SPD und Grüne wollen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor den NSA-Untersuchungsausschuss vorladen. Der Grund: die Spionagevorwürfe gegen den Bundesnachrichtendienst (BND) und den US-Geheimdienst NSA. Auf die Frage, ob Merkel dem NSA-Ausschuss Rede und Antwort stehen solle, sagte der SPD-Bundesvize Ralf Stegner dem Handelsblatt (Online-Ausgabe): „Im Zweifelsfall irgendwann ja, denn sie hat die politische Verantwortung.“
Der Grünen-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Konstantin von Notz, erklärte, das Bundeskanzleramt habe „die Dinge so lange schleifen lassen, dass die NSA-BND-Affäre jetzt zu Merkels Skandal geworden“ sei. „Deshalb sollte auch Merkel dem NSA-Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen“, sagte von Notz dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).
Der BND soll der NSA über Jahre geholfen haben, europäische Unternehmen und Politiker auszuforschen - darunter die französische Regierung und die EU-Kommission. Die NSA lieferte dem BND demnach für die Überwachung des Datenverkehrs in seiner Abhörstation in Bad Aibling viele Suchmerkmale (Selektoren) wie Telefonnummern oder IP-Adressen von Computern, die gegen deutsche und europäische Interessen verstießen. 40.000 davon sortierte der BND nach eigenen Angaben über die Jahre vorab aus. Mehrere Tausend unzulässiger Selektoren fielen aber erst in der aktiven Suche auf.
Mehrere Obleute des NSA-Ausschusses forderten, dass die Listen mit Suchbegriffen vorgelegt werden. Die Bundesregierung hat aber zunächst die Amerikaner um Erlaubnis gefragt, ob sie die Informationen dazu offenlegen darf. Dies sogenannte Konsultationsverfahren läuft noch.
Der SPD-Obmann Christian Flisek mahnte, das Konsultationsverfahren mit den USA dürfe nicht dazu eingesetzt werden, um Zeit zu schinden. „Das Kanzleramt muss eine eigene souveräne Entscheidung treffen. Man kann nicht von Aufklärung reden und das Schlüsselelement dazu nicht vorlegen“, sagte Flisek der Nachrichtenagentur dpa. „Da ist mir herzlich egal, wie die Amerikaner das sehen.“ Das Parlament werde sich die Listen nicht vorenthalten lassen. „Das letzte Druckmittel wäre eine gerichtliche Klärung“, drohte Flisek.
Der neue Skandal um BND und NSA
Der BND soll dem US-Geheimdienst NSA jahrelang geholfen haben, Ziele auch in Europa auszuforschen. Es geht dabei um große Datenmengen, die der BND an seiner Abhörstation in Bad Aibling abgreift und die die NSA nach europäischen Unternehmen und Politikern durchforstet haben soll. In Bad Aibling belauscht der BND internationale Satellitenkommunikation, angeblich vor allem aus Krisenregionen wie Afghanistan oder Somalia. Es ist aber nicht ganz klar, was dort tatsächlich alles abgefischt wird.
BND und NSA vereinbarten vor Jahren, dass die Amerikaner nach bestimmten Suchmerkmalen (Selektoren) Zugriff auf diese Daten bekommen - zur Terrorbekämpfung und unter Einhaltung deutscher Interessen. Die Amerikaner hielten sich aber wohl nicht an diese Vereinbarung, sondern nutzten die Daten keineswegs nur für den Kampf gegen den Terror, sondern möglicherweise auch zur Wirtschaftsspionage und für andere Zwecke, die deutschen und europäischen Interessen zuwiderlaufen.
Um aus den großen Datenmengen relevante Informationen herauszusuchen und die Kommunikation von Verdächtigen aufzuspüren, filtern sie diese nach bestimmten Suchmerkmalen - zum Beispiel E-Mail-Adressen, Telefonnummern oder IP-Adressen von Computern. Die NSA hat dem BND massenhaft solche Suchkriterien übermittelt, damit dieser die Daten aus Bad Aibling danach maschinell durchkämmt und anschließend an die USA weitergibt. Wie viele Selektoren die Amerikaner geliefert haben, ist unklar. Die Rede ist von mehreren Hunderttausend oder mehr als einer Million. Sie werden ständig überarbeitet und ergänzt.
Der BND prüft nach eigenen Angaben durchaus, was die NSA an Daten anfragt und welche Suchkriterien sie übermittelt. Und der Geheimdienst beteuert, dass er Selektoren, die deutschen Interessen widersprechen, aussortiert und keine Daten dazu liefert. Angesichts der riesigen Mengen an Daten und Selektoren sind die Prozesse aber computerbasiert. Der Grünen-Obmann im NSA-Ausschuss, Konstantin von Notz, geht deshalb davon aus, dass alles grundsätzlich automatisiert und ohne Prüfung der einzelnen Suchmerkmale abläuft. „Dieses System ist unkontrollierbar“, sagt er. „Und der BND wusste das auch.“
Der BND bemerkte schon 2005, dass die NSA in dem Wust an abgehörten Daten auch nach europäischen Zielen suchte - nach den Firmen EADS und Eurocopter und nach französischen Behörden. Nach den Enthüllungen der NSA-Affäre 2013 schaute sich der BND die Suchanfragen noch genauer an und stieß auf rund 2000 kritische Selektoren der NSA. Insgesamt hat der BND über die Jahre rund 40 000 solcher Suchkriterien der USA abgelehnt. Nach eigenen Angaben fischten die BND-Mitarbeiter diese heraus, gaben den Amerikanern dazu also keine Daten.
