Einwanderung "Das kanadische Punktesystem ist zu restriktiv"

Die Politik diskutiert über neue Zuwanderungsregelungen. SPD, AfD und Teile der CDU liebäugeln mit einem Punktesystem nach kanadischem Vorbild. Doch eine reine Kopie ist keine gute Idee, findet Professor Herbert Brücker.

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Vor diesen Problemen stehen die Zuwanderer
Teilnehmer eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache" Quelle: dpa
Eine Asylbewerberin wartet in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin Quelle: dpa
Eine Frau sitzt in einem Flüchtlingsheim in einem Zimmer Quelle: dpa
Ein Flüchtling sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft der Asylbewerber Quelle: dpa
Verschiedene Lebensmittel liegen in der Asylunterkunft in Böbrach (Bayern) in Körben Quelle: dpa

Wie kann Deutschland attraktiver für Zuwanderer werden? Muss sich Europa weiter öffnen? Und wie schaut ein faires Zuwanderungsmodell aus? Über diese Fragen streiten Politiker, Wissenschaftler und Bürger auf kommunaler Ebene, im Bund und bei der EU in Brüssel. Die EU-Innenminister kommen am Donnerstag in Belgien zusammen, um das Thema zu beraten.

Ein Punkt, der sicher zur Sprache kommt: Wie erfolgreich ist ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild, wie es SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann vorschlägt und inzwischen auch in Österreich praktiziert wird? Neben der SPD ist auch die AfD und ein Teil der Union für solch ein Modell.

Herbert Brücker Quelle: Presse

Professor Herbert Brücker, 54, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Leiter des Forschungsbereichs „Internationale Vergleiche“ und „Europäische Integration“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Im Interview erklärt er, warum das jetzige System gescheitert ist, wie sich die Proteste aus der Bevölkerung verringern ließen und warum Deutschland Zuwanderer braucht.

WirtschaftsWoche: Herr Professor Brücker, geht es nach der SPD soll ein Punktesystem, nach dem Migranten bewertet werden, die Einwanderung künftig erleichtern. Ist das der richtige Vorstoß?

Herbert Brücker: Durch eine Einwanderungspolitik, die über Jahrzehnte auf eine Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes gegenüber Zuwanderern aus Drittstaaten gesetzt hat, haben wir heute vielfältige Integrationsprobleme. Wir brauchen daher eine fundamentale Änderung. Das kann über ein Punktesystem funktionieren oder dadurch, dass bestehende Gesetze weiterentwickelt werden.

Denken Sie, das von der SPD vorgeschlagene Punktesystem ist sinnvoll?

Ich kann die Wirkungen eines Punktesystems nur schwer abschätzen, weil sie davon abhängen, wie das System konkret ausgestaltet wird. Erste Erfahrungen in Österreich zeigen, dass die Einführung eines Systems nach kanadischem Vorbild mit einer Auswahl von Engpassberufen nur in geringem Maße erfolgreich ist, weil es zu restriktiv ist.

Zur Person

Wie könnte es verbessert werden?

Das Punktesystem müsste sich auf wenige allgemeine Kriterien wie Hochschul- und berufsqualifizierenden Abschluss, Vorlage eines Arbeitsvertrages und Sprachkenntnisse stützen. Damit könnte das Zuwanderungsverfahren stark vereinfacht und Zuwanderungshürden deutlich gesenkt werden.

Sie sagten eingangs, eine andere Möglichkeit den Arbeitsmarkt für Migranten aus Drittstaaten zu öffnen wäre, bestehende Gesetze weiterzuentwickeln.

Ja, genau. Aber dann müssen auch die Kriterien für den Arbeitsmarktzugang verändert werden. Für Personen mit Hochschulabschluss oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung sollte ein qualifikationsadäquater Arbeitsvertrag oder eine verbindliche Arbeitsplatzzusage das wichtigste Kriterium sein. Das ist der entscheidende Test dafür, ob für die Zuwanderer und ihre Qualifikationen auch eine Arbeitsnachfrage besteht.

Das setzt aber doch auch voraus, dass die Arbeitgeber mitspielen.

Ja, das stimmt. Deshalb müssen noch andere Maßnahmen ergriffen werden, beispielsweise indem Schwellen für die Arbeitsplatzsuche herabgesetzt werden und Abschlüsse leichter anerkannt werden.

Eine gesteuerte Öffnung des Arbeitsmarkts

Wen würde ein neues Einwanderungsgesetz überhaupt betreffen?

Für EU-Bürger würde sich nichts ändern. Sie genießen durch EU-Recht Freizügigkeit. Betreffen würde eine Änderung alle Zuwanderer aus Drittstaaten. Davon gelangen aber nur wenige zu Erwerbszwecken, also als Arbeitnehmer oder Arbeitssuchende, nach Deutschland. Die meisten dieser Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie dort keine Perspektiven mehr sehen. Die gesteuerte Öffnung des Arbeitszugangs könnte vielen dieser Menschen neue Perspektiven öffnen.

