Wie kann Deutschland attraktiver für Zuwanderer werden? Muss sich Europa weiter öffnen? Und wie schaut ein faires Zuwanderungsmodell aus? Über diese Fragen streiten Politiker, Wissenschaftler und Bürger auf kommunaler Ebene, im Bund und bei der EU in Brüssel. Die EU-Innenminister kommen am Donnerstag in Belgien zusammen, um das Thema zu beraten.
Ein Punkt, der sicher zur Sprache kommt: Wie erfolgreich ist ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild, wie es SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann vorschlägt und inzwischen auch in Österreich praktiziert wird? Neben der SPD ist auch die AfD und ein Teil der Union für solch ein Modell.
Professor Herbert Brücker, 54, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Leiter des Forschungsbereichs „Internationale Vergleiche“ und „Europäische Integration“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Im Interview erklärt er, warum das jetzige System gescheitert ist, wie sich die Proteste aus der Bevölkerung verringern ließen und warum Deutschland Zuwanderer braucht.
WirtschaftsWoche: Herr Professor Brücker, geht es nach der SPD soll ein Punktesystem, nach dem Migranten bewertet werden, die Einwanderung künftig erleichtern. Ist das der richtige Vorstoß?
Herbert Brücker: Durch eine Einwanderungspolitik, die über Jahrzehnte auf eine Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes gegenüber Zuwanderern aus Drittstaaten gesetzt hat, haben wir heute vielfältige Integrationsprobleme. Wir brauchen daher eine fundamentale Änderung. Das kann über ein Punktesystem funktionieren oder dadurch, dass bestehende Gesetze weiterentwickelt werden.
Denken Sie, das von der SPD vorgeschlagene Punktesystem ist sinnvoll?
Ich kann die Wirkungen eines Punktesystems nur schwer abschätzen, weil sie davon abhängen, wie das System konkret ausgestaltet wird. Erste Erfahrungen in Österreich zeigen, dass die Einführung eines Systems nach kanadischem Vorbild mit einer Auswahl von Engpassberufen nur in geringem Maße erfolgreich ist, weil es zu restriktiv ist.
Zur Person
Herbert Brücker, 54, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Leiter des Forschungsbereichs "Internationale Vergleiche" und "Europäische Integration" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Wie könnte es verbessert werden?
Das Punktesystem müsste sich auf wenige allgemeine Kriterien wie Hochschul- und berufsqualifizierenden Abschluss, Vorlage eines Arbeitsvertrages und Sprachkenntnisse stützen. Damit könnte das Zuwanderungsverfahren stark vereinfacht und Zuwanderungshürden deutlich gesenkt werden.
Sie sagten eingangs, eine andere Möglichkeit den Arbeitsmarkt für Migranten aus Drittstaaten zu öffnen wäre, bestehende Gesetze weiterzuentwickeln.
Ja, genau. Aber dann müssen auch die Kriterien für den Arbeitsmarktzugang verändert werden. Für Personen mit Hochschulabschluss oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung sollte ein qualifikationsadäquater Arbeitsvertrag oder eine verbindliche Arbeitsplatzzusage das wichtigste Kriterium sein. Das ist der entscheidende Test dafür, ob für die Zuwanderer und ihre Qualifikationen auch eine Arbeitsnachfrage besteht.
Das setzt aber doch auch voraus, dass die Arbeitgeber mitspielen.
Ja, das stimmt. Deshalb müssen noch andere Maßnahmen ergriffen werden, beispielsweise indem Schwellen für die Arbeitsplatzsuche herabgesetzt werden und Abschlüsse leichter anerkannt werden.
Eine gesteuerte Öffnung des Arbeitsmarkts
Wen würde ein neues Einwanderungsgesetz überhaupt betreffen?
Für EU-Bürger würde sich nichts ändern. Sie genießen durch EU-Recht Freizügigkeit. Betreffen würde eine Änderung alle Zuwanderer aus Drittstaaten. Davon gelangen aber nur wenige zu Erwerbszwecken, also als Arbeitnehmer oder Arbeitssuchende, nach Deutschland. Die meisten dieser Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie dort keine Perspektiven mehr sehen. Die gesteuerte Öffnung des Arbeitszugangs könnte vielen dieser Menschen neue Perspektiven öffnen.
