Arbeitsmarkt „Sabbatical für alle“ und andere Revolutionen

Eine gewerkschaftsnahe Kommission hat über die Arbeitswelt in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung gebrütet. Viele der erarbeiteten „Denkanstöße“ werden Arbeitgebern nicht gefallen.

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Die Digitalisierung verändert ganze Berufsfelder. Quelle: dpa

Berlin Die Philosophin Hannah Arendt hat es beschworen, der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf und auch US-Ökonom Jeremy Rifkin: das „Ende der Arbeit“ als Folge von Automatisierung und Digitalisierung. Ein solches Szenario dürfte so bald noch nicht eintreten, starke Veränderungen der Arbeitsabläufe und der Arbeitsorganisation sind aber zu erwarten.

Dieser Wandel muss nicht schicksalhaft über die Menschen kommen, meint die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Sie will die moderne Arbeitswelt mit Politik und Sozialpartnern gestalten. Die Stiftung hatte deshalb schon vor zwei Jahren die Kommission „Arbeit der Zukunft“ eingesetzt. 33 Experten aus Gewerkschaften, Wissenschaft, Ministerien und Unternehmen haben diskutiert, darunter die Soziologin Jutta Allmendinger, die Verdi-Vizevorsitzende Andrea Kocsis, VW-Konzernbetriebsrat Bernd Osterloh oder Steag-Arbeitsdirektor Alfred Geißler. Geleitet wurde das Gremium vom Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, und der Kasseler Arbeitssoziologin Kerstin Jürgens.

Das Ergebnis: 54 „Denkanstöße“ zur Arbeit der Zukunft. Die Weichen würden heute gestellt, sagte DGB-Chef Hoffmann am Mittwoch bei der Präsentation des Abschlussberichts der Böckler-Kommission. „Wie man es besser nicht machen sollte, zeigt der Blick in die USA: Dort hat man es allein dem Silicon Valley überlassen, den Weg in die Digitalisierung vorzugeben.“

Die wichtigsten „Denkanstöße“ der Kommission:

Schutz auch für Clickworker

Viele Schutzrechte für Beschäftigte knüpfen heute an das klassische Normalarbeitsverhältnis und die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Betrieb“ an. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn Unternehmen verstärkt Produktionsteile auslagern, Aufträge von „Soloselbstständigen“ erledigen lassen oder gar über Plattformen für sogenannte „Clickworker“ ausschreiben. Nach Ansicht der Kommission werden so immer mehr Risiken auf „Marktteilnehmer“ abgewälzt, die früher als abhängig Beschäftigte tätig und über diesen Status geschützt waren.

Der US-amerikanische Taxi-Konkurrent Uber etwa versteht sich nur als Vermittler, nicht aber als Arbeitgeber. Der Fahrer komme oft nur auf einen geringen Verdienst und trage das ganze Risiko, während Uber nicht einmal die Autos stellen müsse, geschweige denn Sozialleistungen anbieten, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in der anschließenden Podiumsdiskussion. Die Kommission plädiert deshalb für eine Neudefinition des Arbeitnehmer- und des Betriebsbegriffs, damit etwa mehr Beschäftigte von einem Betriebsrat erfasst werden. Außerdem sollte bei digitalen Plattformen das „Bestellerprinzip“ verankert werden. Das heißt: Für die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen der Auftragnehmer wäre nicht ausschlaggebend, wo die Leistung erbracht wird, sondern in welchem Land der Auftraggeber sitzt. Ein deutsches Unternehmen, das Clickworker etwa in Italien beauftragt, müsste sie also nach deutschen Standards entlohnen.

Niedrige Einkommen aufwerten

Die Einkommen der privaten Haushalte seien von 1991 bis 2014 zwar insgesamt um zwölf Prozent gestiegen, heißt es in dem Bericht, doch verlief die Entwicklung in den Einkommensgruppen sehr unterschiedlich: Die mittleren Einkommen nahmen um mehr als acht, die höchsten jedoch um bis zu 26 Prozent zu. Die 40 Prozent der Beschäftigten mit den untersten Einkommen müssen hingegen  nach dem jüngsten Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung seit 1995 sogar Reallohnverluste hinnehmen. Im europäischen Vergleich weise Deutschland zudem mit 23 Prozent aller Beschäftigten einen der größten Niedriglohnsektoren auf. Als Gründe macht die Kommission die Ausweitung von – teils unfreiwilliger – Teilzeitbeschäftigung, eine sinkende Tarifbindung oder Outsourcing aus. Auch die Ausweitung des Dienstleistungssektors, in dem heute rund sieben von zehn Beschäftigten arbeiten, spielt eine Rolle. Gerade in klassischen „Frauenberufen“ wie in der Pflege ist die Bezahlung deutlich schlechter als etwa in der Industrie.

