Die Gaststätte herrscht über Irma Löh. Noch immer steht sie täglich außer mittwochs mit weißer Kittelschürze im Burgkeller von Bruchweiler. Löh ist 84, gebeugt, aber nicht besiegt. Sie hat Humor und einen zähen Willen. Das ist der Treibstoff im sechsten Jahr seit sie sich zur Ruhe setzen will.
Es muss starker Stoff sein. Wegen eines schlecht verheilten Bruchs serviert sie eben mit links. In der Küche steht Sohn Harald, die Schwiegertochter hilft. Voll wird es auf den 140 Plätzen nur noch an Feiertagen und Wochenenden, wenn Wanderer oder Motorradfahrer im Hunsrück unterwegs sind. „Die Siebzigerjahre waren die beste Zeit, da brummte es“, sagt die Wirtin.
Christian Werner ist mit 38 Jahren kaum halb so alt wie Irma Löh, doch so sesshaft war er nicht. Er wuchs in Thüringen auf, wurde in Nürnberg erwachsen und ist nun in Dresden verwurzelt. Seine Frau und er leben mit Tochter Lorelai, 7, und Sohn Till, 5, in Deutschlands kinderreichster Großstadt.
Der Mediengestalter fragt sich, ob es ein Fehler war, nicht schon 2009 den Mut zur Eigentumswohnung in der Elbestadt aufgebracht zu haben. „Jetzt kann man sich als Normalverdiener keine mehr leisten.“
Irma Löh und Christian Werner verbindet ein unsichtbares Band. Alle reden über teure Städte, hohe Mieten, knappe Kitas. Doch das alternde Land leidet zeitgleich an Schwindsucht und Wachstumsschmerz. Für Bürger und Staat wird die geteilte Republik nicht billiger. Städte müssen neue Kitas und Baugebiete finanzieren. An den bröckelnden Rändern Frieslands, der Lausitz, im Bayerischen Wald oder Ruhrgebiet werden Abwasser, Busse und Schulen teuer. Mit den Abwanderern fehlen deren Kinder. Doch vor Ort finden sich pragmatische Ansätze gegen Schwund und Stau.
Er herrscht das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Wer Mangel spürt, muss sich auf noch weniger einstellen. Wer es bereits auskömmlich hat, darf noch mehr erhoffen.
Einzelne Wohlstandsinseln ragen aus dem Meer empor (siehe Grafik oben). Es sind „Schwarmstädte“ – Universitätsstädte, Wirtschaftszentren oder Sehnsuchtsorte wie Berlin oder Leipzig. Der Ökonom Harald Simons vom Forschungsinstitut Empirica hat den Begriff geprägt. Schwarm wie Vogelschwarm: „Die Jungen, die zunehmend zur Minderheit werden, verlassen die Provinz“, erklärt er. Schwarm könnte auch Schwärmerei bedeuten. „Dort, wo die Jungen herkommen, hat vielleicht der letzte Club dichtgemacht, wo sie hinwollen, herrscht pralles Leben“, sagt Simons. Sie peilen hübsche Orte wie Würzburg, Münster und Jena an – oder den Wohlstand in Hamburg, Darmstadt und Aachen.
Die mobilen Jungen zetteln keine offene Revolte an, sie erzeugen einen stillen Sog:
- Die Jungen rotten sich als Minderheit zusammen. Erst ist einer fort, wird Anlaufstelle in der Stadt, wo sich studieren und jede Ausbildung machen lässt. Bald kommen viele nach. Wen es nicht in die Ferne treibt, fragt sich, ob er bald das Licht löscht. Zumindest das im Kino oder Jugendclub.
- Bildung macht mobil. Immer mehr Junge machen Abitur, immer mehr studieren. Erst ziehen sie in Richtung Hochschule, später bleiben sie in den Städten kleben. Daran verzweifeln auch Handwerker mit Nachwuchssorgen: Im Jahr 2000 nahm jeder Dritte aus den jüngeren Jahrgängen ein Studium auf, 2013 waren es schon fast 60 Prozent.
