Fachkräftemangel Warten, bis der Arzt kommt: Warum mehr Medizinstudienplätze nicht reichen

In einem gut gefüllten Anatomie-Hörsaal der Medizinischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verfolgen Medizin- und Zahnmedizinstudenten des ersten Studienjahres die Vorlesung zu Gelenken und Muskeln. Quelle: dpa

Dass Studienplätze in der Medizin knapp und umkämpft sind, ist nicht neu. Angesichts des Fachkräftemangels fordert Karl Lauterbach einen Ausbau. Doch ob das die Lösung ist, darüber sind sich Kliniken, Universitäten und Ärzteverbände uneins.

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In der Medizin geht es um Leben und Tod, der Fachkräftemangel im System ist deshalb mehr als ein lästiges Problem, das die Politik aussitzen kann. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) wirft Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Dieser hatte am Wochenende mehr Medizinstudienplätze gefordert, doch fragt man Kliniken, Ärzte und Hochschulen, ist zumindest fraglich, ob das wirklich die Lösung ist.

„Von der politischen Entscheidung, eine neue medizinische Fakultät aufzubauen, dauert es mindestens drei bis vier Jahre, bis die ersten Studierenden ihre Ausbildung aufnehmen“, sagt Frank Wissing vom Medizinischen Fakultätentag. Rechnet man die übliche Studienzeit von sechs Jahren hinzu, dauert es also rund zehn Jahre, bis die ersten neuen Ärztinnen und Ärzte auch nur ihre Assistenzarztzeit beginnen. Eine lange Zeit für ein so drängendes Problem.

Das hinderte den Bundesminister am Wochenende nicht daran, das Fachkräfteproblem moralisch aufzuladen. „Wir ziehen seit Jahren Tausende Ärzte aus ärmeren Ländern ab, weil wir zu wenige Medizinstudienplätze haben“, schrieb er in einem Post auf der Plattform X (ehemals Twitter). Für ihn ist das ein Problem: Das sei nämlich „unethisch“. Deutschland werbe Fachkräfte aus dem Ausland ab, weil es selbst nicht genügend Studienplätze finanzieren wolle, „weil uns das Medizinstudium zu teuer ist lassen wir es Ärmere bezahlen“.

Lauterbach verwies auf einen Medienbericht, wonach sich die Zahl der ausländischen Ärztinnen und Ärzte verdoppelt hat und Ende vergangenen Jahres bei 63.763 lag. Zehn Jahre zuvor seien es rund 30.000 gewesen, 1993 noch etwa 10.000, berichteten die Zeitungen der Funke Mediengruppe unter Berufung auf die Ärztestatistik der Bundesärztekammer. Die meisten Ärzte ohne deutschen Pass kommen aus EU-Ländern oder anderen europäischen Staaten sowie aus Ländern des Nahen Ostens. Die häufigsten Herkunftsländer sind Syrien (6120), Rumänien (4668), Österreich (2993), Griechenland (2943), Russland (2941) und die Türkei (2628).

Bei den Ärztevertretern des Marburger Bundes rennt er damit offene Türen ein: Seit fast 15 Jahren fordert der Verband eine deutliche Erhöhung der Zahl der Medizinstudienplätze. „Wir brauchen mindestens 10 Prozent mehr Medizinstudienplätze, um die Kapazitäten dem steigenden Bedarf anzupassen“, heißt es. Den Bedarf begründet der Marburger Bund zum einen mit der Pensionierungswelle der geburtenstarken Jahrgänge, zum anderen mit der steigenden Zahl von Teilzeitverträgen.

Die Kliniken sind ungeduldig

So lange will man in den Krankenhäusern nicht warten. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG, hält die Forderung nach mehr Studienplätzen für zu kurz gegriffen. Ursache des Fachkräftemangels seien nicht in erster Linie fehlende Kapazitäten an den Hochschulen. Vielmehr müsse die Arbeitszeit des vorhandenen Personals von unnötiger Bürokratie befreit werden, die durchschnittlich drei bis vier Stunden pro Tag in Anspruch nehme.

„Die Reduktion dieser „Bürokratiezeit“ auf die Hälfte des bisherigen würde dazu führen, dass uns rechnerisch zusätzlich die Arbeitszeit von 30.000 ärztlichen Vollkraftstellen für die Versorgung der Patientinnen und Patienten zur Verfügung stünde“, ist sich der Krankenhausvertreter sicher. Das sei nicht nur kostengünstiger als zusätzliche Studienplätze, sondern auch deutlich schneller zu realisieren.