Die Kommission fordert in erster Linie, allen, die mehr arbeiten wollen, dies auch zu ermöglichen. Das gehe nur mit einem flächendeckenden Angebot für die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Auch sollte der Staat Anreize, in kurzer Teilzeit oder einem Minijob zu arbeiten, aufgeben. „Bislang findet hier in der Kombination aus Ehegattensplitting, beitragsfreier Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse und steuerlicher und sozialrechtlicher Privilegierung von Minijobs eine Subventionierung des Zuverdiener-Modells statt“, heißt es in dem Bericht. „Die Folge: Ein Ehepartner (es sind zumeist Frauen) verbleibt im Niedrigzeitbereich.“

Nicht unumstritten war in der Kommission, inwieweit sich die Lohnpolitik der Geringverdiener annehmen sollte. In der Regel zementiert die bei Tariferhöhungen meist praktizierte proportionale Lohn- und Gehaltserhöhung die Lohnungleichheit. Das ist anders, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften für untere Einkommensgruppen überproportionale Steigerungen aushandeln, etwa durch Sockel- oder Mindestbeträge. Diskutiert haben die Mitglieder auch über die Frage, ob der gesetzliche Mindestlohn, der sich heute an der Lohnentwicklung orientiert, nicht an andere Kriterien geknüpft werden sollte. So könnte seine Höhe politisch so festgelegt werden, dass ein langjährig zum Mindestlohn Beschäftigter im Alter auf jeden Fall eine Rente oberhalb der staatlichen Grundsicherung erhält.

Auch eine Mindestarbeitszeit in Teilzeitverträgen, wie sie etwa in Frankreich gilt, ist denkbar, um auch Teilzeitbeschäftigten zu einem auskömmlichen Einkommen zu verhelfen. Schließlich, so DGB-Chef Hoffmann, gelte es auch, den Produktivitätsbegriff für die sozialen Dienstleistungen neu zu definieren. Pflegerinnen oder Erzieher leisteten wertvolle Arbeit, die Produktivität als ein Kriterium bei der Lohnfindung lasse sich hier aber kaum messen.


Wie bewahrt man Arbeitnehmer vor dem Abstieg?

Öfter mal eine Auszeit nehmen

Aus Sicht der Kommission klaffen Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten und die tatsächliche Arbeitszeit heute noch viel zu oft auseinander. Das umso mehr in Phasen, in denen etwa Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu versorgen sind. Laut Sozio-oekonomischem Panel wünschen sich 39 Prozent der weiblichen und 46 Prozent der männlichen Teilzeitarbeitskräfte eine Verlängerung ihrer Arbeitszeit hin zu längerer Teilzeit. Zugleich sagen 43 Prozent der weiblichen und 31 Prozent der männlichen Vollzeitbeschäftigten, dass sie mehr als gewünscht und vertraglich vereinbart arbeiten.

Die Kommission schlägt deshalb vor, im Teilzeit- und Befristungsgesetz einen Anspruch der Beschäftigten zu verankern, die Arbeitszeit, den Arbeitsort und die Verteilung der Arbeitsstunden über den Tag oder die Woche mit dem Arbeitgeber zu diskutieren. Sollte der Betrieb den Wünschen des Beschäftigten nicht nachkommen, muss er das begründen. Ziel müsse sein, Zeitsouveränität auch in nicht tarifgebundenen Unternehmen oder solchen ohne Betriebsrat durchzusetzen, heißt es in dem Bericht. In Phasen, in denen Kinder oder Pflegefälle zu betreuen sind, sollen Beschäftigte ihre Arbeitszeit reduzieren dürfen und dafür einen Lohnausgleich erhalten, der bei niedrigen Einkommen prozentual höher ausfällt.

Die Kommission will Beschäftigten aber auch das Recht auf eine „begründungsfreie“ Auszeit einräumen, ein Sabbatical für alle also – egal, ob für die Weltreise oder den Bau des neuen Hauses. Für Schichtarbeiter, denen bei der zeitlichen Flexibilität Grenzen gesetzt sind, könnte es als Ausgleich eine generelle Arbeitszeitverkürzung geben. Die Kommission fordert zudem, Arbeit auf Abruf einzudämmen und Betriebs- und Personalräten das Recht zu geben, bei regelmäßiger Überschreitung der Arbeitszeit mehr Personal einfordern zu können.