Leere Häuser und verwaiste Geschäfte
Bundesweite Statistiken verdecken den Umbruch, statt ihn zu zeigen. Wohnungsnot? Im Schnitt hat jeder 45 Quadratmeter Wohnraum. 1998 lag die Fläche bei nur 39 Quadratmeter. Alte Frauen leben sogar auf mehr als 60 Quadratmeter, oft allein. Wenig Platz haben nach den Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Frauen zwischen 27 und 37 Jahren, die oft alleinerziehend sind und sich nur eine kleine Buden leisten können.
Der Platz ist extrem ungleich verteilt, die Preise fallen auseinander (siehe unten). Die Inflation herausgerechnet, hat sich die Miete in den letzten 20 Jahren verbilligt, erklärt der Immobilienverband IVD. Schaut man auf die vergangenen fünf Jahre und Zentren wie München, Hamburg, Berlin oder Köln, zogen die Preise kräftig an. Hier ist ein Eigenheim für viele unerschwinglich geworden. Anderswo, im Westerwald oder in Cuxhaven, werden Besitzer ihr Häuschen nicht mehr los.
Hunsrück - Die leere Provinz
Irma Löh meint, es wäre längst an der Zeit, aufzuhören. Doch seit fünf Jahren klappt der Verkauf des Burgkellers nicht. 149.000 Euro hätte sie gern für das große Haus samt Gästezimmern und Grundstück. „Ich würde gerne mal die Türe zuschließen und bei schönem Wetter spazieren gehen“, wünscht sich die Wirtin. Und macht weiter. Sie ahnt, dass der Verkauf immer schwerer wird. „Vor zehn Jahren wäre es einfacher gewesen. Aber das weiß man hinterher.“
Die zehn teuersten Städte
Stuttgart
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 9,6 €
Veränderung zum Vorjahr: +3,0%
Städte mit mehr als 25.000 Einwohnern; Stand: 4. Quartal 2013; Quelle: F+B
Hamburg
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 9,6 €
Veränderung zum Vorjahr: +0,3%
Fürstenfeldbruck
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 9,6 €
Veränderung zum Vorjahr: +5,1%
Tübingen
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 9,6 €
Veränderung zum Vorjahr: +1,9%
Konstanz
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 9,7 €
Veränderung zum Vorjahr: +0,8%
Dachau
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 10,0 €
Veränderung zum Vorjahr: +0,8%
Frankfurt am Main
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 10,2 €
Veränderung zum Vorjahr: +1,6%
Germering
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 10,3 €
Veränderung zum Vorjahr: +1,8%
Unterschleißheim
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 10,7 €
Veränderung zum Vorjahr: +4,9%
München
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 12,2 €
Veränderung zum Vorjahr: +2,5%
Im Hunsrück zeigt sich die Landflucht an leeren Häusern und verwaisten Geschäften. Manche Dörfer werben noch um Neubürger und weisen Baugebiete am Rand aus, während im Ortskern die Häuser bröckeln. Ältere prägen das Bild. Die Kinder und Enkel aus Frankfurt oder Trier kommen noch zu Besuch, aber ziehen nicht zurück. Schwund plagt auch Dörfer in Niederbayern, Nordhessen, Vorpommern, im Sauerland und Harz.