Diese Nationen wollen nach Deutschland
Die Krise in Südeuropa und die EU-Osterweiterung haben Deutschland die stärkste Zuwanderung seit 1995 gebracht. Rund 1,08 Millionen Menschen zogen im vergangenen Jahr zu und damit so viele wie zuletzt vor 17 Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr betrug das Plus noch einmal 13 Prozent, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Etwa 966.000 Zuwanderer waren den vorläufigen Ergebnissen zufolge Ausländer (plus 15 Prozent). Die Zahl der Zuzüge von Spätaussiedlern und deutschen Rückkehrern aus dem Ausland blieb mit rund 115.000 nahezu konstant. Quelle: dpa
Einen großen Zuwachs verbuchten die deutschen Einwohnermeldeämter aus Italien: 2012 kehrten 40 Prozent mehr Italiener ihrer Heimat den Rücken um nach Deutschland zu kommen, als noch 2011. Die Zuwanderungszahlen sagen allerdings nichts darüber aus, wie lange die Menschen bleiben. So kehrten im vergangenen Jahr auch rund 712.000 Menschen Deutschland den Rücken, das waren fünf Prozent mehr als im Vorjahr. 579.000 von ihnen hatten keinen deutschen Pass. Aus den Zu- und Fortzügen ergibt sich für das Jahr 2012 ein Einwohnergewinn von 369.000 Menschen, dies ist der höchste Wert seit 1995. Quelle: dpa
Auch aus den krisengebeutelten Ländern Portugal und Griechenland kommen immer mehr Menschen ins vergleichsweise wohlsituierte Deutschland. Aus beiden Ländern sind die Einwandererzahlen im vergangenen Jahr um 43 Prozent gestiegen. Quelle: dpa
Auch die Zahl der Spanier, die nach Deutschland auswanderten, ist 2012 um 45 Prozent angestiegen. Somit gab es im vergangenen Jahr besonders starke Zuwächse aus den südeuropäischen EU-Krisenstaaten. Drei Viertel der Ausländer, die nach Deutschland kamen, zog es in fünf Bundesländer: Das Gros ging nach Bayern (192.000), gefolgt von Nordrhein-Westfalen (186.000), Baden-Württemberg (171.000), Hessen (90.000) und Niedersachsen (89.000). Quelle: dpa
Aus den osteuropäischen Ländern, die erst seit 2004 oder 2007 zur EU gehören, kamen ebenfalls mehr Menschen nach Deutschland als im Vorjahr. Besonders stark war der prozentuale Zuwachs aus Slowenien (62 Prozent). Quelle: dapd
Allerdings kamen die meisten Zuwanderer weder aus Slowenien noch aus Südeuropa. Mit 59.000 Einwanderern stellte Bulgarien die drittgrößte Gruppe. Quelle: dpa
Seit dem 1. Januar 2007 ist Rumänien ein Mitglied der EU. Die Einwohner des Landes nutzen die europaweite Freizügigkeit: 2012 kamen 116.000 Rumänen nach Deutschland. Damit machen sie die zweitgrößte Einwanderungsgruppe aus. Quelle: dpa

Das müssen Sie bitte erklären.

Weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, kommen viele dieser Menschen über den Familiennachzug oder auch als Asylbewerber und Flüchtlinge. Wir sehen das gegenwärtig bei den Zuwanderungsströmen aus dem südlichen Balkan, etwa aus dem Kosovo oder Albanien. Asylbewerber und Flüchtlinge sind aber schwer zu integrieren: Sie müssen untergebracht und versorgt werden, viele Kommunen sind damit überlastet. Diesen Druck müssen wir abbauen, in dem wir für einen Teil dieser Menschen den Arbeitsmarktzugang öffnen. Das würde die Proteste in der Bevölkerung verringern und die Politik entlasten.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass das jetzige System nicht funktioniert?

Ja. Das zeigt sich doch schon daran, dass nur zehn Prozent der Zuwanderer aus Drittstaaten die bestehenden gesetzlichen Regelungen nutzen, die es ihnen ermöglichen, hier zu arbeiten. Und nur ein Prozent aller Einwanderer aus Drittstaaten erhält die Blaue Karte für Hochqualifizierte. Das liegt daran, dass die Schwellen für den Arbeitsmarktzugang zu hoch sind. Mit fatalen Folgen für den Arbeitsmarkt: Wer nicht zu Erwerbszwecken einreist, ist häufiger arbeitslos und verdient weniger.

Ausländer in Deutschland

Über eine zu geringe Zuwanderung kann sich Deutschland momentan nicht beschweren. 2013 kamen 1,23 Millionen Einwanderer nach Deutschland – so viele wie seit 1993 nicht mehr.

Gegenwärtig ist das eine günstige Situation, ja. Wir rechnen 2014 mit einer Nettozuwanderung von einer halben Million Menschen. Langfristig braucht Deutschland eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen, um den demografisch bedingten Rückgang des Arbeitsangebots zu kompensieren. Gegenwärtig gelingt das ganz gut. Aber bedenken Sie: zwei Drittel der Zuwanderer kommt aus EU-Ländern. Viele suchen sich wegen der Krise in Deutschland Arbeit. Mittelfristig, wenn sich die Länder von der Finanz- und Wirtschaftskrise erholen, wird diese Zuwanderung stark zurückgehen.

Welche Folgen wird das haben?

Bereits gegen Ende des Jahrzehnts könnte der Anteil der Zuwanderer aus EU-Ländern in Deutschland auf den historischen Durchschnittswert von 30 bis 40 Prozent sinken.

Die Union ist in der Debatte um das Einwanderungsgesetz tief gespalten. Ein Einwanderungsgesetz scheint es so schnell nicht zu geben. Eine vertane Chance?

Wir neigen dazu, Probleme zu vertagen. Dabei müssen wir jetzt die Weichen stellen, wie die Zuwanderung in zehn bis 20 Jahren gestaltet werden soll. Wenn die Politik nichts ändert, werden wir künftig große Integrationsprobleme haben. Deshalb ist es wichtig, diese Debatte heute auch politisch zu führen und einen Konsens zu erreichen, der für die nächsten Jahrzehnte trägt.

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