Doch die Linke-Obfrau im NSA-Ausschuss, Martina Renner, glaubt nicht an diese Version. „Wir gehen davon aus, dass ein Teil der Selektoren auch eingesetzt wurde.“ Wen genau die Amerikaner alles ausforschen wollten und bei welchen Stellen ihnen das in welchem Umfang gelang, ist noch unklar. Das Kanzleramt erfuhr angeblich erst vor ein paar Wochen von der ganzen Sache - nachdem der NSA-Untersuchungsausschuss nachhakte.
Der NSA-Ausschussvorsitzende Patrick Sensburg (CDU) sagte dpa, die Regierung müsse sich notfalls auch über ein Nein der Amerikaner hinwegsetzen. Von Notz drohte in der Zeitung „Welt am Sonntag“ sogar mit juristischen Schritten, sollte es keinerlei Einblick in die Selektorenliste geben.
Jusos fordern Rücktritt von Innenminister de Maizière
Das Parlament wird sich auch an anderer Stelle mit der Affäre beschäftigen. Die Grünen wollen in der kommenden Woche eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragen. Am Mittwoch berät zudem das Gremium zur Kontrolle der Geheimdienste über die Vorwürfe. Erwartet wird dort der heutige Innen- und frühere Kanzleramtsminister Thomas de Maizière (CDU).
Die Vorsitzende der Jungsozialisten (Jusos), Johanna Uekermann, forderte den Rücktritt von de Maiziere. „Angela Merkel sollte personelle Konsequenzen ziehen, de Maiziere ist bei diesen Vorwürfen als Innenminister nicht einen Tag länger tragbar“, sagte Uekermann der „Welt am Sonntag“. Ausspähen gehe gar nicht. „Die Vorgänge bei BND und Bundeskanzleramt sind unglaublich“, ergänzte die Juso-Chefin. De Maiziere habe als Kanzleramtschef Spionage und Ausspähung durch fremde Geheimdienste gedeckt oder gar befördert.
Der Chef der Partei Die Linke, Bernd Riexinger, sprach sich in der Zeitung „Bild am Sonntag“ dafür aus, alle Kanzleramtsminister der vergangenen Jahre unter Eid zu befragen. Der Grünen-Politiker von Notz hält es insbesondere für geboten, dass der frühere Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) vor dem Untersuchungsausschuss „wahrheitsgemäß“ Stellung nimmt. Das Kanzleramt hat die Aufsicht über den BND. 2008 war der heutige Innenminister de Maizière (CDU) Kanzleramtschef, 2010 war es Pofalla.
„Es steht der schwerwiegende Verdacht im Raum“, so von Notz, das Pofalla im Auftrag Merkels im Bundestagswahlkampf die gefährlich werdenden Enthüllungen (des Ex-US-Geheimdienstmitarbeiters Edward; d. Red.) Snowdens wahrheitswidrig abmoderierte.“ Spätestens im August 2013 hätte die Bundesregierung die Kooperationen und „offensichtlichen Probleme“ mit der NSA offenlegen müssen. „Stattdessen verschwieg man diese Dinge den Bürgern, den europäischen Partnern und der deutschen Wirtschaft.“
SPD-Vize Stegner sagte: „Herr Pofalla hat offenkundig die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, der BND habe sich zu 100 Prozent an die Datenschutzbestimmungen gehalten.“ Spätestens mit den Enthüllungen Snowdens hätte Pofalla „aktiv aufsichtlich tätig werden müssen“. Stattdessen habe er aber die BND-NSA-Affäre für beendet erklärt. „Entweder das Kanzleramt war total ahnungslos, also auf Deutsch gesagt unfähig zur Aufsicht über den BND, oder es unternahm wider besseren Wissens nichts und belog Parlament und deutsche Öffentlichkeit.“ So oder so liege die politische Verantwortung dafür bei Bundeskanzlerin Merkel, betonte Stegner.
Was den heutigen BND-Präsident Gerhard Schindler, de Maziére, vor allem aber Pofalla und den heutigen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) betrifft, werde der NSA-Untersuchungsausschuss die Verantwortlichkeiten zu klären haben. „Dass sich Herr Pofalla inzwischen zur Deutschen Bahn abgesetzt hat, ändert daran nichts“, fügte Stegner hinzu.
Die Obfrau der Linken im NSA-Ausschuss, Martina Renner, kündigte an, alle BND-Mitarbeiter vorzuladen, die ab dem Jahr 2013 die von der NSA an den BND gelieferten Suchmerkmale für die Überwachung des Datenverkehrs geprüft hätten. Sie müssten darüber Auskunft geben, wen sie wann im BND und im Kanzleramt informiert haben.
„Und danach wollen wir die politisch Verantwortlichen hören“, sagte Renner dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). Dazu gehöre auch Pofalla. „Schon jetzt ist klar, dass die damalige Aussage von Pofalla völlig unhaltbar ist und reine Augenwischerei war.“