Das Landleben mit weiten Wegen schreckt ab, sagt Annette Spellerberg, Professorin an der TU Kaiserslautern. „Die meisten Paare brauchen zwei qualifizierte Jobs und eine erreichbare Betreuung für die Kinder. Das gibt’s so nicht in ländlichen Regionen“, so die Siedlungsexpertin. Übrig blieben perforierte Dörfer. Erst verfallen die Häuser, dann der Zusammenhalt. Gebäude in Ortskernen an der Durchgangsstraße sind kaum noch verkäuflich. Täglich donnern Tausende Autos und Lkws vorbei. „Umgehungsstraßen baut hier keiner mehr.“
Die zehn billigsten Städte
Halberstadt
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,5 €
Veränderung zum Vorjahr: -1,5%
Städte mit mehr als 25.000 Einwohnern; Stand: 4. Quartal 2013; Quelle: F+B
Nordhausen
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,5 €
Veränderung zum Vorjahr: -2,6%
Pirmasens
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,5 €
Veränderung zum Vorjahr: -0,7%
Plauen
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,5 €
Veränderung zum Vorjahr: +0,4%
Zeitz
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,4 €
Veränderung zum Vorjahr: +1,1%
Straßfurt
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,4 €
Veränderung zum Vorjahr: +2,82,6%
Idar-Oberstein
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,4 €
Veränderung zum Vorjahr: -2,9%
Görlitz
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,3 €
Veränderung zum Vorjahr: +1,2%
Gera
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,3 €
Veränderung zum Vorjahr: -1,1%
Zittau
Kaltmiete pro Quadratmeter bei Neuvermietungen: 4,3 €
Veränderung zum Vorjahr: -1,2%
Keinen Marktwert
Die Plattenbauten einer Wohnungsbaugesellschaft sind leichter zu sanieren als aneinanderhängende Dorfgrundstücke mit unterschiedlichen Eigentümern. „Man muss den Erben klar sagen, dass Häuser in manchen Flecken keinen Marktwert mehr haben“, verlangt Regionalplanerin Spellerberg.
Ein Bodenfonds könnte helfen, Flächen aufzukaufen und Dorfkerne als Ganzes wieder aufzupäppeln. Rheinland-Pfalz schickt Leerstandslotsen los, die mit Besitzern und Bürgermeistern Pläne gegen den Verfall schmieden.
Leerstandsbörsen im Internet sollen helfen, Häuser sichtbar zu vermarkten. Erfolgreich ist das idyllische Wanfried in Hessen. Dessen Bürgergruppe wirbt um Zuzügler, meist solvente Städter, die Fachwerkhäuser wieder in Schuss bringen.
München - Deutschlandweit Spitze
Spellerberg propagiert im Einzelfall den Ausstieg aus der Daseinsvorsorge, also aus Müllabfuhr oder Nahverkehr. Die Bürger vor Ort entscheiden, welche Lösungen funktionieren. Vielleicht reicht es, wenn der Müllwagen nur alle zwei Wochen an einem zentralen Ort vorfährt.
„Das würde Zwergschulen erlauben, einen eigenen Brunnen oder dezentrale Kanalisation“, beschreibt die Professorin. Ehrenamtliche führen den Bürgerbus, mobile Händler reisten dann übers Land.
Hilfreich wäre, wenn die Bundesregierung ihr Ziel „schnelles Breitband für alle“ bis 2018 erreicht. So ließe sich ein Gewerbe im Dorf leichter führen. Doch Bundesdigitalminister Alexander Dobrindt (CSU) zögert, Milliarden ins Netz zu stecken, wie in den Koalitionsverhandlungen erwogen. Das sollen Unternehmen tun – doch die sahen bisher wenig Anlass, dünn besiedelte Orte zu erschließen.
Auf Wohltaten wartet Sascha Diepmans nicht. Der 43-jährige Makler vermittelt Hunsrück-Häuser, auch für unter 100.000 Euro. Ist eine Butze unwohnlich, inseriert er sie als „Bruchbude“. „Offenheit erspart den Kunden und mir viel Zeit“, weiß er.
Jüngst zeigen sich Holländer, Belgier und Franzosen in der Gegend. „Denen gefällt die Natur – und dass es billig ist“, sagt Diepmans. Neue Nachbarn kündigen sich an – auf der Suche nach einem Urlaubsrefugium oder Altersruhesitz.
München - Das teure Pflaster
Münchens Makler haben andere Preise im Angebot. Die teuerste Wohnung der Stadt liegt in einem Altbau am Schwabinger Kaiserplatz. Jeder der 79 Quadratmeter kostete 14.500 Euro – macht 1,13 Millionen Euro. Auch am unteren Ende ist die Metropole teuer. Die Bertelsmann-Stiftung errechnete, dass Ärmere hier mehr als jeden zweiten Euro für ihre Miete ausgeben. Ähnlich sei es in Frankfurt, Jena und Freiburg. Für ein Drittel des Einkommens finde eine normale Familie nichts.