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Zum Vergleich: Wissing vom Medizinischen Fakultätentag schätzt die Kosten für ein sechsjähriges Studium auf 211.000 bis 230.000 Euro. „Die Kosten für einen Studienplatz variieren je nach Standort, genau kann man das nicht sagen“. Die Höhe ergebe sich aus dem Bedarf an viel praktischem Unterricht in kleinen Gruppen am Patienten, zum Teil auch mit Schauspielpatienten, der notwendigen Ausstattung für Praktika und bestimmten Geräten, die für den Lehrbetrieb benötigt werden.

Das Bundesgesundheitsministerium rechnet bei der laufenden Reform der Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO) nach eigenen Angaben mit dem unteren Ende der Spanne, also mit 211.000 Euro. Geld, so die Argumentation der DKG, das zumindest teilweise durch eine Entlastung des vorhandenen Personals eingespart werden könnte.

Die Kliniken sehen darüber hinaus eine weitere Stellschraube, die aus Sicht des Verbandes bislang ungenutzt geblieben ist. Die stärkere Einbeziehung nichtärztlicher Berufe in die Patientenversorgung. Hier sei zwar eine Initiative angekündigt worden, so Gaß: „Ob daraus aber in dieser Legislaturperiode noch etwas wird, ist äußerst fraglich.“

Wie groß ist der Mangel wirklich?

An den Hochschulen fragt man sich aber auch, ob der Mangel an ärztlichem Personal und auch an Studienplätzen nicht unterkomplex betrachtet wird. Einschließlich der Zuwanderung kämen bereits heute jährlich rund 14.000 neue Fachärztinnen und Fachärzte ins System, so Wissing. „Es stellt sich daher die Frage, ob es nicht auch darum geht, mit der Ressource Arzt effektiver umzugehen. Hier muss die Frage gestellt werden, wo genau der Mangel – inhaltlich oder regional - besteht.“ Der Verdacht liegt nahe, bei den Hausärzten sind die Präferenzen für städtischere Praxissitze bekannt, warum sollte das bei den Klinikärzten grundsätzlich anders sein.

Bei den Studienplätzen ist aus Sicht der Medizinischen Fakultäten nicht klar, welche Art Aufbau der Bund anstrebt: Innerhalb der letzten zehn Jahre habe es bereits einen Aufwuchs an Studienplätzen in der Medizin von um die 10.000 auf etwa 12.000 Studienanfänger gegeben, inklusive privater Hochschulen seien es sogar eher 15.000. „Wenn Herr Lauterbach davon spricht, 5000 zusätzliche Studienplätze zu schaffen ist bisher noch unklar, von welchem Stand er ausgeht und bis wann das erreicht sein soll“, sagt Wissing.

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Das Bundesministerium macht jedoch deutlich, dass der Status quo nicht dauerhaft tragfähig ist. Im Sinne der Versorgungssicherheit könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwerbung begehrter Fachkräfte aus dem Ausland auch in Zukunft gelingen werde. Mögliche Versorgungsengpässe könnten sowohl medizinische als auch gesellschaftliche Folgekosten nach sich ziehen. Daher sei „eine Sicherstellung der Versorgung mit den inländischen Ausbildungskapazitäten als Teil der gesundheitlichen Daseinsfürsorge von hoher Bedeutung“.

Im Grundsatz sind die Kliniken hier mit der Politik einer Meinung, eine dauerhafte Anwerbung von Ärztinnen und Ärzten aus dem Ausland sei jedenfalls nicht in ihrem Sinne. „Für den Anwerbungs- und Eingliederungsprozess fallen den Krankenhäusern teils hohe Kosten an“, sagt der DKG-Chef. Die eingesetzten Agenturen ließen sich ihre Dienste entsprechend vergüten, hinzu kämen Sprachkurse, Bürokratiekosten und unter Umständen zusätzliche Ausgaben wie Hilfe bei der Wohnungssuche.

Kurzfristig hat das System aber keine andere Wahl: Der Marburger Bund weist darauf hin, dass die ambulante und stationäre Versorgung in Deutschland ohne Fachkräfte aus dem Ausland schon jetzt gefährdet wäre. Bei Kolleginnen und Kollegen aus der EU kann der Verband Lauterbachs ethische Argumentation nicht nachvollziehen: „Hier gilt das Prinzip der Freizügigkeit und der gegenseitigen Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse.“

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Drittstaaten – vor allem solche mit einer schlechteren Versorgung als hierzulande – halten die Ärztevertreter dagegen für problematisch: „Wir müssen als reiches Industrieland schon selbst in der Lage sein, genug Ärztinnen und Ärzte auszubilden, ohne dass Lücken in der Versorgung anderer Länder entstehen.“

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