Das müssen Sie bitte erklären.
Weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, kommen viele dieser Menschen über den Familiennachzug oder auch als Asylbewerber und Flüchtlinge. Wir sehen das gegenwärtig bei den Zuwanderungsströmen aus dem südlichen Balkan, etwa aus dem Kosovo oder Albanien. Asylbewerber und Flüchtlinge sind aber schwer zu integrieren: Sie müssen untergebracht und versorgt werden, viele Kommunen sind damit überlastet. Diesen Druck müssen wir abbauen, in dem wir für einen Teil dieser Menschen den Arbeitsmarktzugang öffnen. Das würde die Proteste in der Bevölkerung verringern und die Politik entlasten.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass das jetzige System nicht funktioniert?
Ja. Das zeigt sich doch schon daran, dass nur zehn Prozent der Zuwanderer aus Drittstaaten die bestehenden gesetzlichen Regelungen nutzen, die es ihnen ermöglichen, hier zu arbeiten. Und nur ein Prozent aller Einwanderer aus Drittstaaten erhält die Blaue Karte für Hochqualifizierte. Das liegt daran, dass die Schwellen für den Arbeitsmarktzugang zu hoch sind. Mit fatalen Folgen für den Arbeitsmarkt: Wer nicht zu Erwerbszwecken einreist, ist häufiger arbeitslos und verdient weniger.
Ausländer in Deutschland
Besonders viele Ausländer kommen aus den Ländern, die 2004 der EU beigetreten sind. Die Zahl stieg gegenüber 2011 um 15,5 Prozent. Spitzenreiter ist Ungarn mit einem Plus von 29,8 Prozent, gefolgt von Polen mit +13,6 Prozent.
Die Zahl der Ausländer aus den von der Euro-Krise betroffenen Mittelmeerstaaten hat sich erhöht. Aus Griechenland sind 5,1 Prozent mehr Ausländer als im Vorjahr nach Deutschland gekommen, aus Spanien waren es 9,1 Prozent mehr Ausländer.
Die registrierte Bevölkerung mit türkischer Staatsangehörigkeit ist, ähnlich wie in den Jahren zuvor, um zwei Prozent zurückgegangen. Grund dafür ist die relativ hohe Zahl der Einbürgerungen.
Die meisten Ausländer zogen nach Bayern, das sind rund 65.900 mehr als im Jahre 2011. Den geringsten prozentualen Anstieg verzeichnet das Saarland mit einem Plus von 1,6 Prozent.
Über eine zu geringe Zuwanderung kann sich Deutschland momentan nicht beschweren. 2013 kamen 1,23 Millionen Einwanderer nach Deutschland – so viele wie seit 1993 nicht mehr.
Gegenwärtig ist das eine günstige Situation, ja. Wir rechnen 2014 mit einer Nettozuwanderung von einer halben Million Menschen. Langfristig braucht Deutschland eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen, um den demografisch bedingten Rückgang des Arbeitsangebots zu kompensieren. Gegenwärtig gelingt das ganz gut. Aber bedenken Sie: zwei Drittel der Zuwanderer kommt aus EU-Ländern. Viele suchen sich wegen der Krise in Deutschland Arbeit. Mittelfristig, wenn sich die Länder von der Finanz- und Wirtschaftskrise erholen, wird diese Zuwanderung stark zurückgehen.
Welche Folgen wird das haben?
Bereits gegen Ende des Jahrzehnts könnte der Anteil der Zuwanderer aus EU-Ländern in Deutschland auf den historischen Durchschnittswert von 30 bis 40 Prozent sinken.
Die Union ist in der Debatte um das Einwanderungsgesetz tief gespalten. Ein Einwanderungsgesetz scheint es so schnell nicht zu geben. Eine vertane Chance?
Wir neigen dazu, Probleme zu vertagen. Dabei müssen wir jetzt die Weichen stellen, wie die Zuwanderung in zehn bis 20 Jahren gestaltet werden soll. Wenn die Politik nichts ändert, werden wir künftig große Integrationsprobleme haben. Deshalb ist es wichtig, diese Debatte heute auch politisch zu führen und einen Konsens zu erreichen, der für die nächsten Jahrzehnte trägt.