Die Stadt punktet mit ihren Konzernen, gilt als Jobmaschine und weißblaue Wohlfühlinsel. 2013 stiegen die Mieten um sieben Prozent, stärker noch als in Berlin mit 6,6 Prozent, Köln mit 4,5 Prozent, Hamburg mit 4,0 und Frankfurt mit 3,2 Prozent. Im Schnitt 13 Euro Kaltmiete sind deutschlandweit Spitze und ziehen auch das Umland nach oben.
Ulrich Rothdauscher weiß, wie die Preise auf Normalverdiener wirken. Der Zwei-Meter-Mann leitet die Polizeiinspektion Neuhausen. „Einsteiger landen regelmäßig in München“, beschreibt der 46-Jährige. Verpflichtet für bis zu fünf Jahre. Anfangs gibt es 1.800 Euro netto. Wach- und Streifenbeamte bringen 2.000 bis 2.100 Euro nach Haus – mit Familie wird’s da eng.
Der aus der Oberpfalz zugezogene Rothdauscher ergatterte mit seiner Familie vor Jahren eine Genossenschaftswohnung. Neulinge weichen auf Gemeinschaftsunterkünfte der Bereitschaftspolizei aus. Andere gründen eine Zweck-WG. Für Polizisten gilt in München Residenzpflicht.
Umschwenken beim Grundstücksverkauf
Im Vergleich zu Unternehmen wie Allianz oder BMW zahlt der Staat schlecht. Also hauen etliche Polizisten nach der Pflichtzeit wieder an erschwinglichere Dienstorte ab. München kostet. Eine Tasse Kaffee gibt’s ab 2,50 Euro. Ein Kinobesuch, der Sportverein oder der Wocheneinkauf belasten stärker als anderswo.
Rothdauscher warnt: „Auch Spitzenverdiener wollen sich in ihrer Umgebung sicher fühlen und nicht über Müll stolpern. Wenn nur noch Reiche genug Geld für München haben, muss die Gräfin die Villa selber putzen.“
Erzieherinnen können nicht nach München beordert werden. Das bremst den Ausbau städtischer Kitas. Dabei locken Dienstwohnung und Zuschuss für Bus und Bahn. Extra-Schmankerl: Der Kita-Platz fürs eigene Kind zum halben Preis! In die Lücke springen private Ketten wie Elly & Stoffl oder die Wichtel Akademie. Die Krippe kann da im Monat 1.300 Euro verschlingen, ein Platz für Größere gut 1.000 Euro.
München zieht dennoch Neubürger an. Was zählt, sind Jobs. Allein 2012 kamen rund 24.400 sozialversicherungspflichtige Stellen dazu. Doch wächst auch der Widerstand. Mieter in der Maxvorstadt wehren sich gegen angeblich defekte Heizungen oder abgedrehtes Wasser, weil sich einzelne Hausbesitzer mehr Miete von den nächsten Bewohnern erhoffen. Künstler verhindern als Hausbesetzertrupp „Goldgrund“ den Abriss älterer Häuser im Glockenbachviertel. Auch in anderen Großstädten formiert sich eine neue Generation Hausbesetzer, die lautstark auf leer stehende Häuser aufmerksam macht.
Verbilligten Wohnraum bietet das „München Modell“, ein Artenschutzprogramm für die Mittelschicht. Es fördert zum Beispiel vierköpfige Familien, die bis zu 72.000 Euro Jahreseinkommen haben dürfen. Die Verwaltung stützt Fachhändler, indem sie städtische Ladenlokale billiger vermietet. Bayerns Heimatminister Markus Söder (CSU) will Landesbehörden aus Oberbayern in Randregionen verlegen.
Berlin versucht, Ferienwohnungen in Mietshäusern zu verhindern. Am Prenzlauer Berg darf in Altbauwohnungen kein zweites Bad entstehen – das gilt als Luxussanierung.
