ökonomisierung der Universitäten als Ausbildungsdienstleister der Wirtschaft.

Aber Nida-Rümelin ist nicht nur Philosophie-Professor, er ist auch ehemaliger Kulturstaatsminister der Schröder-Regierung und vor allem Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Und daher könnten seine Aussagen vom Wochenende auch in der Politik höhere Wellen schlagen als die Kritik irgendeines Professors. Hoffentlich!

So steigert man die Akademikerquote

Natürlich wissen nicht nur Lehrer und Universitätsdozenten, sondern alle Menschen mit gesundem Urteilsvermögen, dass die alljährlichen Rekorde der Studentenzahlen nicht durch die wachsende Klugheit der jungen Menschen, sondern durch das Absenken der Hürden in den Schulen und Universitäten zu erklären sind. Steigende Zahlen der Abiturienten sagen nichts aus über deren tatsächliche Studierfähigkeit. Die Landeskultusministerien sorgen durch entsprechenden Druck auf die Schulen und Benotungsrichtlinien für die Lehrer dafür, dass de facto kaum noch ein Schüler durch die Abiturprüfung fällt. Sitzenbleiben soll in vielen Ländern ohnehin abgeschafft werden. So einfach steigert man die Akademisierungsquote.

Ebenso offensichtlich ist auch, dass im internationalen Vergleich Länder mit hohen Abiturienten- und Studentenanteilen nicht unbedingt wirtschaftlich erfolgreicher sind als die mit niedrigeren. Sonst müsste Frankreich zum Beispiel derzeit viel besser als Deutschland dastehen. Von der wissenschaftlichen Stärke der Länder ganz zu schweigen. Davon ist allerdings in OECD-Studien und bildungspolitischen Parteiprogrammen bezeichnenderweise nie die Rede.

Nida-Rümelin stößt in seiner SPD, aber auch bei Bundesbildungsministerin Johanna Wanka von der CDU auf reflexhafte Ablehnung. Den Akademisierungswahn zu beklagen ist in der etablierten Politik ähnlich unziemlich wie Kritik an der Eurorettung oder Zweifel am Atomausstieg. Das ist jenseits des Opportunitätskorridors des Politikbetriebes.

Darum wäre es sehr zu wünschen, wenn Nida-Rümelin als einer der leider sehr selten gewordenen Grenzgänger zwischen Gelehrtentum und Politik eine offene Debatte auslösen würde. Die Steigerung der Studentenzahlen sollte kein selbstverständliches Politikziel mehr sein.

Was Nida-Rümelin sagt, gehört ins Zentrum der bildungspolitischen Diskussion. Die totale Akademisierung und Uni-Expansion ist ebenso wenig alternativlos wie der Erhalt des Euro um jeden Preis.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%