Tarifbindung stärken

Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen haben in der Regel bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne und Gehälter als die Kollegen in Betrieben, in denen kein Tarifvertrag gilt. Laut Statistischem Bundesamt fallen in Westdeutschland aber nur noch 46 Prozent der Angestellten unter den Schutz eines Tarifvertrags, im Osten sind es nur 39 Prozent. In vielen Dienstleistungsberufen ist der Bindungsgrad deutlich schwächer als in der Industrie, im Gastgewerbe zum Beispiel liegt er bei 24 Prozent.

Um die „weißen Flecken“ in der Tariflandschaft zu beseitigen, setzt die Kommission vor allem auf den Gesetzgeber. Zwar hatte Arbeitsministerin Andrea Nahles mit dem Mindestlohngesetz schon die Kriterien gelockert, nach denen die Politik einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären kann. So muss der betreffende Vertrag nicht mehr für mindestens die Hälfte der Beschäftigten einer Branche Geltung haben. Vielmehr kann er für alle Unternehmen der Branche verpflichtend gemacht werden, wenn ein „öffentliches Interesse“ vorliegt. Die Kommission empfiehlt aber nun, diesen Begriff klarer zu umreißen. So könnte etwa ein „öffentliches Interesse“ vorliegen, wenn in einer Branche mindestens 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor arbeiten.

In der Praxis scheitert die Allgemeinverbindlichkeit heute aber vor allem daran, dass Arbeitgeber und Gewerkschaft sie in der paritätisch besetzten Tarifkommission gemeinsam beantragen müssen. Hier stellen sich aber oft die Arbeitgeber quer. DGB-Chef Hoffmann fordert deshalb eine Umkehrung: Der Antrag gilt dann als gestellt, wenn die Tarifkommission das nicht mit Mehrheit ablehnt. Diskutiert hat die Kommission auch darüber, das Recht, Tarifverträge zu erstreiten, auch auf Soloselbstständige zu erstrecken, die für mehrere Arbeitgeber arbeiten. Bisher steht dem das Kartellrecht entgegen, weil Vereinbarungen unter den konkurrierenden Selbstständigen als unerlaubte Preisabsprachen gewertet werden könnten. Auch Schutz vor Überlastung ließe sich aus Sicht der Kommission tariflich regeln, etwa mit Verträgen über eine personelle Mindestbesetzung, wie er in der Berliner Charité gilt.

Abstiegsbremsen einbauen

Die Digitalisierung verändert Berufsfelder dramatisch oder lässt andere ganz verschwinden. Als wichtigste Abstiegsbremse für die betroffenen Beschäftigten sieht die Kommission Bildung und Weiterbildung. Um es am besten gar nicht erst zum Jobverlust kommen zu lassen, schlägt sie eine neue Beratungskultur vor, „in der individuelle und neutrale Beratung für jeden angeboten wird, unabhängig von der Ausgangslage der Person und ihren Ambitionen“. Ganz ähnlich hatte Arbeitsministerin Nahles argumentiert, die die Bundesagentur für Arbeit (BA) künftig stärker in der Rolle eines Beratungsdienstleisters auch für Beschäftigte sieht.

Der Kommission schwebt aber auch eine stärkere finanzielle Förderung für Erwachsene vor, die etwa eine Ausbildung nachholen oder sich umschulen lassen wollen – eine Art „Bafög der zweiten Chance“. Umstritten ist dagegen die Idee, allen Beschäftigten eine geförderte Bildungsteilzeit zu ermöglichen oder sie beim Start ins Berufsleben mit einem Zeit- und Geldkonto auszustatten, das für berufliche Auszeiten oder Qualifizierung genutzt werden kann. Kritiker warnen hier vor großen Mitnahmeeffekten.

Beschäftigten, die durch die Digitalisierung tatsächlich den Job verlieren, will die Kommission mit einer Anpassung bewährter arbeitsmarktpolitischer Instrumente helfen. So könnte das Instrument des Kurzarbeitergelds weiterentwickelt und stärker mit Qualifizierung gekoppelt werden. Außerdem schlägt die Kommission vor, die Regeln für Transfergesellschaften so zu verändern, dass Beschäftigte nach einer Qualifizierung wieder in den Ursprungsbetrieb zurückkehren können. Das von der SPD vorgeschlagene Arbeitslosengeld Q begrüßt die Kommission.

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