Boom-Städte schwenken beim Grundstücksverkauf um. In Berlin kann eine gute Idee das dicke Scheckbuch schlagen. So bekam die Kreuzberger Künstlergruppe Frizz23 den Zuschlag für ein Atelier- und Wohnhaus. Ähnliches gilt in Tübingen und Hamburg. In Jena beteiligen sich Bürger an Planungen in der Altstadt.
Suhl - Der ausgezehrte Ort
Suhl. Das reimt sich – auf cool. Um den Ort im Thüringer Wald und dieses Lebensgefühl zu verbinden, braucht es Geduld und Gitarren. Robert Kress, Thomas Adloff und zwei Freunde hatten beides. Ergrauter Plattenbau und breite Autoschneisen sind trist, aber Country-Sound hilft. Das YouTube-Filmchen „Biste Suhler, kommste cooler“ hat die 31-Jährigen hier berühmt gemacht. Sie hängen an ihrer „Geisterstadt“, wie es Adloff nennt. „Für Junge gibt’s ja nix.“ Zwei der vier Band-Mitglieder sind schon abgewandert und nur noch wochenends greifbar: Sängerin Katja lebt in Hamburg, der Regisseur des Musik-Clips, Micha, arbeitet in Erfurt.
Radikalkur
25 Jahre Abwanderung haben Suhl ausgehöhlt. Hier gibt’s den „großen Kreis der Alten“, wie die von Senioren bevölkerten Parkbänke heißen. Die Jungen treibt es am Wochenende 50 Kilometer nach Coburg und 70 nach Erfurt. Vor Jahren machte der McDonald’s dicht.
Suhl ist gebeutelt vom Niedergang der Industrie. Abgemagerte Städte wie Hoyerswerda, Wittenberge, Bremerhaven, Salzgitter, Hof oder Pirmasens suchen ebenso nach Ideen für weniger Einwohner und wachsenden Leerstand. Orte wie Wunsiedel oder Görlitz werben um Rentner, die mehr fürs Geld wollen als in der Großstadt. Andere appellieren ans Heimatgefühl, dass die Fortgezogenen zur Familiengründung doch wiederkehren mögen.
Nix für mich
1990 lebten in Suhl, der DDR-Bezirksstadt, 58.000 Menschen, heute 35.000, im Jahr 2020 dürften es unter 30.000 sein. Suhl halbiert sich in einer Generation. Das Durchschnittsalter ist auf über 50 Jahre geklettert.
Auch Hobbymusiker Adloff hatte Suhl hinter sich gelassen, war in Jena und Hamburg, aber kehrte zurück. „So ganz allein woanders, das ist nix für mich.“ Kress und Adloff bleiben. Hat auch Vorteile: Miete und Alltag kosten weniger als anderswo.
Oberbürgermeister Jens Triebel stemmt sich gegen den Niedergang und setzt eine Radikalkur durch. Das Viertel „Suhl-Nord“ wird bis 2025 abgerissen. Die letzten Bewohner der 3.000 Plattenbauwohnungen sollen dann in die Innenstadt ziehen. Bergsteiger Triebel will langen Atem zeigen und sieht die Stadt als Vorreiter. Es trifft auch andere Städte – nur langsamer.
Unterstützung bekommt er von Empirica-Ökonom Harald Simons: „Schrumpfen verlangt Konzentration. Es ist nicht mehr alles überall finanzierbar.“ Kommunen sollten nur noch im Kern investieren und dorthin locken. Sonst sei überall Brache.
Nicht mal eine Hochschule hilft immer, den Exodus Junger aufzuhalten. Das mussten Cottbus und Frankfurt an der Oder feststellen. Viele entscheiden sich fürs Studium dort, doch wohnen sie lieber im zweiten Berliner Hinterhaus und pendeln täglich wie ihre Professoren in vollen Zügen.
Die Johnny-Cash-Fans Kress und Adloff stehen vor der zugesperrten Philharmonie. Zuletzt fanden dort Ü30-Partys statt, zahlreich vertreten waren Suhler jenseits der 50. Die sorgen auch für volle Hallen, wenn Moderator Florian Silbereisen zur Volksmusikshow anreist. Für Lackierer Robert Kress sprang ein Auftrag heraus. Er besprühte 24 Tannen, damit sie bei der TV-Übertragung wie zugeschneit aussahen.
Der Boom ist spürbar
Dresden - Die kinderreiche Stadt
Wenn eins der Kinder krank ist, startet Christian Werner notfalls um sechs Uhr morgens mit der Arbeit. Dann geht der Mediengestalter früh nach Hause. Oder er arbeitet gleich von dort. Vertrauensarbeitszeit heißt das bei der Dresdener Agentur Sandstein, die Netzauftritte erstellt oder Imagekampagnen erdenkt. Was er für familienfreundlich hält, ist für die drei Chefs eigenes Interesse. Viele der 47 Angestellten haben kleine Kinder. Sandstein versucht, mit flexibler Arbeitszeit, Weiterbildung und Kita-Zuschuss zu punkten. Fachkräfte sind rar, wer viel verdienen will, zieht nach Hamburg oder München.
Sachsens Regierungssitz schrumpfte in den Neunzigerjahren und wächst seither wieder auf jetzt 536.000 Einwohner. 18- bis 24-Jährige ziehen her und bleiben. Das Rathaus meldet, Dresden sei erneut vor München und Frankfurt kinderreichste Großstadt. Firmen wie Stadtvertreter haben jedoch verinnerlicht, dass Wachstum nicht selbstverständlich ist.
Wirtschaftlicher Erfolg und familienfreundliche Politik wirken inzwischen. Anderswo machen Schulen dicht, hier öffnen neue Gymnasien. Bauland wird ausgewiesen, vor allem Vier-Raum-Wohnungen sollen gebaut werden. Flächendeckende Betreuung in Krippen, Kitas und Hort gibt es traditionell. Acht Stunden Betreuung am Tag kosten höchstens 170 Euro im Monat. Die Frage „Kind oder Beruf?“ muss niemand entscheiden.
Der heute 38-jährige Christian Werner kam 2007 mit Frau und Tochter her. „Die Makler rannten noch hinter uns her, als wir eine Drei-Raum-Wohnung suchten“, erinnert er. Eine Tagesmutter für die damals einjährige Lorelai war schnell gefunden.
Heute ist die Lage weniger komfortabel. Die nun vierköpfige Familie ist umgezogen. Die Eltern mussten Bewerbungen an Makler schreiben. Geklappt hat es im idyllischen Stadtteil Laubegast, ein Stück elbaufwärts gelegen in Radeldistanz. Das Auto hat Werner abgeschafft.
Noch ist niemand bei Sandstein gezwungen, wegen hoher Mieten außerhalb der Stadt zu wohnen. Doch der Boom ist spürbar: Immobilien werden teurer, Kita-Plätze knapp. Ähnlich sieht es in Leipzig, Rostock und Potsdam aus. Voriges Jahr, als sich bei Sandstein-Angestellten zeitgleich neun Babys ankündigten, bemühte sich Prokuristin Heike Bojunga in sozialen Netzwerken um Vertretung. Zugleich bezahlte die Agentur die Stadt, damit diese vier Krippenplätze garantierte. „Es herrschte schiere Not bei uns“, so Bojunga. „Jeder, der wollte, sollte so schnell wie möglich zurückkehren.“ Um ihren Mangel an IT-Leuten zu beheben, bildet die Agentur bereits selbst aus.
Nachwuchs strömt weiter in die Stadt. Und bereits früher Zugezogene wie Bojunga merken, dass ihre Umgebung nicht mit ihnen älter wird. Studenten und Twens bevölkern die Abendtreffpunkte. „Wenn ich heute in Neustadt ausgehe“, lacht die aparte 46-Jährige, „fühlt sich das an wie Mutti auf Patrouille.“